MRP-2-0-01-2-18710901-P-0052.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 1. 9. 1871

I. Maßregeln gegen die Internationale

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_I2/pdf/oe_hu_mrp_I2_z52.pdf.

Nr. 52 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 1. 9. 1871                       347

auf die mehrfache Gelegenheit der Unterbringung, worüber die Erklärung der
Offiziere bis Mitte August d. J. gewärtigt wird, auftnerksam machte, geruhte
Seine Majestät der Kaiser an Oberstleutnant Horst noch einige
Fragen über den Fortgang der Arbeiten, über die Ergänzungsbezirkseinteilung in
den zu provinzialisierenden Grenzgebieten zu stellen und hierauf die Sitzung zu
schließen.

                                                                                                  Beust

[Ah. E.] Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen.
Gödöllö, 21. September 1871. Franz Joseph.

       Nr. 52 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 1. September 1871

    ([RS. fehlt] RK.)
    Gegenwärtige: der Sektionschef im Ministerium des Innern Freiherr v. Wehli, der Hofrat im
Ministerium v. Teschenberg, der Hofrat in der Präsidialsektion des Ministeriums des Äußern v.
Wohlfarth, der Ministerialrat im Justizministerium Gross, der Sektionsrat im Ministerium des Äu¬
ßern Graf Revertera, der Sektionsrat im k. k. Handelsministerium Migerka, der Ministerialsekretär
im Ministerium des Innern Hoffinger.
    Protokollführer: Sektionsrat Freiherr v. Konradsheim.
    Gegenstand: Maßregeln gegen die Internationale.

   [KZ.]-RMRZ. 118'
   Protokoll über die Konferenz vom 1. September 1871 unter dem Vorsitze des
Reichskanzlers Grafen Beust.

   Reichskanzler Graf Beust eröffiiete die Sitzung mit einem
Rückblick auf die letzten Pariser Ereignisse unter der Herrschaft der Kommune,
wobei die Internationale ihre bekannte revolutionäre Tätigkeit entfaltete, die not¬
wendigerweise die Aufinerksamkeit der Regierungen auf den Bestand der Dinge
der von dieser Seite drohenden Gefahr und die Mittel zu deren Bekämpfung len¬
ken mußte. In dieser Beziehung seien an das Ministerium des Äußeren von bei¬
nahe allen Regierungen Europas Anregungen gelangt: Zuerst das bekannte Zirku¬
lare Jules Favres2, dannAnffagen von Seite Italiens, Rußlands, Englands, Belgiens

        Eine Kopie des Protokolls findet sich MOL. K-26. 1066/1871. Der Text wurde aufgrund
        dieser Abschrift korrigiert. Die Weise, wie die Präsidialsektion des Außenministeriums das
        Protokoll zur Einsicht an den ungarischen Ministerpräsidenten sendet, zeigt den spezifischen
        Charakter der Beratung; es ist unsicher, ob man sie trotz der Registrierungsnummer des ge¬
        meinsamen Ministerrates wirklichfür einen gemeinsamen Ministerrat gehalten hat. Über die
        Umstände der Einberufung zum Ministerrat, darüber, daß er keineswegs als gemeinsamer
        Ministerrat gedacht war, siehe Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 488-489.
2 Jules Favre, siehe GMR. v. 17. 1. 1871, RMRZ. 100. Anm. 5.
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und der Schweiz. Aber dies seien eben nur Anfragen über unserjetziges Verhalten
und paritive Eröffnungen von der anderen Seite gewesen, und einzig Preußen
habe präzis den Austausch von die Internationale betreffenden Wahrnehmungen
beantragt, ein Verlangen, welchem von unserer Seite aus bereitwillig entsprochen
wurde.3 In Gastein sei nun unlängst die Sache wieder zur Sprache gebracht4 und
die Frage angeregt worden, ob gemeinsame Verfügungen der beiden Regierun¬
gen, welche den Beitritt anderer Regierungen zu den beschlossenen Maßregeln
nicht ausschließen, nicht möglich und zweckmäßig sein würden.

   Hierüber habe auch in den Zeitungen etwas transpiriert, als ob von polizeili¬
chen Verfolgungen die Rede gewesen, doch sei diese Nachricht grundfalsch. We¬
der Fürst Bismarck noch ihm sei so etwas beigefallen, denn man habe sich nicht
verhehlen können, daß Maßregeln, wie sie durch die Beschlüsse des Karlsbader
Kongresses hervorgerufen wurden,5 heute nicht mehr am Platze wären. Die Car-
bonari und die Burschenschaften von damals hätten ihr Wesen geheim betrieben,
während die Stärke der heutigen revolutionären Parteien in der Dreistigkeit ihrer
öffentlichen Provokationen liege. Es sei also nötig, denselben mit offenem Visier
entgegenzutreten. In den letzteren Gesichtskreis falle daher der von preußischer
Seite angeregte Gedanke der Aufnahme von Bestimmungen in die Strafgesetzbü¬
cher gegen Manifestationen, präparatorische Reden und Glorifizierungen, wie sie
neulich in der Dresdener Versammlung zutage traten.6

   Vortragender halte den Gedanken, der Internationale mit gleichen Mitteln,
z. B. ebenfalls durch Assoziation, entgegenzutreten, für annehmbar, und zwar
nicht nur für die Regierungen, sondern auch für die besitzende Klasse der bürger¬
lichen Gesellschaft.

   In dieser Erkenntnis sei er mit dem preußischen Anfrage auf Zusammenset¬
zung einer Kommission aus Vertretern beider Staaten zur gemeinsamen Bestim¬
mung über die zu ergreifenden Maßregeln einverstanden gewesen, habe aber
gleichzeitig den Antrag dahin erweitert, daß diese Kommission neben der regres-

        Promemoria von Bismarck v. 17. 6. 1871 an Beust. Das Promemoria läßt Beust dem cislei-
        thanischen Ministerpräsidenten und dieser dem ungarischen Ministerpräsidenten zukommen
        19. 7. 1871. MOL. Sektion K-26. 1066/1871.
        Im Juli-August verbringt Bismarck drei Wochen in Gastein und verhandelt mehrmals mit
        Beust. Vgl. Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 475-488.
        Die Karlsbader Beschlüsse wurden 1819 als Reaktion aufdie Burschenschaftsbewegung und
        aus Anlaß der ErmordungA. von Kotzebues im Deutschen Bundgefaßt. Metternich bat Preu¬
       ßen und einige ,,zuverlässige&quot; Staaten nach Karlsbad zu einer Konferenz (6.-31. 8. 1819),
        die eine verschärfte Überwachung der Universitäten, die Zensur von Büchern und Zeitschrif¬
        ten und die Einsetzung einer Zentraluntersuchungskommission zur Verfolgung ,, demagogi¬
        scher Umtriebe&quot; beschloß. Die Beschlüsse wurden erst 1848 nach der Märzrevolution auf¬
        gehoben.
        Ende August hält in Dresden die sozialdemokratische Arbeiterpartei ihren dritten Kongreß
        ab. Vgl. Präsidialsektion des Ministeriums des Äußern, Hofmann anAndrässy v. 26. 8. 1871.
        MOL. Sektion K-26. 1066/1871.
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siven Ahndung sich auch über die Arbeiterfrage besprechen möge, wodurch der
Vorgang der Regierungen in der Öffentlichkeit den Schein des Gehässigen verlie¬
ren werde. Da nun bei der bevorstehenden Salzburger Zusammenkunft diese
Angelegenheit weiter besprochen werden solle,7 so habe Fürst Bismarck die
vorläufige Ausarbeitung eines Programmes für die beabsichtigte Kommissions-
verhandlung gewünscht, und es sei daher der heutige Zusammentritt in der Ab¬
sicht veranlaßt worden, damit man sich über die zu verfolgenden Zwecke und die
Mittel zu deren Erreichung klar werde.

   Sektionschef Freiherr v. Wehli macht die Mitteilung, daß
über Auftrag des Grafen Hohenwart über diesen Gegenstand bereits Besprechun¬
gen zwischen den Vertretern der Ministerien des Innern, der Justiz und des Han¬
dels stattgefimden hätten. Im Prinzip habe die angeregte Idee Beifall gefunden,
und man habe erkannt, daß die gleichmäßige Haltung der Regierungen die Arbei¬
ter wohl einschüchtem werde. Da jedoch die Angelegenheit noch nicht in dem
Stadium meritorischer Verfügungen sich befinde, so habe sich das Komitee auf
die Ausarbeitung eines Memorandums über die vom Reichskanzler angedeuteten
zwei Punkte beschränkt.

   Das hierauf zur Vorlesung gebrachte Memorandum anerkennt, daß mehr oder
weniger in allen Kulturstaaten die wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Ver¬
mehrung der Verkehrsmittel sich homogener gestalten, die daraus erwachsende
Arbeiterbewegung daher mit geringen Unterschieden überall dieselbe Natur habe,
also auch dieselbe Behandlung erheische; es gelangtjedoch zu dem Schlüsse, daß
gegen diese aus inneren Ursachen hervorgegangene, ursprüngliche und nicht
künstlich gemachte Bewegung Repressionen nicht ausreichen, wenn sie nicht be¬
gleitet sind von einer die wirklichen Bedürfnisse und berechtigten Begehren der
arbeitenden Klasse fördernden Tätigkeit des Staates und der Gesellschaft.

   Es wird darin ferner ausgeführt, wie offene Repressionen gegen die Internatio¬
nale nur da Platz greifen können, wo wie z. B. in London, Hamburg und Leipzig
ihre Organe offen bestehen. An dem Bestände von Verbindungen mit der Interna¬
tionale sei hierlands auch nicht zu zweifeln, doch fehle es an Beweisen, man
könne sich also bei uns nur auf die Unterstützung der Regierungen, in deren Be¬
reich die Internationale offen besteht, durch Mitteilung von Wahrnehmungen und
strenge Handhabung unserer Gesetze beschränken.

   Diese sind der § 285 usw. des Strafgesetzes über geheime Gesellschaften und
die Bestimmungen in den §§ 302,305 etc. zum Schutze der Grundlagen des Staa¬
tes, ferner die Polizeiverordnungen gegen fremde Agitatoren.8 Eine Restringie-

Kaiser Franz Joseph bescheidet außer dem Reichskanzler Reust auch die beiden Minister¬
präsidenten Andrässy und Hohenwart nach Salzburg zur neuen Zusammenkunft mit dem
deutschen Kaiser 6-8. September 1871: Zusammenkunft des Kaisers mit dem deutschen Kai¬
ser und Beusts mit Bismarck in Salzburg.
Kaiserliches Patent v. 27. 5. 1852. RGBl. 117. § 285: Alle Vereinigungen zu geheimen Ge¬
sellschaften, in welcher Absicht sie errichtet sein und unter welcher Benennung oder Gestalt
sie bestanden haben oder bestehen mögen, sind verboten. Die Teilnahme an einer geheimen
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rung des Gesetzes über Vereins- und Versammlungsrecht gegen die Arbeiter al¬
lein wird als unstatthaft und nur durch einen allgemeingültigen Akt der
Gesetzgebung möglich bezeichnet.

   Anbelangend die Maßregeln zur positiven Förderung der Arbeiterinteressen
spricht sich das Memorandum a) auf das Entschiedenste gegen die Einführung
des allgemeinen, unumschränkten, direkten Wahlrechtes sowie gegen wie immer
geartete Staatshilfe aus und b) bezeichnet als Grundbedingung für die gesunde
soziale Entwicklung die Hebung der Bildung des Arbeiterstandes und Beschaf¬
fung entsprechender Wohnungen für denselben, ln diesem Anbetrachte wird die
Unterstützung von Bildungsvereinen und Arbeiterbildungsanstalten, die Auf¬
munterung größerer Etablissements zur Herstellung von Arbeiterwohnungen und
die Beförderung von Spar-, Vorschuß- und Konsumvereinen sowie von Alter[s]-
versorgungskassen befürwortet. Zugleich wird den Regierungen die Unterstüt¬
zung eines sozialwissenschaftlichen Organes empfohlen, um auch im Wege der
Presse der über sozialökonomische Fragen meist unklar schwebenden Bevölke¬
rung eine gesunde Theorie mit praktischen Belegen mundgerecht zu machen. Die
Einflußnahme der Regierung auf Arbeitszeit und Lohn (mit Ausnahme der Ar¬
beitszeit für Frauen und Kinder) hält das Memorandum für untunlich und höch¬
stens die Gewährung ausgedehnter Koalitionsfreiheit für statthaft.

   An die Vorlesung dieses Memorandums knüpfte sich eine längere Diskussion
und eingehende Kritik.

   Ministerialrat Gross definierte die in den durch das Vereinsgesetz
keineswegs annullierten §§ 285-299 des Strafgesetzes vorgesehenen geheimen
Gesellschaften. Als solche werde jede Gesellschaft betrachtet, deren Zustand
oder Statuten geheimgehalten werden. Der Bestand der Internationale werde nun
zwar nicht geheimgehalten, wohl aber ihre Statuten. Angenommen also, daß sich

        Gesellschaft macht eines Vergehens schuldig; § 302: Wer andere zu Feindseligkeiten wider
        die verschiedenen Nationalitäten (Volksstämme), Religions- oder andere Gesellschaften, ein¬
        zelne Klassen oder Stände der bürgerlichen Gesellschaft oder wider gesetzlich anerkannte
        Körperschaften, oder überhaupt die Einwohner des Staates zu feindseligen Parteiungen ge¬
        gen einander auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, ist, in so ferne sich diese Tätigkeit
        nicht als eine schwerer verpönte strafbare Handlung darstellt, eines Vergehens schuldig, und
        soll zu strengem Arreste von drei bis zu sechs Monaten verurteilt werden; § 305: Wer auf die
        im § 303 bezeichnete Weise die Einrichtungen der Ehre, der Familie, oder die Rechtsbegriffe
        über das Eigentum herabwürdiget, oder zu erschüttern versucht, oder zu unsittlichen oder
        durch Gesetze verbotenen Handlungen auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, oder die¬
        selben anpreiset, oder zu rechtfertigen versucht, ist, insofeme sich darin nicht eine schwerer
        verpönte strafbare Handlung darstellt, eines Vergehens schuldig, und mit Arrest von einem
        bis zu sechs Monaten zu bestrafen. Wenn jedoch eines der in den §§ 300 und 302-305 be-
        zeichneten Vergehen durch Druckschriften begangen wird, so kann, nach Maß ihrer Gefähr¬
        lichkeit und beabsichtigten größeren Verbreitung, die Strafe auf strengen Arrest bis zu einem
        Jahre ausgedehnt werden, und es können in diesem Falle die Schuldigen auch aus dem Orte
        oder dem Kronlande, und wenn sie Ausländer sind, aus sämmtlichen Kronländem des Kai¬
        sertums abgeschafft werden.
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nun auch in einem gegebenen Falle die strafwürdigen Zwecke der Internationale
noch nicht nachweisen und die Teilnahme an derselben aus dem Titel des beab¬
sichtigten Zweckes bestrafen ließe, so genüge schon die Geheimhaltung der Sta¬
tuten zur Bestrafung der Teilnahme. Der § 128 des norddeutschen Strafgesetzes
enthalte ähnliche Bestimmungen, und so sei eine Vereinigung in diesem Punkte
mit der preußischen Regierung leicht möglich.

   Hierbei lasse sich allerdings nicht verkennen, daß unsere dermaligen Strafbe¬
stimmungen vor der Hand genügen und daß es schwer sei, die einfache Teilnah¬
me an einer geheimen Gesellschaft schwerer zu bestrafen als mit dem dermaligen
Strafsatz, aber es sei immerhin möglich, bei der Legislative eine Verschärfung
durchzusetzen. Nur müsse jene Regierung, auf deren Gebiet die Internationale
faktisch und äußerlich legal besteht, vorangehen, die diesseitige werde dann
nachfolgen.

   Der Justizminister erkenne die von der Internationale drohende Gefahr an und
sei bereit, den internationalen Weg zur Verständigung über verschärfte strafrecht¬
liche Bestimmungen und zur Stärkung der Position des Richters zu betreten.
Auch jetzt schon können die Staatsanwaltschaften entsprechend instruiert wer¬
den.

   Sektionschef Freiherr v. Wehli machte darauf aufinerksam,
daß die Pariser Nationalversammlung ein eigenes Gesetz gegen die Internationa¬
le gebracht, jedoch die bloße Teilnahme auch nur mit einem zweijährigen Straf¬
satz belegt habe.

   Reichskanzler Graf Beust bemerkte, daß ihm die vom Vertreter
des Justizministeriums angedeutete Geneigtheit zum Eingehen in eine internatio¬
nale Kommissionsverhandlung und zur Vereinigung der Kräfte gegen die Hand¬
lungen der Internationale im Memorandum nicht gehörig zum Ausdruck gebracht
zu sein scheine und daß es sich empfehle, dieselbe schärfer zu prononcieren,
worauf Ministerialrat Gross konstatierte, daß der Justizminister der
Verständigung nicht entgegen, aber der Meinung sei, daß die Initiative zu konkre¬
ten Vorschlägen nicht von uns, sondern von Preußen auszugehen habe.

   Sektionsrat Migerka präzisierte sofort den Standpunkt des Han¬
delsministers. Dr. Schäffle glaube, daß unsere dermaligen Repressivbestimmun¬
gen ausreichen und daß allzu weitgehende Strafbestimmungen die Gefahr nicht
zu bannen vermögen, indem die Arbeiterfrage zu kompliziert sei, als daß damit
allein geholfen werden könne. Der Handelsminister sei mehr für Maßregeln prä¬
ventiver Natur, glaube aber, daß auch in dieser Beziehung die Anträge Preußens
abzuwarten wären, denn dort sei die Arbeiterfrage entwickelter als bei uns.

   Reichskanzler Graf Beust stimmte dieser Meinung in dem Sat¬
ze bei, daß die Arbeiterfrage in Preußen bereits eine größere Gefährlichkeit er¬
langt habe als bei uns, aber es sei fraglich, ob sie deshalb bei uns weniger wichtig
sei. Vielmehr scheine geboten, bei uns rechtzeitig Vorbereitungen zu treffen, daß
wir nicht in dieselben Verhältnisse geraten. Wenn wir schon Preußen in der Frage
der Repressivmaßregeln die Initiative einräumen, so wäre es doch wünschens-
<pb/>352 Nr. 52 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 1. 9. 1871

wert und könne unsere Stellung nach allen Seiten nur vorteilhaft illustrieren,
wenn wir der Kommission wenigstens in der Frage der Präventivmaßregeln mit
fertigen Anträgen entgegenkommen.

   Hofrat Ritter v. Wohlfarth besprach hierauf den Zusammen¬
hang der Internationale mit den Arbeitern. Diese Verbindung sei nur eine zufälli¬
ge, und es bediene sich die Internationale der Arbeiter bloß als Mittel, während
sie selbst, deren sozialistische Lehren älter seien als die Arbeiterfrage, eine sozi¬
ale Umwälzung bezwecke. Bei den Arbeitern, die gegenüber dem Kapital jetzt
die kürzeren ziehen, handle es sich um einen Kampfum das Dasein; es frage sich
also, was zu tun sei, um sie den Händen der Sozialisten zu entreißen. Neben den
Repressivmaßregeln, denen er keineswegs aus dem Wege gehen wolle, erblicke
er ein radikales Mittel dazu in der Beteiligung derselben am Untemehmungspro-
fit, und in diesem Punkte solle der Staat für sie eintreten.

   Reichskanzler Graf Beust griff diesen Gedanken auf, indem er
ausführte, wie schwer die Beteiligung der Arbeiter am Profit sei, nachdem sie ein
denselben bedingendes Risiko nicht vertragen können. Es sei dies ein noch unge¬
löstes Problem, mit dem man sich vielfach beschäftigt habe. Eher lasse sich in der
Festsetzung der Arbeitszeit mit abgesonderter Entlohnung für das Plus der zuge¬
brachten Arbeitszeit und in der Verhinderung der Entlassung der Arbeiter ein Mit¬
tel der Hilfe finden, obwohl nicht zu leugnen sei, daß durch solche Maßregeln die
Industrie geschädigt werde.

   Sektionschef Freiherr v. Wehli konstatierte, daß die Betei¬
ligung der Arbeiter am Untemehmungsprofit von der Wissenschaft schon viel¬
fach erörtert, aber nicht gelöst wurde. Die Regierung könne wohl fördernd, aber
nicht gesetzlich eingreifen.

   Hofrat Ritter v. Wohlfarth hielt es gleichwohl für möglich,
daß die Regierung die Konzessionserteilung für Unternehmungen an diesfallige
Bedingungen knüpfe.

   Ministerialrat v. Teschenberg sprach gegen das vorgelesene
Memorandum in dem Punkte, wo es sich gegen die Erweiterung des Wahlrechtes
zugunsten der Arbeiter sträubt. Wenn man, wie das Memorandum andeutet, die
Befriedigung der Arbeiter in Aussicht nehme, dürfe man die politische Seite der
Frage nicht unberücksichtigt lassen. Die Internationale habe ihr bestimmtes Pro¬
gramm, dessen einer Punkt die politische Emanzipation des vierten Standes bil¬
de. Eine Einigung auch hierüber wäre höchst wünschenswert, und man möge
daher diese Frage zur Verständigung umsomehr offen halten, als Fürst Bismarck
sich ein[?]stens den Ideen Lassalles9 nicht abhold zeigte und es nicht unmöglich
ist, daß in der Kommission die Diskussion von Preußen auch auf dieses Gebiet
gelenkt wird.

9 Lassalle, Ferdinand (1825-1864), sah bekanntlich in der Ausweitung des Parlamentswahl¬
        rechtes die Voraussetzung zur Schaffung der politischen Macht der Arbeiterklasse.
<pb/>Nr. 52 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 1. 9. 1871  353

   Ministerialsekretär Hoffinger erinnerte an die Begründung
des Verlangens der Arbeiter nach politischem Einfluß. Es sei den Führern um das
Wahlrecht der Arbeiter nicht im Interesse voller Gleichheit aller vor dem Gesetze
zu tun, sondern unverhohlen nur als Mittel, die arbeitende Klasse zur herrschen¬
den zu machen, also die ganze gesellschaftliche Ordnung umzustoßen.

   Reichskanzler Graf Beust bemerkte in bezug auf die im Me¬
morandum betonte Heranziehung der Presse im Interesse versöhnlichen und auf¬
klärenden Einwirkens auf die Arbeiter, es werde ein großes Blatt, welches die
Arbeiter gewiß nicht lesen werden, weniger zum Ziele führen als das Wirken
durch populäre Schriften.

   Ministerialsekretär Hoffinger betonte, wie ein größeres
Blatt allein im Stande sei, sich zu halten und sich die dem Zwecke seines Erschei¬
nens dienlichen Daten und Behelfe zu verschaffen. Bezüglich der früheren Be¬
merkungen über den Untemehmungsgewinn deutete er auf die im Memorandum
in Aussicht genommene ausgedehnteste Assoziation.

   Reichskanzler Graf Beust brachte die Diskussion wieder auf
die Benützung der Presse zurück mit der Bemerkung, daß selbst die unentgeltli¬
che Verteilung von Flugschriften in Erwägung zu ziehen sei.

   Sektionschef Freiherrv. Wehli betonte seinerseits das Mi߬
trauen der Bevölkerung gegen Flugschriften, hinter denen die Regierung vermu¬
tet wird, und empfahl für die Verteilung solcher Flugschriften die größte Vorsicht,
während Sektionsrat Graf Revertera aufden geringen Wert sol¬
cher unentgeltlicher Flugschriften bei der Bevölkerung hinwies und ein billiges
Entgelt, etwa nach Art der bekannten Fünfkreuzerbibliothek, für zweckmäßiger
hielt.

   Sektionsrat Migerka knüpfte hiernach an den Ausgangspunkt der
Diskussion mit dem Anfrage an, es möge sofort Preußen aufgefordert werden,
uns mitzuteilen, wie es gegenüber der Internationale in den strafgesetzlichen und
in praktischen Nutzungsfragen vorzugehen gedenke, damit die k. k. Regierung
ein Material gewinne, über welches sie sich zunächst unter sich einigen und
dann in der gemischten Kommission verhandeln könne. Diesem Anfrage trat
Reichskanzler Graf Beust mit der Bezweiflung der Annahme ei¬
nes solchen Vorganges seitens Preußens entgegen. Die Frage stehe einfach so, ob
die Regierungen eine gemeinsame Gefahr erkennen und sich gegenseitig helfen
wollen, dann, wie dies zu geschehen habe?

   Sektionschef Freiherr v. Wehli erörterte, wie das vorgelese¬
ne Memorandum auf all diese Fragen die entsprechende Antwort enthalte und als
Basis für die weitere Verhandlung in Gastein genüge, sobald darin unsere Ge¬
neigtheit zur internationalen Verständigung mit Preußen über die zu ergreifenden
Repressiv-, namentlich Justizmaßregeln schärfer betont und auch die irgendwie
mögliche Beteiligung der Arbeiter am Profit des Unternehmens als Mittel zur
Lösung der Arbeiterfrage signalisiert werde.
<pb/>354 Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871

   Reichskanzler Graf Beust stimmte dieser Ansicht bei und
enunzierte demgemäß das Ergebnis der heutigen Besprechung, indem er zugleich
die Bereitwilligkeit der ungarischen Regierung zur Teilnahme an den fraglichen
Kommissionsverhandlungen konstatierte,10 womit die Sitzung geschlossen
wurde.

                                                                                         Konradshein
[Ah. E. fehlt.]

        Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. Oktober 1871

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (18. 10.), der Reichsfinanzminister
Graf Lönyay (17. 10.), Sektionschef v. Hofinarm (o. D.), Sektionschef Freiherr v. Orczy (o. D.).
    Protokollführer: Hof- und Ministerialrat v. Teschenberg.
    Gegenstand: Rückwirkung der staatsrechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen
Königreiche und Länder auf Stellung und Aufgaben des gemeinsamen Ministeriums.

   KZ. 2815-RMRZ. 119
   Protokoll des zu Wien am 16. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Reichskanz¬
lers Grafen Beust.

   Reichskanzler Graf Beust eröffnet die Sitzung mit einer Skiz-
zierung der augenblicklichen Lage. Die Entwicklung der Ereignisse seit dem Ein¬
tritte des gegenwärtigen Ministeriums für die im Reichsrate vertretenen König¬
reiche und Länder sei zur Genüge bekannt. Dem Reichskanzler persönlich sei
schon durch die Art der Bildung des Ministeriums eine gewisse Passivität aufer¬
legt worden. Er habe es sich zur Pflicht gemacht, den Bestrebungen des Ministe¬
riums nicht hindernd entgegenzutreten, aber ebensowenig habe sich ihm eine
Handhabe zur Unterstützung dieser Bestrebungen dargeboten. Aus dieser Hal¬
tung der Passivität sei er auch nicht herausgetreten, als die innere Politik allmäh¬
lich gewisse Nachteile auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zu äußern be¬
gann, und er habe diese Reserve bis zum gegenwärtigen Augenblick nicht
verlassen.1

       Akten betreffend der Internationale im kgl. ung. Ministerpräsidium: MOL. Sektion K-26,
        1066/1871. Oer kgl. ung. Innenminister an kgl. ung. Ministerpräsidenten v. 27.10. 1871 über
       die Lage der ungarischen Arbeiterbewegung. Ebd.

        GrafKarl Hohenwart ernennt der Herrscher am 6. Februar 1871 zum Ministerpräsidenten.
       Beust war bei der Regierungsbildung zur Passivität verurteilt. Siehe Beust, Aus drei Viertel-
       Jahrhunderten Bd. 2 456-465; Przibram, Erinnerungen eines alten Österreichers Bd. 2 292
       ff.
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