Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)
EINLEITUNG 1. Die Selbstdefinition des gemeinsamen Ministerrates1 Am 21. Dezember 1867 sanktionierte der Herrscher die österreichischen Verfassungsgesetze, am 23. enthob er Freiherr Friedrich Ferdinand Beust seines Amtes als Ministerpräsident für die im Reichsrat vertretenen König¬ reiche und Länder, und am 24. Dezember ordnete er an, daß „die Ministe¬ rien des Äußern, des Krieges und der Finanzen als Reichsministerien in ver¬ fassungsmäßige Wirksamkeit treten".2 Gleichzeitig damit ernennt er den bisherigen österreichischen Finanzminister Franz Freiherr von Becke zum Reichsfinanzminister und fordert Reichskanzler Beust und Feldmar- schalleutnant Franz Freiherr von John auf, „die ihnen beiden bisher anver¬ trauten Ministerien als Reichsminister fortzuführen".3 Am 31. Dezember 1867 trat das Reichsministerium zu seiner ersten Sitzung zusammen. Daß damit tatsächlich eine neue Epoche in der Geschichte der Habsbur¬ germonarchie begonnen hat, wird aus den Ministerratsprotokollen kaum er¬ sichtlich. Der erste gemeinsame Ministerrat behandelt das Militärbudget des folgenden Jahres, und daß in der obersten Führung des Reiches etwas Neues begonnen hat, ist höchstens daran zu erkennen, daß man die Mini¬ sterratsprotokolle neu zu zählen beginnt.4 1 Zu dieser Frage gibt es eine reiche Literatur. Als erster schrieb darüber Miklös KomjAthy in seiner Studie Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges, danach Goldinger, Die Zentralverwaltung in Cisleithanien - Die zivile gemeinsame Verwaltung; Somogyi, A közös minisztertandcs müködese 1896-1907; Rumpler, Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmen¬ bedingungen für die Außenpolitik der Habsburgermonarchie 1848-1918; Diöszegi, Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates 1883-1895; Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906. 2 RGBl. Nr. 141/1867. § 5, bzw. GA. XII/1867. § 27. 3 HHStA., AR, F 4, Karton 399. Organisation der Präsidialsektion. Kab.Archiv, Geheim¬ akten Karton 40 Bill c/202/1867 v. 24. 12. 1867. 4 Der Wortgebrauch gemeinsames oder Reichsministerium war sehr unsicher. Die ge-- meinsamen Minister ernennt die Ah. Entschließung v. 24. 12. 1867 als Reichsminister, die erste gemeinsame Ministerberatung wird Sitzung des Reichsministeriums genannt. Das im Protokoll des GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8 erstmals zu lesende und auch in den späteren Jahren übliche Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten ist in Wahrheit eine etwas euphemistische Benennung. Damit konnte nämlich das Problem des gemein- || || XII Einleitung Der Wirkungskreis der neuen gemeinsamen Ministerien wird genau fest¬ gelegt, über den Ministerrat selbst kommt es aber zu keinerlei Beschluß. Die Praxis gestaltet die inhaltlichen Bezüge und Formen seiner Tätigkeit, aber überhaupt nicht seine formalen, äußerlichen Belange, z. B. wer zum gemeinsamen Ministerrat hinzugebeten wird. Und da die Tätigkeitsbe¬ dingungen häufig auch Gegenstand der Ministerratsdebatten selbst sind, haben diese frühen Ministerratsdebatten auch bestimmende Bedeutung für die Geschichte der Institution. a) Die Anwesenden Wie bekannt, war zu jener Zeit, also im Laufe der Jahrzehnte des Dualis¬ mus, auch umstritten, wer die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrats sei¬ en, und auch in der Historiographie sind die Standpunkte in dieser Frage geteilt.5 Ich habe mich anderenorts zu beweisen bemüht, daß die Rolle der Ministerpräsidenten der beiden Staaten im gemeinsamen Ministerrat be¬ stimmende Bedeutung für den Charakter des dualistischen Staates gehabt hat, teils in der Hinsicht, ob die Regierungen der beiden Staatsgebiete die Möglichkeit bekamen, die eigenen, eventuell von denen des Reiches ab¬ weichenden Interessen ihrer Länder im gemeinsamen Ministerrat zur Gel¬ tung zu bringen. Denn daß die Landesminister notwendigerweise zu Ver¬ teidigern gewisser partikularer Interessen würden, war von Anfang an selbstverständlich; dies haben die gemeinsamen Minister im Ministerrat auch bestätigt.6 Anderenteils hat die Teilnahme der Minister der beiden Staaten am gemeinsamen Ministerrat auch für die verfassungsmäßige Be¬ handlung der gemeinsamen Angelegenheiten große Bedeutung. Bekannter¬ maßen kam die parlamentarische Verantwortung der gemeinsamen Minister infolge der eingeschränkten Kompetenz der Delegation nur wenig zur Gel¬ tung. Die parlamentarische Kontrolle praktizierten auch in gemeinsamen Angelegenheiten der österreichische Reichsrat und der ungarische Reichs¬ samen oder Reichsministeriums umgangen werden. Den Ministerratsprotokollen wer¬ den aber auch weiterhin die Ministerratszahl (MRZ.) oder die Reichsministerratszahl (RMRZ.) gegeben. Der gemeinsame Außenminister Goluchowski hielt 1895 die Landesminister (also die Ministerpräsidenten beider Staaten) nicht für eigentliche Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates. Der Sektionschef im gemeinsamen Finanzministerium Lafos Thallöczy hielt es 1904fiir selbstverständlich, daß die Ministerpräsidenten beider Staaten Mitglie¬ der des gemeinsamen Ministerrates seien. In dieser Frage sind auch die Ansichten der modernen Dualismusforscher geteilt. Siehe Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906 110-125. Beust in der Sitzung des Ministerrates v. 10. 1. 1869, RMRZ. 12. || || Einleitung XIII tag, und zwar über die am gemeinsamen Ministerrat teilnehmenden Landes¬ minister. Ihre Teilnahme am gemeinsamen Ministerrat wurde zur einen, nicht gesetzlich niedergelegten, sondern in der Praxis entstandenen- kon¬ stitutionellen Kontrolle der Behandlung der gemeinsamen Angelegen¬ heiten:7 '. ' 1868 war natürlicherweise das Jahr der Unsicherheit, der Ausgestaltung der Verhältnisse. Unabhängig davon, wer am Ministerrat teilnahm, verse¬ hen bis Ende 1868 nur die drei gemeinsamen Minister auf dem Einsichts¬ bogen das Protokoll mit ihrer Signatur - sie also sind offizielle Mitglieder des Ministerrates.8 Im folgenden Jahr ändert sich dann die Lage, auch die Landesminister vidimieren die Protokolle, und auf der Liste der Anwesen¬ den stehen die Ministerpräsidenten beider Staaten vor den gemeinsamen Kriegs- und Finanzministem, während die Reihenfolge früher gerade um¬ gekehrt war.9 '. Bei sieben der 26 Ministerratssitzungen des Jahres 1868 sind nur die ge¬ meinsamen Minister zugegen. Ein Spezifikum der frühen Periode (später kommt solches nicht vor) ist, daß zu einer Reihe von Konferenzen nur die Minister des einen oder des anderen „Reichsteiles" eingeladen werden. Diese sind direkte Fortsetzungen des kaiserlichen Ministerrates vor 1867. Die Vertreter des einen oder anderen Reichsgebietes werden sozusagen zur Ministerkonferenz vorgeladen, wie dies auch vor dem Dezember 1867 ge¬ schah. So laden die gemeinsamen Minister vor der ersten Delegationssession den ungarischen Ministerpräsidenten Graf Gyula Andrässy ein, damit er der gemeinsamen Regierung in der neuen, damals noch einer ungewissen Zu¬ kunft entgegensehenden Vertretungskörperschaft, der Delegation, Hilfe lei¬ sten könne, und dasselbe geschieht vor der Herbstsession der Delegation, anläßlich der Behandlung des Budgets vom Jahre 1869.10 Und 1868 finden eine Reihe von Ministerratssitzungen statt, zu denen ein einziges Mitglied der cisleithanischen Regierung, Ministerpräsidentenstell¬ vertreter und Landesverteidigungsminister Graf Eduard Taaffe, eingeladen wird. Diese sind auch inhaltlich Nachfolger der Konferenzen vor dem Aus¬ gleich. Damals muß die österreichische Regierung für den Schlußakt des 7 Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867- 1906 IHM2$.. 8 GMR. TT/. 11. 1868, RMRZ. 25 ist der erste Anlaß, an dem auch die im Ministerrat erscheinenden beiden ungarischen Minister den Einsichtsbogen signieren. Vgl. KomjAthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges 32. 9 GMRProt. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 48. Anm. 1. 10 GMR. v. 10. 1. 1868, RMRZ. 2; GMR. v. 17. 11. 1868, RMRZ. 25; GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. || || XIV Einleitung Ausgleichswerkes, für das Wehrgesetz, gewonnen und es erreicht werden, daß sie ihre Zustimmung zur letzten „Konzession" an die Ungarn, zur Auf¬ stellung der Honved (ungarischen Landwehr) gibt.11 Besonders auffällig wird die Kontinuität mit dem kaiserlichen Minister¬ rat dadurch demonstriert, daß am Ministerrat nicht nur die der Delegation oder dem Parlament verantwortlichen gemeinsamen bzw. Landesminister teilnehmen, sondern überraschend oft auch leitende Beamte aus den ge¬ meinsamen Ministerien: der Sektionschef des Kriegsministeriums Früh so¬ gar bei sieben Gelegenheiten, und in einem Ministerrat im Oktober der Sektionschef des Außenministeriums Hofmann und die Sektionschefs des Finanzministeriums Lackenbacher und Weninger.12 Da ist der Ministerrat tatsächlich eine Sitzung der gemeinsamen Ministerien, wie auch der Name besagt. Zu einem gemeinsamen Ministerrat im engen Sinne des Wortes, an dem bloß die drei gemeinsamen Minister teilnehmen, kommt es in der Anfangs¬ phase und auch später am häufigsten dann, wenn die gemeinsamen Minister untereinander über irgendeine Frage sozusagen ein Vorgespräch führen, be¬ vor sie auch die Mitglieder der Landesregierungen hinzubitten. 1869 be¬ schließt die Militärführung, den überflüssig gewordenen Paradeplatz in der Wiener Josefstadt zu verkaufen und dadurch Geld für Zwecke zu erhalten, denen die Delegation eventuell die Unterstützung verweigert. Der österrei¬ chische Finanzminister erklärt jedoch nach Konsultation seines ungari¬ schen Kollegen, die Immobilien in Verwaltung des Militärärars seien nicht „gemeinsam", sondertTbilden das Eigentum des Staates, auf dessen Gebiet sieTiegen^Im vorliegenden Fall komme also die aus der Immobilie einge¬ gangene Summe dem österreichischen Finanzministerium zu. Über die ein Präzedenz darstellende Frage (ging es doch um die Verteilung der materiel- le"n Guter des früher einheitlichen Reiches) beraten zuerst die gemeinsamen Minister und laden erst danach die Landesminister zu der langen Ver¬ handlungsserie ein.13 11 GMR. v. 9. 2. 1868, RMRZ. 12; GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. 12 GMR. v. 13. 1. 1868, RMRZ. 4; GMR. v. 14. 1. 1868, RMRZ. 6; GMR. v. 30. 6. 1868, RMRZ. 18; GMR. v. 11. 7. 1868, RMRZ. 19; GMR. v. 29. 10. 1868, RMRZ. 22; GMR. v. 3. 11. 1868, RMRZ. 23; GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. Früh vertritt bei zwei Gele¬ genheiten den Kriegsminister bloß, da dieser am 6. 1. 1868 sein Gesuch um Enthebung von seiner Stelle einreichte, aber der neue Kriegsminister erst am 18. 1. 1868 ernannt wurde. Am GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21 nahmen die drei Sektionschefs teil. 13 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44; GMR. v. 25. 5. 1869, RMRZ. 45; GMR. v. 25. 5. 1869, RMRZ. 46 usw. || || Einleitung XV b) Die Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister Die Tätigkeitsbedingungen des gemeinsamen Ministerrates waren von den Gesetzen des Jahres 1867 sehr knapp festgelegt worden, und die Inter¬ pretation der Paragraphen war umstritten. Die Unsicherheit steigerte noch, daß man diesseits und jenseits der Leitha das Wesen des durch den Aus¬ gleich entstandenen dualistischen Staates unterschiedlich verstand, was auch im Text der Gesetze zum Ausdruck kam,14. Der Minsterrat versuchte die RechtsvorscEfilfen zu interpretieren und in die Praxis umzusetzen; vor allem, worin die Rolle der Landesminister (der beiderseitigen Ministerien) im gemeinsamen Ministerrat bestehe. Der ungarische Ministerpräsident stellt fest, die gemeinsame Regierung müsse mit den Landesministem Zu¬ sammenwirken. „Zwischen Reichs- und Landesminister müßte Solidarität existieren."15 Das schreibt ihnen das Gesetz auch vor, zumindest das unga¬ rische.16 Aber die Zusammenarbeit bedeutete bei weitem nicht, daß die Landesminister mit den Reichsministem absolute Gemeinschaft pflegen müßten; sie müssen der gemeinsamen Regiemng helfen, bestimmen aber selbst, in welcher Form das geschieht. Für die gemeinsamen Ange¬ legenheiten sind die gemeinsamen Minister selbst verantwortlich.17 Und im Ministerrat legen sie wiederholt fest, was im ungarischen Ausgleichsgesetz ohnehin steht, daß die gemeinsamen Minister - wie bei einer gewöhnli¬ chen Regiemng selbstverständlich - gemeinsam die Verantwortung tra- 14 Die Frage ist gut bekannt. In Österreich bedeuteten die gemeinsame Angelegenheit und die gemeinsamen Ministerien die Einheit, die Tatsache, daß infolge des Ausgleichs die Reichseinheit aufdiese Bereiche zurückgedrängt worden ist. In Ungarn dagegen stellte man sich zwei selbständige Staaten vor, die durch die gemeinsamen Angelegenheiten verbunden sTnd. Vgl. Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 451-452. Die Verschiedenheit der (österreichischen) Reichsrats- und der (ungarischen) Reichstags¬ gesetze von 1867 analysierte am ausführlichsten Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn. " 13 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8. 16 Nach GA. XII/1867 § 8 leitet der gemeinsame Minister die Außenpolitik im Einver¬ ständnisse mit den Ministerien beider Teile und unter deren Zustimmung; § 40 besagt, das Budget wird das gemeinsame Ministerium mit Einflußnahme der beiden besonderen verantwortlichen Ministerien anfertigen. Keiner dieser ungarischen Paragraphen hat eine österreichische Entsprechung. 17 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8. Späterfinden sich jedoch auch davon abweichende Stel¬ lungnahmen: Wenn die Landesminister ihr Veto gegen einen Reichsanspruch einlegen wollten, beriefen sie sich üblicherweise auf ihre Verantwortung auch für gemeinsame Angelegenheiten. Vgl. Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungari¬ schen Monarchie 1867-1906 121. || || XVI Einleitung gen.18 Die gemeinsame Verantwortung bezieht sich vor allem auf das Bud¬ get, aber nicht nur darauf, sondern auch auf die politische Tätigkeit der ge¬ meinsamen Regierung.19 2. Der Ausbau des Dualismus a) Die Delegationen20 Im Ministerrat wurden häufig die Grundfragen im Zusammenhang mit dem Ausbau des Dualismus, mit der Interpretation der 67er Gesetze disku¬ tiert, von denen die vielleicht wichtigsten sich auf die Institution der Dele¬ gation bezogen. Bekanntermaßen hatte der Ausgleich zur parlamenta¬ rischen Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten und zur Kontrolle der gemeinsamen Regierung eine eigene Körperschaft geschaffen: die vom Wiener Reichsrat und vom ungarischen Reichstag gewählten Kom¬ missionen für gemeinsame Angelegenheiten mit je 60 Mitgliedern, die De¬ legationen. Diese Institution war das umstrittenste und unsicherste Element des Ausgleichswerkes, an ihrer Brauchbarkeit zweifelten auch jene, die sie ins Leben gerufen hatten. Im Zusammenhang mit der Delegationsinstitution zeigte sich die Unter- schiedlichkeit der österreichischeh' und ungarischen Reichsauffassung am schärfsten. Diese bestand'dann, daß die Österreicher'ein Reich und ein Par- Tämeht des Gesamtreiches wollten, die Ungarn dagegen zwei selbständige Staaten, welche zwar die gemeinsamen Angelegenheiten verbinden, ohne daß, wie sie meinten, die Existenz gemeinsamer Angelegenheiten eine Reichsgemeinschaft schafft. Die Österreicher betrachteten die Delegatio¬ nen als Ausgangspunkt, von dem aus sich im Laufe der Zeit ein Reichs- parlamdnt entwickeln kann, während die Ungarn dies' gerade verKmdem wollten^ ' ' --" " Der gemeinsame Ministerrat bekam zur Aufgabe, die Ausgleichsgesetze zu interpretieren und ihnen in der Praxis Geltung zu verschaffen. Die Un- GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21 bestimmt, daß die drei gemeinsamen Ministerien zu¬ sammen das Budget der gemeinsamen Regierung und nicht das der drei gemeinsamen Ministerien den Delegationen vorlegen. Vgl. GA. XII/1867 § 27: Verantwortlich wird jedes Mitglied des Ministeriums hinsichtlich alles dessen sein, was in seine Kreise ge¬ hört, auch das ganze Ministerium wird zusammen verantwortlich sein hinsichtlich sol¬ cher seiner amtlichen Verfügungen, die es zusammen getroffen hat. Im GMR. v. 9. 2. 1869, RMRZ. 34 geht es z. B. darum, daß die Regierung fiir politisch belangvolle Entscheidungen, wie den Verkaufder Waldungen der Militärgrenze und die Verwendung der eingegangenen Gelder für den Ausbau der Infrastruktur der Gegend, gemeinsam verantwortlich ist. Vgl. Somogyi, A delegäciö. || || Einleitung XVII garn waren bestrebt, daß beide Delegationen ihre Selbständigkeit be¬ wahrten, wie es ihnen auch das Gesetz vorschrieb. Bekanntlich verbot GA. XII/1867, daß beide Delegationen gemeinsam berieten. Die Meinungs¬ unterschiede mußten beide Delegationen durch schriftliche Nachrichten ausgleichen. „Wenn aber dreimaliger Nuntienwechsel erfolglos geblieben ist, hat jeder Teil das Recht, den anderen Teil aufzufordern, daß die Frage durch gemeinsame Abstimmungen entschieden werde."21 Andrässy hatte auch gegen die gemeinsame Abstimmung Bedenken und macKteschon bei der Vorbereitung des Gesetzes auf deren Gefahren aufmerksam; er meinte, die gemeinsame Sitzungen abhaltenden Delegationen könnten zum Reichs¬ parlament werden, und befürchtete, daß in der gemeinsam beratenden Dele¬ gation „sich unsere Nationalitäten mit den übrigen Fremden verbünden", „und wenn vierzig Deutsche Zusammenhalten, braucht es nur noch einen von den Ungarn dazu, daß wir in die Minderheit geraten"^ Andrässys Be- fürchtungeiThaben damals nicht emmaT seine Gesinnungsgenossen geteilt. So blieb im Gesetzestext die Möglichkeit gemeinsamer Abstimmung ent¬ halten. Zwei Jahre später widersprach Andrässy wiederum der gemeinsa¬ men Abstimmung, „aus prinzipiellen Gründen": er sagte, die gemeinsame Abstimmung gefährde das dualistische System selbst. Andrässy ist es oft gelungen, im Ministerrat seine Kollegen zu überzeugen, seinen Willen durchzusetzen, fallweise dadurch, daß er den Herrscher auf seine Seite zog. Bei dieser Gelegenheit aber weisen die gemeinsamen Minister die Argu¬ mente des ungarischen Grafen zurück. Beust stellt mit Nachdruck fest, die Regierung dürfe sich nicht „eines großen Vorteils [d. h. einer gemeinsamen Institution], welchen ihr die Verfassung darbiete, wieder berauben".23 Die gemeinsamen Minister betonten, die beiden Delegationen gehörten zusam¬ men, und man müsse aufpassen, daß dieses Grundprinzip nicht verletzt wird,24 daß der Herrscher die Beschlüsse der beiden Delegationen mit ei¬ nem einzigen juristischen Akt sanktioniere, der für beide Delegationen von gleich verbindlicher Kraft.sei.25 '. Ein jährlicFTwiederkehrendes Problem war, wann die Delegationen ta¬ gen, fiir wann sie einberufen werden sollten. Die Ungarn hielten nicht nur deshalb für wichtig, sie noch in der ersten Jahreshälfte (für die üblicher¬ weise einige Wochen dauernde Sitzungsperiode) einzuberufen, damit die 21 GA. XII/1867 § 36. 22 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 3 730. 23 GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. 24 Die Argumentation von Sektionschef Hofmann aus dem Außenministerium GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21. 25 GMR. v. 21. 2. 1868, RMRZ. 14. Die zweckmäßigste Form jedenfalls die sein würde, wenn die Ah. Genehmigung der Beschlüsse beider Delegationen nur durch einen einzi¬ gen Reichsakt zu erfolgen hätte. || || XVIII Einleitung Abgeordneten das Budget gründlich prüfen konnten. Diese Forderung war auch aus der Sicht der ungarischen Verfassungstraditionen von großer Wichtigkeit. Ein fundamentaler Punkt der 48er Gesetze war,26 daß der Reichstag vor Votierung des nächsten Budgets nicht aufgelöst werden kön¬ ne. Dieses Gesetz trat mit dem Ausgleich wieder in Kraft, man mußte auf ihm bestehen. Gleichzeitig bestand immer die Möglichkeit, daß „bei einer etwaigen Auflösung des Reichstages und infolge der zeitraubenden Vor¬ arbeiten für die Neuwahlen dem noch im selben Jahr einzuberufenden Landtag und den zu wählenden Delegationen nicht immer die nötige Zeit gelassen wäre, das einschlägige Budget in meritorische Behandlung zu neh¬ men".27 Die gemeinsamen Minister wurden jedoch durch andere Ge¬ sichtpunkte geleitet. Kriegsminister Kuhn konnte mit seinem Budget¬ entwurf erst zum Herbst fertig werden, wenn nämlich die begonnenen Re¬ formen im Heer im ganzen Umfang durchgeführt waren und er in Kenntnis der Ernteergebnisse und der Preise genau kalkulieren konnte.28 Beust brauchte Zeit, um seine gehätschelte verfassungsmäßige Erfindung, das ausgewählte diplomatische Akten enthaltende Rötbuch, zusammenstellen zu können.29 In den Diskussionen des Ministerrates über die Einberufung der Dele¬ gationen mischten sich die inhaltlichen Argumente wie üblich mit Prestige¬ gesichtspunkten. Ministerpräsidentenstellvertreter Taaffe empfiehlt den September für die Delegationssession. Bis dahin beenden die Landtage ihre Arbeit, Reichsrat und Delegationen können auch gleichzeitig tagen. Und im übrigen erlauben die verfassungsmäßigen Vorschriften nach Ansicht des cisleithanischen Regierungschefs, daß die cisleithanische Regierung gegen¬ über den Ungarn auf ihrem Standpunkt besteht. Der ungarische Minister am Ah. Hoflager, Graf Festetics, argumentiert ungeschickt, provokativ: Die ungarische Regierung leiten „hochwichtige staatspolitische Rücksichten", die cisleithanische nur „Zwekmäßigkeitsgründe". Er wünscht, daß die De¬ legation für August einberufen wird, da dann „die Ernte- und Badesaison bereits vorüber sei und auch die Fabriken mehr feiern als im September, wo von den Industriellen bereits Vorarbeiten für die Winterkampagne getroffen werden, und jene Delegierte, welche den Jagdsport treiben, sich bereits dem Landaufenthalte zuwenden." Der gemeinsame Finanzminister Becke weist den „um die Person des Königs ruhenden ungarischen Minister"30 sehr be¬ rechtigt zurecht, man müsse politische Gesichtspunkte berücksichtigen, ne- 26 GA. IV/1848 § 6. 27 GMR. v. 26. 3. 1869, RMRZ. 39. 28 RKM. an Beust v. 20. 4. 1869 HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 332/RK. 29 GMR. v. 25. 1. 1869, RMRZ. 32; GMR. v. 31. 1. 1869, RMRZ. 33. 30 Das ist Lajos Thallöczys Definition der Funktion des Ministers am Ah. Hoflager. Thallöczys Tagebuch, 1887-1900. OSZK. K6zirattär, Quart. Hung. 2459. || || Einleitung XIX bensächliche Bedenken kämen nicht in Betracht.31 Schließlich gelingt es im Mai den Partnern, also den drei Regierungen, sich zu einigen, daß die Dele¬ gationen für 1869 zum 4. Juli einberufen werden.32 Der gemeinsame Ministerrat behandelte eingehend die Formalitäten im Zusammenhang mit der Einberufung der Delegation. Dies waren keine for¬ malen Fragen, denn schließlich mußte das Ansehen der viel kritisierten und angegriffenen Institution auch durch Äußerlichkeiten garantiert werden. Deshalb legt man später so großes Gewicht darauf, daß die Reichsratsde¬ legation in Pest ihr eigenes Palais errichte,33 daß den Delegationen sich all¬ gemeiner Achtung erfreuende Mitglieder angehören34 und Hofempfänge das Prestige der Institution erhöhen sollen.35 Das Obersthofmeisteramt gibt jährlich bekannt: die Audienzordnung in der Burg, die Kleidungsvorschrif¬ ten, die anzulegenden Auszeichnungen und wo die gemeinsamen Minister, der Regierungschef und die Delegationsabgeordneten beim Empfang ihre Plätze haben. Der gemeinsame Ministerrat verhandelt darüber, in welcher Reihenfolge die Ministerpräsidenten Seiner kaiserlichen und königlichen Majestät die Delegationsmitglieder vorstellen. Die Delegationssitzung ist ein Festakt, auch infolge des Hofempfangs, vor allemübef, weil man sie dazu machen will. ' Das Verhältnis der gemeinsamen Minister zu den Delegationen war eine Sorge, die die ganze dualistische Epoche begleitete. Die gemeinsamen Mi¬ nister nahmen es auf ihre Weise ernst, was ihnen das Gesetz vorschrieb, daß sie den Delegationen verantwortlich seien. In den ersten Jahren war aber die Existenz der Institution selbst ungewiß, es mußte die „konstitutionelle Lebensfähigkeit der Institution" bewiesen werden.36 Und der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates, Außenminister Beust, meldete dem Kaiser mit einer Genugtuung, die mit gewisser Überraschung gemischt war, daß die Delegation das Budget des laufenden Jahres angenommen und ihre Ar¬ beit beendet habe: „Die Lebensfähigkeit, ja das wahrhaft Ersprießliche die¬ ser so vielfach angefeindeten Institution hat sich dadurch in einer Weise bewährt, an welche sich auch für die Zukunft die erfreulichsten Erwartun- 31 GMR. V. 26. 3. 1869, RMRZ. 39. 32 Die Akten über die komplizierte Einigung hinsichtlich der Einberufung der Delegatio¬ nen: HHStA., PA. I, Karton 559, Nr. 278. Vgl. weiter au. Vortrag v. Beust v. 25. 5. 1869 ebd. PA. I, Karton 563, Nr. 408/RK. 33 Somogyi, A delegäciö 484-485. 34 Zwar beschließt die cisleithanische Regierung, daß die Minister auf ihr Delegations¬ mandat verzichten sollen, doch bittet Beust Ministerpräsident Auersperg, mit dem Mini¬ ster ohne Portefeuille Berger eine Ausnahme zu machen, weil seine Autorität bei der Arbeit der Delegation nötig sei. Beust an Auersperg v. 20. 1. 1868, PA. I, Karton 563, Nr. 125/RK. 35 Über die Frage berät GMR. v. 10. 1. 1868, RMRZ. 2; GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54. 36 Andrässy an Beust v. 7. 3. 1869, HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 406. || || XX Einleitung gen knüpfen lassen."37 Fraglich blieb aber, wie die mit den inneren Verhält¬ nissen der beiden Staaten kaum vertrauten gemeinsamen Minister vor den Delegationen bestehen können, besonders in der ungarischen Kommission für gemeinsame Angelegenheiten, wenn ihnen sogar deren Verhandlungs¬ sprache fremd war. Deshalb bat Beust im gemeinsamen Ministerrat darum, daß Ministerpräsident Andrässy die Außenpolitik der gemeinsamen Regie¬ rung vor der ungarischen Delegation vertreten möge. Andrässy aber wies den Einfall Beusts mit Befremden ab. Den Ausgleichsgesetzen gemäß - sagte er - müsse die Außenpolitik im Einverständnis der Regierungen der beiden Staaten gelenkt werden, und das habe er immer so verstanden, daß er den gemeinsamen Minister unterstützen müsse; aber er sei ein ungarischer Minister und könne in der ungarischen Delegation nicht den Standpunkt des gemeinsamen Ministers vertreten. Er wolle lieber gestatten, daß der ge¬ meinsame Minister in den Delegationsausschüssen deutsch spreche und sich in den Plenarsitzungen von jemandem vertreten lasse.38 Daher wird, auf die Zurückweisung Andrässys hin, Baron Bela Orczy zum Sektionschef im Außenministerium ernannt39 und werden im Außenministerium zwei Sektionschefposten zur Kontaktierung mit beiden Delegationen, beiden Ländern geschaffen. Später stellt sich die Praxis ein, daß jeden der gemein¬ samen Minister das Ungarische beherrschende und die ungarischen Verhält¬ nisse kennende Beamte in der Reichstagsdelegation40 und mit den cisleitha- nischen Verhältnissen vertraute Sektionschefs in der Reichsratsdelegation vertreten.41 Der Ministerrat hat sich offensichtlich ernsthaft auf die Delega¬ tionssitzungen vorbereitet. Es wurde die in der Delegation zu verfolgende Taktik behandelt, es wurden die Rollen der Regierungsmitglieder in den Delegationsdebatten verteilt. Es wurde erwogen, wer die tonangebenden Delegationsmitglieder seien, die schon vorher für den Standpunkt der Re¬ gierung gewonnen werden müßten.42 Der Ministerrat bemühte sich, die Zu¬ sammensetzung der Delegationsausschüsse zu beeinflussen, und berück¬ sichtigte, wer jene seien, auf deren „willfähriges Entgegenkommen man 37 Au. Vortrag v. Beust v. 22. 3. 1868, HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 390/RK. 38 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8. 39 Au. Vortrag v. Beust v. 12. 3. 1868, HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 887/1868. Beust teilt dem Präsidenten der ungarischen Delegation mit, daß den Außenminister Sektionschef Baron Bela Orczy, den Finanzminister Sektionschef Vince Weninger und den Kriegsminister Sändor Benedek in der ungarischen Delegation vertreten werden. Beust an den Präsidenten der ungarischen Delegation v. 16. 11. 1868, ebd. PA. I, Kar¬ ton 563, Nr. 1337/RK. Diese Beauftragung wird später ständig. Siehe Somogyi, A delegäciö 486--487. 42 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44. || || Einleitung XXI rechnen könne", die „als Vermittlungsorgan zwischen der Regierung und den Delegierten" zu verwenden seien. Der Sektionschef des Außen¬ ministeriums Hofmann erklärte im die Delegationssession vorbereitenden gemeinsamen Ministerrat, man müsse mit den regierungstreuen Abge¬ ordneten verhandeln und die Delegationsausschüsse so gestalten, daß in diese zwar auch Oppositionelle gewählt würden, aber dafür gesorgt wäre, daß die Opposition in keiner einzigen die Mehrheit bekäme.43 Die Ge¬ schäftsordnung verfügte nur allgemein über die Delegationsausschüsse.44 Daß ihre Rolle gewachsen und das Schwergewicht der Debatten sich in die Ausschüsse verlegt hatte, mochte damit Zusammenhängen, daß es der ge¬ meinsamen Regierung gelungen war, wirklichen Einfluß auf die Dele¬ gationsausschüsse, deren Zusammensetzung und die Wahl der Delega¬ tionspräsidenten auszuüben.45 b) Die Eigentumsverhältnisse der Militärobjekte Der Ausbau des Dualismus bedeutete in erster Linie die Neugestaltung des Institutionensystems. Als 1867 die großen politisch-prinzipiellen Ver¬ einbarungen entstanden, war jedermann mit ihnen beschäftigt, und in der zweiten Jahreshälfte 1867 mit den grundsätzlichen Wirtschaftsfragen: wel¬ chen Anteil Ungarn an den gemeinsamen Lasten übernehmen solle. Daß die Zweiteilung des früheren einheitlichen Staates weitere Streitfragen aufwer¬ fen werde, wie das Problem der Aufteilung des als einheitlich (gemeinsam) geltenden Eigentums, wurde erst in der Regierungspraxis bewußt. Die gemeinsame Regierung, aber vor allem der Kriegsminister fand, daß ihm im neuen konstitutionellen System die Hände übermäßig gebunden sei¬ en; für jede Militärausgabe mußte er die Einwilligung der Delegationen er¬ bitten. Deshalb versuchte er Quellen zu finden (in Ärarverwaltung liegende Güter), über die er ohne parlamentarische Kontrolle frei verfugen konnte. Dieser Bestrebung dienten die umstrittenste Aktion der Regierung, der Waldverkauf in der Militärgrenze, sowie der in seinen Ausmaßen vielleicht weniger umfangreiche, prinzipiell aber ähnlich bedeutsame Plan des Ver¬ kaufes der ungenutzten Militärobjekte. Eine Reihe von Militärgebäuden war überflüssig geworden und stand den großen Stadt- oder Straßenaus¬ bauplänen im Wege. Die Militärverwaltung war der Meinung, das Äxar kön- ne diese an den Staat oder die Stadt verkaufen, auf dessen oder deren Gebiet das Objekt liegt, und aus den eingegangenen Summen könnte mit solchen Investitionen begonnen werden, deren Kostendeckung die Delegationen nur 43 GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54; GMR. v. 10. 7. 1869, RMRZ. 55. 44 Geschäftsordnung der Delegationen HHStA., VI/6, Karton 85. 45 GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54; GMR. v. 10. 7. 1869, RMRZ. 55. || || XXII Einleitung schwer beschließen würden. Als die Idee auftauchte, dachte niemand an die rechtlichen Stolpersteine der Angelegenheit. Zumindest schien es Franz Jo¬ seph selbstverständlich zu sein, daß über die eingegangene Summe der Reichsfinanzminister verfüge.46 So war es auch früher gewesen (vor dem Ausgleich), und sollte in dieser Hinsicht nun eine Änderung eintreten und die überflüssig oder entbehrlich gewordenen Immobilien ohne Gegenlei¬ stung ins Eigentum der Reichshälfte kommen, in dem sie liegen, dann hätte der Kriegsminister kein Interesse daran, auf irgendein Ärareigentum zu ver¬ zichten. Damit aber würde jede rationale Entwicklung unmöglich. Nur waren eben die beiderseitigen Regierungen anderer Meinung: sie verlangten die Immobilien füFsich.47 Der ungarische Finanzminister stellte fest, im Sinne'(Ies~AusgiFichs sei nur das Heer gemeinsam, nicht aber die von ihm genutzten Immobilien, da diese doch immer aus den Mitteln des Territoriums, auf welchem sie sich befinden, erbaut worden seien. Aber selbst wenn sie gemeinsam wären, dürfte die Kriegsverwaltung nicht frei, unter Umgehung der Delegationen, über sie verfügen.48 Es kommt zu dem ganz und gar unüblichen Fall, daß der cisleithanische Finanzminister Brestei sich vorbehaltlos die Ansichten des ungarischen Finanzministers zu eigen macht.49 Der gemeinsame Finanzminister aber hielt es für seine Pflicht, „den Standpunkt der Gemeinsamkeit zu wahren und gegen eine Auffassung zu sprechen, welche in ihren Konsequenzen den Ausgleich und das Band der Gemeinsamkeit noch weiter lockern müßte".50 Seiner Meinung nach exi¬ stiert ein gemeinsames Eigentum, das Militär besitze grundbuchmäßig belegbare eigene Immobilien und Waffenfabriken, auch im Ausland. Die Immobilien geringeren Wertes - sollten diese entbehrlich werden - könne die Militärführung tatsächlich dem Land übergeben, auf dessen Gebiet sie liegen, über das Schicksal derer größeren Wertes allerdings müsse sie von Fall zu Fall verhandeln. Im Laufe der sich lange hinziehenden Diskussion - über diese Angelegenheit werden zwischen Februar und Mai 1869 sieben gemeinsame Ministerratssitzungen abgehalten - gibt Becke seinen früheren Standpunkt auf, der streng auf der Existenz gemeinsamen Eigentums beruh¬ te, und macht folgenden Lösungsvorschlag: 1. Jede Liegenschaft, die sich am 1. Januar 1868 im Besitz der Militärverwaltung befand und auch weiter¬ hin für militärische Zwecke genutzt wird, bleibt im Besitz der Militärver- 46 GMR. v. 18. 2. 1869, RMRZ. 36. 47 GMR. v. 30. 4. 1869, RMRZ. 42. 48 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44. Ein ähnliches Problem war schon 1868 aufgetaucht, als die Ungarn das in die Militärgestüte investierte Kapital als ungarisches und die Reichs¬ minister es als gemeinsames Vermögen betrachteten. GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21. 49 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44. so Ebd. || || Einleitung XXIII waltung, und ihre Herkunft muß nicht untersucht werden. 2. Wenn die Militärverwaltung die Liegenschaft nicht mehr benötigt, übergibt sie sie an den Staat, auf deren Gebiet die Immobilie liegt. 3. Wenn das Objekt für 'Verteidigungszw'ecke brauchbar ist, aber" der Staat, auf dessen Gebiet es liegt, es für Verkehr-, Bau- oder andere Zwecke beansprucht, muß er der Militärverwaltung eine gleichwertige Entschädigung anbieten. Die so entstandene Summe ist bei den Militjreinnahmen einzustellen. 4. Im Falle des Verkaufs von Objekten, die seit dem 1. Januar 1868 aus dem gemeinsa- men Budget geschaffen wurden, muß der Verkaufspreis zwischen beiden Ländern entsprechend der Quote aufgeteilt werden? Eine Unsicherheit ergab sich offensichtlich nur im Zusammenhang mit vor 1868 entstandenen Immobilien, und Becke bemühte sich zu erreichen, daß der Verkauf der entbehrlichen Liegenschaften im Interesse der Militär¬ führung liege, erkannte aber an, daß der Erlös aus eventuellen Verkäufen stets gewissenhaft in das Budget eingestellt werden müsse. Lönyay dagegen hat auch dieses Angebot Beckes zurückgewiesen. Er be¬ stand darauf, daß dem Kriegsministerium nur das Nutznießungsrecht der Militärobjekte, das Eigentumsrecht aber dem Staat bzw. dessen Finanzärar zukomme, auf welchem das öbjekt gelegen sei. Schließlich akzeptierte die Militärführung in einem Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers „den tiefein¬ gewurzelten Rechtsbegriff vom Eigentum der ungaris,qhen Krone"32 und beschloß, daß diF^ibsolut entbeErncEenTOBjekte an die'Fmähzvefwältung des betreffenden Territoriums zurückfallen, während die Sache der „be¬ dingt entbehrlichen Immobilien" von Fall zu Fall den Delegationen zu über¬ lassen sei, „wo allein möglich sei, die Wahrung des gemeinsamen Stand¬ punktes mit der Berücksichtigung territorialer Interessen zu vereinen ,53 Damals hatte es den Anschein, es sei den Parteien gelungen, sich zu eini¬ gen. Doch vergehen nach dem Ministerratsbeschluß noch Monate, in denen es nicht nur in der konkreten Frage zu keiner Vereinbarung kommt,54 son¬ dern auch neue prinzipielle Zweifel auftauchen. Finanzminister Lönyay hat Vorbehalte hinsichtlich des Ausgangspunktes der Regelung, nämlich daß der Kriegsminister allein darüber entscheiden müsse, ob eine Immobilie 51 GMR. v. 24. 5. 1869, RMRZ. 45. 52 Beusts Formulierung GMR. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 48. 53 Ebd. ' `' -- 54 Die konkrete Frage: Die Wiener Stadtverwaltung möchte das Gebiet des Paradeplatzes in der Josefstadtßr Zwecke des Städtebaus erwerben, und das Kriegsministerium zeigt sich geneigt, einen neuen Exerzierplatz auf weniger wertvollem Gelände zu errichten, und ist ursprünglich des Glaubens, das aus dem Verkaufder Immobilie stammende Ver¬ mögen ßr solche Investitionen verwenden zu können, deren Deckung es aus anderen Quellen nur schwer beschaffen könnte. Die Akten im Zusammenhang mit dem Josefstädter Paradeplatz HHStA., PA. I, Karton 560, Militaria 13. || || XXIV Einleitung absolut oder bedingt entbehrlich sei. Nach Lönyays Meinung werde der Kriegsminister niemals die absolute Entbehrlichkeit einer Liegenschaft an¬ erkennen, und so werde dieselbe niemals ohne Kompensation ins Eigentum des betreffenden Territoriums zurückgelangen.55 Brestei war hinsichtlich der Delegationskompetenz bzw. dessen unsicher, wie die Delegationen ihre Kontrolle bei solchen Geschäften durchsetzen können.56 Und in Wirklich¬ keit waren die Finanzminister der beiden Staaten unsicher, ob der Minister¬ rat im Mai unter Vorsitz des Kaisers tatsächlich einen Beschluß gefaßt oder bloß die Richtung der Verfahren festgelegt habe.57 Ein Jahr lang war es nicht gelungen, die konkrete Angelegenheit, den Verkauf des Josefstädter Paradeplatzes, abzuschließen. In derartigen Streit¬ fällen zeigte sich offensicRtTfcli der Gegensatz der beiden Staaten zum Reich; die Veränderungen im Wert der Immobilien (den Spekulationswert) wollte jede der Parteien für sich ausnutzen. Der Fall bietet aber auch weiter¬ gehende Lehren -- deshalb war es sinnvoll, sich mit ihm ausführlicher zu / /befassen. Er zeigt, daß die Grundbegriffe des neugestalteten Systems unter- / / schiedlich interpretierfwerdeh können: daß unsicTüHst,'ob nur die Armee j I oder auch das Eigentum der Armee gemeinsam isf, we weit die Kompetenz / der Delegationen reicht, öb derMinisleMt üriter Vorsitz des Herrschers ei¬ nen Beschluß gefaßt habe und für wen die Ministerratsentscheidung ver¬ bindlich sei. Die Begriffe waren unsicher, und in Wirklichkeit nahmen die Parteien auch nicht das Odium ihrer Klarstellung auf sich.58 c) Der gemeinsame oberste Rechnungshof Die außerordentlich lehrreiche Diskussion, die es im gemeinsamen Mi¬ nisterrat über die Besetzung des Präsidentenpostens des gemeinsamen ober¬ sten Rechnungshofes gab, resulierte ebenfalls aus der Unsicherheit der In¬ stitution selbst. GA. XII/1867 besagte nichts über die Kontrolle des ge¬ meinsamen Rechnungsabschlusses. Die Aufstellung des gemeinsamen obersten Rechnungshofes erwähnte ein Gesetz eigentlich nur nebenbei, im Zusammenhang mit den gemeinsamen Pensionen, bei der Verfügung, daß 55 Lönyay an Beust v. 17. 2. 1870 HHStA., PA. I, Karton 560, Nr. 54. 56 Au. Vortrag v. Beust v. 11. 2. 1870 ebd. Nr. 46/1870. Brestei meinte, daß eine nähere Auseinandersetzung unter den beiden Finanzministern so lange nicht tunlich erscheine, bis nicht ein Beschluß der Delegationen vorliege, ob sie sich zum Eingehen auf eine solche Vorlage ... als kompetent erklären. 57 Siehe Anm. 52. 58 Es ist sehr charakteristisch, daß anläßlich eines staatsrechtlichen Streites der Herr- !/ scher selbst konstatiert: Die Ausgleichsgesetze erlauben es leider, daß in wichtigen Fra¬ gen zwei so entgegengesetzte Ansichten sich bilden konnten, welche sich beide auf die J Staatsgrundgesetze stützen. GMR. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29. iJ || || Einleitung XXV künftig nur die Pensionen des Personals der gemeinsamen Ministerien und des ihnen beigeordneten, unabhängig von ihnen aufzustellenden verant¬ wortlichen und gemeinsamen obersten Rechnungshofes aus dem gemein¬ samen Budget gedeckt werden müssen.59 Mit anderen Worten, es sagte also nur, daß außer den drei gemeinsamen Ministerien noch ein gemeinsames Organ existiere. In der Praxis stand der oberste Rechnungshof (wie auch die obersten Rechnungshöfe der beiden Staaten) zwischen Regierung und den Vertretungskörperschaften, seine Aufgabe war, letzteren die Kontrolle des Finanzgebahrens der Regierung zu ermöglichen. Aus der Unsicherheit sei¬ nes Status ergab sich, daß auch der gemeinsame Ministerrat darüber stritt, ob der Präsident des obersten Rechnungshofes ein Mann der Exekutive sei, also das Amt von einem hochrangigen Staatsbeamten besetzt werden solle,' oder ein Mann der Legislative und deshalb ein Delegationsabgeordneter. Mit Ah. Entschließung vom 22. 2. 1870 wurde zwar der gemeinsame ober¬ ste Rechnungshof organisiert, die im Ministerrat diskutierte Prinzipienfrage jedoch nicht entschieden.60 3. Staatsrechtliche Probleme a) Reichs- oder gemeinsame Minister? Es ist wohlbekannt, daß in Österreich (in den im Reichsrat vertretenen Kö¬ nigreichen und Ländern, in Cisleithanien) und in Ungarn der Begriff der ge¬ meinsamen Angelegenheiten unterschiedlich interpretiert wurde. In Öster¬ reich waren die gemeinsamen Angelegenheiten, die gemeinsamen Ministe¬ rien und die gemeinsame Armee Ausdruck der Einheit, sie bedeuteten, daß das einheitliche Reich nach 1867 auf diese Bereiche beschränkt war. In Un¬ garn dachte man in zwei selbständigen Staaten, die zwar durch gemeinsame Angelegenheiten miteinander verbunden waren, wobei aber die Existenz der gemeinsamen Angelegenheiten keine Reichsgemeinschaft schaffte. Am 24. Dezember 1867 verfügte*der Herrscher als Schlußakt des Aus¬ gleichswerkes, daß Kriegsminister John und Außenminister Beust ihre frü¬ here Funktion als Reichsminister weiterführten, und ernannte Freiherm von Becke zum Reichfinanzminister. Zugleich forderte er Reichskanzler Beust auf, Maßnahmen zu ergreifen, daß das Reichsministerium sobald als mög¬ lich mit seiner Tätigkeit beginne.61 Auch einige Tage später, anläßlich des Über die Besetzung des Präsidentenpostens des gemeinsamen obersten Rechnungs¬ hofes: GMR. v. 25. 1. 1869. RMRZ. 32; GMR. v. 31. 1. 1869, RMRZ. 33. Das betreffende Gesetz: GA. XLVII/1868 § 4. Vgl. Df.rnatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 713. 61 Vgl. Beust an John v. 26. 12. 1867, KA., KM., Präs. 44-17/1867. || || XXVI Einleitung Empfanges der ungarischen Delegation, spricht der Herrscher von Beust als „Reichskanzler". Die Benennung erweckte Befremden im ungarischen Abgeordnetenhaus. Kalman Ghyczy und Genossen "inferpellierten iffi Namen der oppo¬ sitionellen Partei der linken Mitte bei den das Budget einbringenden Mi¬ nistem, unter anderem deswegen, daß das Budget der ungarischen Delegati¬ on als Budget des gemeinsamen Ministeriums, das der Reichsratsdelegation aber als das des Reichsministeriums vorgestellt wurde. Sie brachten vor, der Titel Reichsminister sei unseren Gesetzen fremd, und eine mit unserer Selb¬ ständigkeit unvereinbare Benennung verwende auch der Herrscher in meh¬ reren offiziellen Äußerungen und Schreiben.62 Mit der Interpellation be¬ schäftigten sich zwei Ministerratssitzungen Ende Januar,63, Die „Reichs"- Minister antworteten darauf, sie' verstünden dein Protest von Ghyczy und Genossen einfach nicht. Ihrer Meinung nach würden die beanstandeten Ausdrücke schon mindestens ein Jahr lang verwendet, auch die Ungarn hät¬ ten sie gehört und keine Bemerkung dagegen gemacht. Die Benennung Reichsministerium sei keine Erfindung der Regierung und nur „eine Aus- drucksweise für das, was man gemeinsam nennt". Der gemeinsame Finanz¬ minister Becke knüpfte auch eine etymologische Erklärung an den omi¬ nösen Ausdruck. „Reich bedeute eben: so weit das Zepter Seiner Majestät reiche." «-- --- ' v~ " "Aber bei dieser Gelegenheit gelang es Becke nicht, den ungarischen Mi¬ nisterpräsidenten zu überzeugen. Andrässy bemühte sich dämm und er er¬ reichte auch, daß von Abgeordneten der Regierungspartei auch eine konziliantere Interpellation in der ungarischen Delegation vorgebracht wur¬ de;64 er bestand aber darauf, daß „der Ausdruck Reich kein gesetzlicher sei". Und wie sehr er auch betonte, daß die Landes- und die Reichsminister solidarisch miteinander sein sollten, und diese Solidarität im allgemeinen auch übte, warnte er davor, in der auf die Interpellation zu gebenden Ant¬ wort anzuerkennen, daß der Text der 67er Gesetze in den im Reichsrat ver¬ tretenen Königreichen und Ländern bzw. in Ungarn in den umstrittenen Fra¬ gen voneinander abweiche.65 Würden die ungarischen Minister den Aus- 62 Über die Frage bzw. die sie betreffende Ministerratsdiskussion: KomjAthy, Die Entste¬ hung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges 25- 26. « GMR. v. 30. 1. 1868, RMRZ. 9; GMR. v. 31. 1. 1868, RMRZ. 10. 64 Beilage zum GMRProt. v. 30. 1. 1868, RMRZ. 9 (Interpellation Kerkapoly und Genos¬ sen). 65 ln Beckes Antwortentwurf auf die Interpellation steht, daß die Minister auch in dem hierländigen Gesetze Anhaltspunkte für den Titel Reichsminister gefunden hätten. Ge¬ gen diese Formulierung protestiert Andrässy. Hier ist aber die Bemerkung angebracht, daß auch RGBl. Nr. 146/1867 von gemeinsames Ministerium spricht (§ 5, § 14, § 16 usw.), allerdings die Ausdrücke Reichsteile, Reichshälfte benutzt. || || Einleitung XXVII druck „Reich" akzeptieren, wären sie ständigen Angriffen von seiten der Opposition wie der Regierungspartei ausgesetzt. Deshalb schlägt er vor, in Ungarn die Ausdrücke Reichsminister und Reichsministerium nicht zu ver¬ wenden. War der ungarische Protest gegen das „Reichsministerium" bloß staats¬ rechtliche Nörgelei, leere Prestigesache? - Das auch, und er sollte die un¬ eingestandene Wahrheit verdecken, daß der Ausgleich ein Kompromiß war. Die andere Seite beharrte aus denen der Ungarn ähnlichen Prestigegründen auf dem Ausdruck „Reich". Es sei nicht schön - sagte Fürst Auersperg, der österreichische Ministerpräsident -, daß man in Ungarn „jedes Wort im Gesetze zum Gesetz selbst mache ..." Man tue genau das, was man der an¬ deren Seite übelnehme, lasse die österreichischen Gesetze unberück¬ sichtigt, nenne Österreich „übrige Länder" und wundere sich, daß das für Österreicher erniedrigend und beleidigend sein sollte.66 Schließlich nahm der Ministerrat Andrässys Vorschlag an. Und von da an ist für Jahrzehnte die Praxis üblich, daß die Reskripte des Monarchen und Akten der gemein¬ samen Ministerien, wenn sie an die ungarischen Behörden expediert wer¬ den, den Ausdruck „gemeinsam", und wenn an die österreichischen oder gemeinsamen Behörden gerichtet, dann „Reichs-" enthalten. Der Herrscher ernannte noch 1895 den Außenminister und bis 1906 den Kriegsminister als „Reichsminister".67 __ ' b) Titelfrage Der Herrscher erkannte in seinem Handschreiben vom 14. 11. 1868 an, daß die neuen Verfassungsverhältnisse, also die dualistische Umgestaltung des Reiches, auch in den verschiedenen Titeln zum Ausdruck kommen mußte, weshalb er befahl, daß in Verträgen mit dem Ausland, „wo meine Person als vertragschließender Teil und als Vollmachtgeber anzuführen ist, künftig mein Titel in folgender Fassung zur Anwendung komme: »Kaiser von Österreich, König von Böhmen usw. und apostolischer König von Un¬ garn«; wonach im weiteren Kontext des Vertrages eine der diplomatischen Übung anzupassende abgekürzte Form gebraucht werden möge, namentlich der Titel: »Kaiser von Österreich und apostolischer König von Ungarn«; dann die Bezeichnung: »Seine Majestät der Kaiser und König« oder »Seine k. und k. apostolische Majestät«. Ferner haben zur Bezeichnung der Gesamtheit aller unter meinem Zepter verfassungsmäßig vereinigten Königreiche und Länder die Ausdrücke: 66 GMR. v. 31. 1. 1868, RMRZ. 10. 67 Rumpler, Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen für die Au¬ ßenpolitik der Habsburgermonarchie 1848-1918 36. || || XXVIII Einleitung »Österreichisch-Ungarische Monarchie« und »Österreichisch-Ungarisches Reich« alternativ gebraucht zu werden."68 In einer Reihe weiterer Detail¬ fragen mußte aber der gemeinsame Ministerrat im Geiste der Ah. Ent¬ schließung vom 14. November Stellung nehmen: Welcher neue gekürzte Titel Seiner Majestät bei den Staatsverträgen mit auswärtigen Mächten an¬ zuwenden sein werde, in welcher Weise der in den Adelsdiplomen bisher gebrauchte Titel Seiner Majestät zu modifizieren sei, wie die ausländischen Konsulate zu nennen sind usw.69 c) Entmilitarisierung der Militärgrenze Seit der Türkenzeit wurde die süd-südöstliche Grenze des Staates von einem unter Militärverwaltung stehenden Grenzstreifen eingefaßt, der seine strategische Bedeutung längst eingebüßt hatte und in sozialer Hinsicht feudale Verhältnisse konservierte.70 Nach der Auflösung der siebenbür- gischen Grenztruppen (1851) konnte die Aufrechterhaltung des Militär¬ systems im Banat und in Kroatien noch mit politischen Argumenten be¬ gründet werden, aber nach dem Ausgleich war das System endgültig ana¬ chronistisch geworden. Der Ausgleich selbst enthielt keine Verfügungen über die Militärgrenze, aber weil GA. V/1848 sie als Teil Ungarns aner¬ kannte, trat 1867 automatisch das Gesetz von 1848 in Kraft. Im kroatisch¬ ungarischen Ausgleich von 1868 übernahm Ungarn die deklarierte Ver¬ pflichtung, die legislative und administrative Vereinigung der Militärgrenze mit Kroatien zu betreiben.71 Zusätzliche Aktualität erhielt die Militärgrenze noch dadurch, daß die Militärverwaltung in der Militärgrenze mit großan¬ gelegten Waldverkäufen begonnen hatte, um aus deren Einnahmen ihr Budgetdefizit zu decken. Diese Transaktion weckte schlimme Befürch¬ tungen, denn es war umstritten, ob das Kriegsministerium in eigener Befug¬ nis Geschäfte solchen Umfanges tätigen dürfe, und der auf 20 Jahre geplan¬ te Holzeinschlag drohte die Entmilitarisierung für die ganze Periode zu ver¬ hindern. Im Februar 1869 trug Ministerpräsident Andrässy unmittelbar dem Herr¬ scher seine Besorgnisse in bezug auf die geplante Unternehmung vor,72 und 68 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 52. 69 GMR. v. 22. LJ869, RMRZ.31; GMR. v. 3. 4. 1869, RMRZJß. 70 Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministefiums, Bd. 2 110 ff.; ders., Die k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 415 ff.; Rothenberg, The Struggle over the Dissolution of the Croatian Military Border 1850-1871; ders., The Military Border in Croatia 1740-1881; Mollinary, Sechsundvierzig Jahre im österreichisch-un¬ garischen Heere 1833-1879, Bd. 2 204 ff. 71 GA. XXX/1868. 72 Au. Vortrag v. Andrässy v. 23. 2. 1869 HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 684/1869. || || Einleitung XXIX dieser forderte die gemeinsamen Minister auf, zum Vortrag Andrässys Stel¬ lung zu nehmen.73 Die gemeinsamen Minister bestanden darauf, daß Ein¬ nahmen aus der Militärgrenze dem Kriegsministerium zukämen, da dieses durch den Ausgleich die Oberhoheit über dieses Gebiet innehabe. Das kön¬ ne erst geändert werden, wenn der zwischen beiden Staaten bestehende Quotenvertrag auslaufe, und das sei in zehn Jahren. Deshalb seien sie dage¬ gen, daß sich die ungarische Regierung unmittelbar in die Waldgeschäfte einmische, andererseits aber sähen sie es als notwendig an, ihre ungarischen Kollegen davon zu informieren und diese für das Unternehmen zu gewin¬ nen. Ein Jahr lang standen die Waldverkäufe auf der Tagesordnung des Ministerrates, als man endlich auch die ungarischen Minister zu ihm ein¬ lud.74 Allerdings könnte man auch sagen - und das entspräche dem Tonfall der Einladung eher -, daß man die ungarischen Minister vor die Reichs¬ regierung zitierte. Es lag ganz bei Andrässy, die ihm zugedachte Rolle nicht zu übernehmen. Er war nicht bereit, aufgrund der Instruktion des gemeinsa¬ men Ministerrates nichtssagende Antworten auf die Interpellationen im Parlament zu formulieren, sondern stellte fest, das Militärgrenzsystem lasse sich nicht mehr beibehalten, weil es unvereinbar mit dem Dualismus, mit der konstitutionellen Einrichtung der beiden Staaten sei. Andrässys Elo¬ quenz, die Leidenschaftlichkeit seiner Argumente scheint sogar durch das Aktengrau der Ministerratsprotokolle hindurch. Aber nicht seine glänzende Argumentation und nicht einmal die staatsrechtliche Brillanz seiner Be¬ weisführung waren seine wirkliche Waffe, sondern daß er den Gang der Entscheidungsfindung kannte und selbst mitgestaltete. Bei der Lektüre der aufeinander folgenden Ministerratsprotokolle wird erkennbar, daß im August eine Wende in der Angelegenheit der Militär¬ grenze eingetreten sein muß. Andrässy äußerte, „Seine Majestät der Kaiser habe ... vor Allerhöchstseiner Abreise ins Brücker Lager zu befehlen ge¬ ruht, daß bis zu der morgen erfolgenden Rückkehr von den Räten der Krone ein Beschluß gefaßt werde."75 Schon diese Berufung auf den Kaiser läßt ahnen, daß der ungarische Graf unter Umgehung des Ministerrates Ergeb¬ nisse beim Herrscher erzielt hatte. Es gibt einen weiteren - wenn man so will - formalen Beweis dafür, daß schon vor der Ministerberatung und ohne den Ministerrat der prinzipielle Beschluß über die Entmilitarisierung der Militärgrenze gefallen war. Für den 13. August wurden auch die cisleitha- nischen Minister zur Beratung eingeladen,76 und wenn dies der Fall war, dann plante man gar nicht mehr - wie bisher - einen Gedankenaustausch 73 GMR. v. 27. 2. 1869, RMRZ. 37. 74 GMR. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 49; GMR. v. 1. 7. 1869, RMRZ. 53. 75 GMR. v. 11. 8. 1869, RMRZ. 58. 76 GMR. v. 13. 8. 1869, RMRZ. 59. || || XXX Einleitung über die Entmilitarisierung oder die Beibehaltung des früheren Systems (bei der die österreichischen Minister überhaupt keine Mitsprache hatten), sondern über die praktische Durchführung der Entmilitarisierung. Wir sind aber gar nicht allein auf die Protokolle und aus ihnen resultierende Vermu¬ tungen und Schlußfolgerungen angewiesen, wenn wir den Weg der Ent¬ scheidungsfindung verfolgen wollen. Der ungarische Ministerpräsident be¬ richtete seiner Frau: „Am vergangenen Donnerstag (12. August) sprach ich zweieinhalb Stunden lang mit Seiner Majestät über die Angelegenheit. ... Anderntags berief mich Seine Majestät wieder zu sich. Ich blieb bei meiner Meinung. ... Noch am gleichen Tag war ein Ministerrat mit den hiesigen Ministem, der meine ganze Geduld auf die Probe stellte. Aber ich war ganz ruhig und guter Laune und siegte sur toute ligne. Das Ergebnis ist, daß zwei Regimenter sofort aufgelöst werden, zwei Städte werden zu königli¬ chen Freistädten, und das weitere wird selbstverständlich dann von selbst folgen ..."77 Am 12. und 13. August gewann Andrässy den Kaiser also für die Ent¬ militarisierung der Militärgrenze und erzwang anschließend, mit Bemfung auf das Versprechen des Kaisers, zumindest aber dieses andeutend und durchklingen lassend, den positiven Beschluß im Ministerrat selbst. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der ungarische Ministerpräsident mit den gemeinsa¬ men Ministem gerungen. Nach dem 13. August, als der Kaiser und dem¬ entsprechend die gemeinsamen Minister in die Entmilitarisierung eingewil¬ ligt hatten, gestaltete sich der gemeinsame Ministerrat um. Von da an ähnel¬ te er auch in seinem Inhalt und in seiner Form eher den wirtschaftlichen Ausgleichsverhandlungen zwischen den beiden Staaten.78 Denn nun war darüber die Rede, daß sich nach der Inkorporierung der Militärgrenze das Verhältnis des Beitrages zu den gemeinsamen Kosten (die Quote) zwischen den beiden Staaten ändere. Entsprechend des Inhaltes des Ministerrates än¬ derte sich auch die Rollenverteilung. Nicht mehr die gemeinsamen Minister standen als Gremium den ungarischen Regierungsmitgliedem gegenüber (wie bisher, als es um die prinzipiellen und staatsrechtlichen Bezüge der Frage ging), sondern die Regierungen der beiden Staaten diskutierten mit¬ einander, und Beust als außenstehender Dritter spielte die formelle Rolle des Debattenleiters, wie dies bei den wirtschaftlichen Ausgleichsver¬ handlungen üblich war.79 Lederer, Grof Andrässy Gyula beszedei, Bd. 2 113. Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867- 1906 229-232. Im übrigen wurde im Ministerrat beschlossen, die Deputation des Reichsrates bzw. Reichstages solle nicht jedesmal neu über die Änderung des Quotenverhältnisses feil¬ schen, wenn wieder ein Regiment unter die Oberhoheit Ungarns bzw. Kroatiens gelangt, sondern die Regierungen der beiden Staaten einigen sich aufkurzem Wege im Laufe der || || Einleitung XXXI 4. Die Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Verfassung a) Das Wehrgesetz von 1868 Das Wehrgesetz von 186880 war nicht bloß ein auf das Militär bezüg¬ liches Gesetz, sondern ein bestimmendes Element der dualistischen Um¬ gestaltung - wenn diese Umgestaltung in der einzig möglichen Weise inter¬ pretiert wird, daß nämlich ihre gemeinsamen und unteilbaren organischen Bestandteile die Parität der beiden Länder und die Schaffung bürgerlicher Rechtsverhältnisse waren. Es sei das wohl wichtigste Gesetz zur Sta¬ bilisierung der Verhältnisse, äußerte der ungarische Kultusminister Baron Eötvös,81 das Wehrgesetz sei „der Schlußstein zur Organisation der Monar¬ chie",82 meinte Andrässy. Und im wesentlichen ähnlich erklärte der Vor¬ stand der Militärkanzlei v. Beck, das Wehrgesetz „besiegelt den Aus¬ gleich".83 Im Krieg von 1866 hatten die Preußen mit einer auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Massenarmee die Soldaten Benedeks geschlagen. So war die Lehre aus Königgrätz, daß man die Armee modernisieren und die allgemeine Wehrpflicht ohne Stellvertretung und Loskauf einfuhren müsse. Im Wiener Kriegsministerium lag bereits Ende 1866 der Entwurf des neuen Wehrgesetzes vor und wurde im Dezember 1866 auch auf dem acht Jahre, in denen die vollständige Entmilitarisierung vor sich geht. Bis dahin laufe die 1867 auf zehn Jahre geschlossene Quotenvereinbarung aus, und eine neue müsse geschlossen werden. Diese Vereinbarung enthält ein Reskript des Herrschers vom 19. August 1868. Im übrigen verfügte das Reskript die endgültige Auflösung der Militär¬ grenze, die schrittweise vor sich gehen solle. Während dieser Zeit bleibe das Gebiet unverändert unter Oberhoheit des Kriegsministeriums. 80 Die Entstehung und den Inhalt des Wehrgesetzes behandelt eine reichhaltige Literatur: Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 41-50; ders., Die k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 585-591; Schweizer, Das österreichisch-un¬ garische Wehrgesetz der Jahre 1868-69; Rothenberg, The Army of Francis Joseph 77- 81; Allmayer-Beck, Der Ausgleich von 1867 und die k. u. k. bewaffnete Macht 115- 119; Wertheimer, Graf Julius Andrässy, Bd. 1 323-368; Papp, Die königliche ungari¬ sche Landwehr (Honväd) 1868 bis 1914 634-644; Zachar, Az oszträk-nämet liberalis alkotmänypärt äs a politikai hatalom 1861-1881 72-82. 81 MR. v. 18. 6. 1868, MRZ. 72. Siehe Anm. 100-101. 82 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3. 83 Das Zustandekommen dieses Gesetzes ist aber eine der wichtigsten und brennendsten Fragen in Österreich, erst durch dasselbe wird jene politische Festigkeit, jener Kitt in der Gesamtmonarchie wieder hergestellt, welcher ihre Kraftentwicklung nach Außen gestat¬ tet - erst durch diese Einigung ist der Ausgleich besiegelt und die Ruhe in den aufgereg¬ ten Gemütern aller Volksstämme wieder hergestellt, die für die ruhige innere Entwick¬ lung so unumgänglich nötig [ist]. Zur Lösung der ungarischen Militärfrage (v. Beck) v. 28. 11. 1867 KA„ MKSM. Sep.Fasc. 76, Nr. 36. || || XXXII Einleitung Verordnungswege in Kraft gesetzt. In Ungarn jedoch, wo die Rekruten¬ bewilligung das vielhundertjährige Recht der Stände war, löste diese Oktroyierung gerade während der angelaufenen Ausgleichsverhandlungen derartige Empörung aus, daß sich der Herrscher gezwungen sah, die Ver¬ ordnung zurückzuziehen und die verfassungsmäßige Vorbereitung des Ge¬ setzes einzuleiten. Die allgemeine Wehrpflicht war eine moderne Erfindung, sie beruhte auf der bürgerlichen Rechtsgleichheit und der gleichen Verpflichtung der Staatsbürger gegenüber dem Staat.84 Die „Nation" sollte der Garant der Verteidigung sein, und der Schutz der Heimat verlangte eine „nationale"Ar¬ mee. Die Schwierigkeit in diesem Falle war aber, daß das eben entstandene Ausgleichssystem, wie bekannt, eine supra- bzw. pränationale Armee schaffen oder bewahren wollte; sie gründete sich auf „die Verteidigung ... der gemeinsamen Sicherheit mit vereinten Kräften" der beiden Staaten, die gemeinsame und einheitliche Armee war die Macht- und wenn man so will, auch die ideologische Basis des dualistischen Reiches. Und das Wehrgesetz sollte nun gerade diesen im Wesen der Dinge liegenden Gegensatz über¬ brücken: also die gemeinsame und einheitliche Armee unberührt erhalten und in irgendeiner Form dennoch die nationalen Bestrebungen berücksich¬ tigen. Für die von ungarischer Seite erhobenen Forderungen bot das Aus¬ gleichsgesetz bis zu einem gewissen Grade einen Rechtsgrund. Im GA. XII/ 1867 § 11 stand nämlich: „das ungarische Heer" „als ein ergänzender Teil der Gesamtarmee";85 was dies aber wirklich bedeute, konnte jedermann nach eigenem Geschmack interpretieren. Im November 1867 verfertigte Beck, der Vorstand der Militärkanzlei und persönliche Mitarbeiter Seiner Majestät, eine Denkschrift „Gegen Zwei¬ teilung des Heeres", in der er davor warnte, wenn man den Wünschen der Ungarn entspreche, werden binnen kurzem auch andere Nationen solche Ansprüche stellen, die Armee werde in nationale Elemente zerfallen, und die Nationalheere könnten sich, unterstützt von ihren Rassenverwandten jenseits der Grenzen, gegen das Reich wenden.86 Auf Befehl des Kaisers gab Beck seine Denkschrift auch an Andrässy weiter und führte mit diesem Gespräche über dieses Thema. 84 Der Armeebefehl anläßlich der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht betonte nach¬ drücklich: ... dem Rufe des Gesetzes folgend ohne Unterschied des Standes ... Den Armeebefehl veröffentlicht Wagner, Geschichte des k. kTKnegsmirilsteriums, Bd. 2 50. 85 Infolge der verfassungsmäßigen Herrscherrechte Seiner Majestät in betreff des Kriegs¬ wesens wird all das, was auf die einheitliche Führung, Befehligung und innere Organisa¬ tion der gesamten Armee, und somit auch des ungarischen Heeres, als eines ergänzenden Teiles der Gesamtarmee, Bezug hat, als der Verfügung Seiner Majestät zustehend aner¬ kannt. 86 Siehe Anm. 83. || || Einleitung XXXIII Mehr oder weniger unabhängig von dieser Aktion der Militärkanzlei be¬ auftragte das Kriegsministerium eine Generalskommission damit, für den Herrscher und das Ministerium den Gesetzesvorschlag auszuarbeiten. Die Generalskommission tagte zwischen dem 29. Januar und Mitte März unter dem Vorsitz Kuhns und mußte Vorschläge zu den Fragen ausarbeiten, wie groß der Stand der Armee sein und welche innere Gliederung sie haben solle (Linientruppen, Reserve, Landwehr, Marine), ob die allgemeine Wehrpflicht gewisse Befreiungen enthalten dürfe, wie viele Jahre die Prä¬ senz- und die Reservedienstzeit betragen sollen, wie das Rekrutenbe¬ willigungsrecht des Reichstages bzw. des Reichsrates zu interpretieren sei, usw.87 Die Kommission war noch mit ihren Beratungen beschäftigt, als Grivi- cic, eine Stütze der Generalskommission, der den Kriegsminister in der un¬ garischen Delegation vertrat, dort scharfe Ausfälle im Interesse der Einheit der Armee unternahm und dabei die ungarischen Rechte beleidigende Aus¬ drücke verwendete, was einen derartigen Skandal in der erstmals in Wien tagenden ungarischen Delegation verursachte, daß Grivicic schleunigst ab¬ berufen werden mußte. Der Zwischenfall hatte aber den positiven Neben¬ effekt, daß Andrässy den Kriegsminister um Informationen über den von den Militärs erstellten Entwurf bitten konnte88 und auch der Herrscher die Zeit gekommen sah, die Generalskonferenzen zu beenden.89 Im wesentlichen auf der Grundlage des Vorschlages der Generalskom¬ mission begann am 18. April in Buda eine Ministerkonferenz (kein ge¬ meinsamer Ministerrat!) unter Vorsitz des Kaisers ihre Arbeit. In ihren acht Sitzungen vom 18.-29. April nahmen die gemeinsamen Minister, der unga¬ rische Ministerpräsident und Landesverteidigungsminister Andrässy, Festetics, der Minister am Ah. Hoflager, und bei einigen Gelegenheiten auch der österreichische Ministerpräsident und Landesverteidigungs¬ minister teil.90 Zusammenfassend kann man sagen, ohne die sachlichen Fragen der Wehrgesetzdebatte zu berühren, daß das Wehrgesetz in folgenden Schritten geschaffen wurde: 1. November - Dezember 1867: Becks Denkschrift und seine Gespräche mit Andrässy; 2. 29. Januar-März 1868 Generals¬ konferenzen; 3. 18.-29. April 1868: Ministerkonferenz in Buda. 87 Fragepunkte für die Kommission über Heeres-Organisation v. 23. 12. 1867 KA., MKSM. 85-5/1/1867. 88 Andrässy an Kuhn v. 9. 4. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/1868; Wertheimer, Graf Julius Andrässy, Bd. 1 347-351. 89 Beust an Kuhn v. 10. 4. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/1868. 90 Konferenz-Protokolle über das Wehrgesetz KA., MKSM. Sep.Fasc. 29/a. In erster Linie die aufdie Honved bezüglichen Teile der Verhandlungsserie behandelt Papp, Die könig¬ lich ungarische Landwehr (Honväd) 1868 bis 1914 640-643. || || XXXIV Einleitung 1. Im Dezember 1867 - also in der ersten Phase - trat der ungarische Honvedminister mit der Forderung auf und konnte diese in Vorverhand¬ lungen auch durchsetzen, daß im Tausch für die Annahme der allgemeinen Wehrpflicht in Ungarn eine „reine Nationalgarde" unter dem Befehl des Honvedministers aufgestellt werden solle.91 Über die tatsächlichen mili¬ tärischen Aufgaben hinaus solle diese Streitmacht auch gegen innere Bewe¬ gungen eingesetzt werden. Unbestimmt blieb, wer für die Nationalgarde rekrutiert werde (Andrässy schien die ausgediente Mannschaft ab dem 30. Lebensjahr akzeptiert zu haben). Beck meldete seinem kaiserlichen Herrn, daß seine Vereinbarung mit Andrässy als Grundkonzeption eines Wehrgesetzes betrachtet werden kön¬ ne. Und er fügte hinzu, wenn man die Stimmung in Ungarn, die Agitation, die die extreme Linke zur Aufteilung der „Hauptarmee" und dafür führe, daß eine ungarische Nationalarmee mit ungarischer Fahne und Kommando¬ sprache geschaffen werde, mit Aufmerksamkeit verfolge, könne Andrässys Mut gar nicht hoch genug geschätzt werden: er riskiere seine Popularität und Ministerstellung damit, daß er mit solch einem maßvollen Programm vor das Abgeordnetenhaus trete.92 2. Die Generalskonferenz - die zweite Etappe - beschäftigte sich mit sämtlichen Belangen des Wehrgesetzes, also nicht nur mit den Fragen der Landwehr. Sie war ein ausgesprochenes Fachgremium und begründete ih¬ ren Standpunkt mit fachlichen Gesichtspunkten. Dem Honvedminister ge¬ dachte sie minimale Befugnisse zu geben, im wesentlichen die Aufgaben der Verpflegung und Dislokation, so daß letztlich die Honved unter der Oberhoheit des Kriegsministers stehen würde.93 3. Die Budaer Ministerkonferenz (welche die dritte Phase der Vorbe¬ reitung darstellte) diente der gemeinsamen Regierung dazu, die Landes¬ minister für den ausgearbeiteten Gesetzesvorschlag zu gewinnen. Welche Rolle spielte nach all dem der gemeinsame Ministerrat bei der Schaffung des Wehrgesetzes? 1868 behandelte der gemeinsame Ministerrat die Sache des Wehrgesetzes in sechs Sitzungen.94 Im Januar 1868 beschloß Die Ernennung Andrässys zum Honvedminister im Februar 1867 bedeutete nicht, daß der Herrscher im vorhinein die Aufstellung der Honved akzeptiert hatte. Es ging allein darum, daß die Zusammensetzung der verantwortlichen Regierung gemäß GA. III/1848 festgelegt wurde. Das Honvedministerium wurde 1867 aus zwei mit Militäran¬ gelegenheiten befaßten Abteilungen der Statthalterei mit unverändertem Personal¬ bestand und Aufgabenbereich geschaffen. Berkö, A magyar kirälyi honvedseg törtenete 39. Zur Lösung der ungarischen Militärfrage s. Anm. 83. Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 43 ff. 94 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3; GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8; GMR. v. 9. 2. 1868, RMRZ. 12; GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 8. 3. 1868, RMRZ. 16; MR. v. 18. 6. 1868. || || Einleitung XXXV ein gemeinsamer Ministerrat die Einberufung der Generalskonferenz. Zwar hatte Andrässy Bedenken dagegen, daß die Generale eine offizielle Kom¬ mission bildeten, die einen regelrechten Gesetzesvorschlag ausarbeitete; er hätte der Generalskonferenz lieber einen „Enquete"-Charakter verliehen, eine Konsultativfunktion, weil ein in Wien von Generalen formulierter Gesetzesvorschlag in Budapest nur Mißfallen erregen konnte. Diese Argu¬ mente hatten ebensowenig Wirkung wie seine prinzipiellen Erwägungen: Er wollte hinsichtlich der Honved keine weitgehenden Forderungen erheben, doch „sei der Nationalität Rechnung zu tragen, und auch in der Armee kön¬ ne jede Spur davon nicht ausgelöscht werden". Beust wies den ungarischen Minister zurück: Gewisse Dinge müsse man als Konsequenz des Dualismus akzeptieren, die Anerkennung der Einheit der Armee war die Grundbe¬ dingung des Ausgleichs.95 Im Februar 1868, als folglich die Generalskonferenz bereits arbeitete, wurde ein gemeinsamer Ministerrat abgehalten, in dem man den Entwurf eines Schreibens des Kriegsministers in Sachen der Honved an Andrässy debattierte.96 Dabei war, parallel zur fachlichen Generalsberatung, von der politischen Konzeption die Rede: „Neben der Armee möge nach Verschie¬ denheit der Teile der Monarchie eine Volkswehr platzgreifen." Es solle also nicht speziell den Ungarn ein Zugeständnis gemacht werden, sondern die Armee im Reichsganzen eine traditionsverbundene zweite, nationale Linie bekommen. Hierbei führte Kuhn aus, daß er sich eine 800 000-Mann-Ar- mee (für Linientruppen und Reserve) und eine 200 000-Mann-Landwehr wünsche. Er habe nichts dagegen, wenn - was Andrässy für so wichtig halte - unter dessen Oberhoheit eine gewisse Wehrkraft stehe, doch solle die Honved nicht aus jungen Leuten, sondern aus der Reserve, also aus beson¬ nenen Leuten, gebildet und ihre Verwendung an die Einwilligung des Kriegsministers geknüpft werden. Im März 1868 beriet der gemeinsame Ministerrat zweimal mit dem Ziel, den Standpunkt des Reiches zu formulieren.97 Zur Absprache mit den Landesregierungen über die Landesinteressen kam es nicht im gemein¬ samen Ministerrat, sondern bei einer Ad-hoc-Konferenzserie im April 1868 in Buda. Kuhn traf von Zweifeln erfüllt in der ungarischen Hauptstadt ein. Laut seinem Tagebuch befürchtete er, die Ungarn würden wieder - wie seiner Meinung nach auch 1867 - restlos ihren Willen durchsetzen.98 Aus allen Äußerungen der Minister und des Kaisers klang heraus, daß sich die wich¬ tigsten Punkte des Wehrgesetzes hier in Buda entscheiden würden; es müß- 95 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3. 96 GMR. v. 9. 2. 1868, RMRZ. 12. 97 GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 8. 3. 1868, RMRZ. 16. 98 Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 48 f. || || XXXVI Einleitung ten Vereinbarungen getroffen werden, deren Tragweite nur den 67er Geset¬ zen vergleichbar sei. Nach Ansicht des Herrschers hatte in seinem Reich und dessen Armee niemals starre Zentralisierung geherrscht (wie dies ein¬ zelne fälschlich meinten). „Gewisse historische Rechte" müßten den zeitge¬ mäßen Forderungen entsprechend berücksichtigt werden. „Darüber muß man sich [aber] klar werden, daß es nur eine österreichische Armee geben darf, und diese muß die Hauptsache bleiben, und wenn auch bei Aufrechter¬ haltung dieses Grundsatzes ein großer Teil der Bevölkerung unbefriedigt bleibt." Hier brachten die im übrigen nur gelegentlich erscheinenden öster¬ reichischen Minister, Taaffe und Ministerpräsident Fürst Auersperg, ihre Besorgnisse über die allgemeine Wehrpflicht ohne Loskauf zum Ausdruck. Sie lehnten es ab, das Rekrutenkontingent für zehn Jahre im voraus zu be¬ stimmen, hielten die zehnjährige Wehrpflicht und vor allem die Ausgaben für zu hoch, welche eine solche Armee verursache; und die ganze Land¬ wehrinstitution betrachteten sie als überflüssig. Kaiser und Reichsregierung kämpften jedoch vor allem mit der unga¬ rischen Regierung, bis zu Absprachen in den wesentlichsten Fragen: Der Herrscher willigte in die Aufstellung einer Honved ein, bestehend aus 82 Bataillonen Infanterie und 32 Eskadronen Kavallerie mit ungarischer Kom¬ mandosprache; er akzeptierte, daß die Landwehr die Hälfte des Über¬ schusses des zur Armee abzustellenden Rekrutenkontingentes bekomme. Andererseits wurde die Kompetenz des Honvedministers sehr eng gefaßt, im wesentlichen erhielt er administrative Aufgaben. Militärisch unterstand die Honved einem vom König bezeichneten Feldherr, und was das wesent¬ liche war, sie erhielt keine Artillerie und technische Truppen. Das Wehrge¬ setz erhielt bei dieser Budaer Konferenz (also nicht im gemeinsamen Ministerrat!) seine endgültige Form." Als im Juni nach langer Pause wieder ein Ministerrat stattfand,100 fiel ihm nur die Aufgabe zu, in einigen Teilfragen die Standpunkte der Regie¬ rungen beider Staaten miteinander abzustimmen. Ungewohnterweise nahmen fast die gesamten Regierungen beider Staa¬ ten an dem Gespräch teil.101 Sie verhandelten über zwei Paragraphen: über §12, der vorschrieb, daß die Landwehr aus Infanteriebataillonen und Kavallerieeskadronen bestehen solle. In dieser Formulierung war das Ge- 99 Ebd. 100 MR. v. 18. 6. 1868, MRZ. 72. 101 Formal war die Konferenz ein österreichischer Ministerrat, sie trägt dessen Akten¬ nummer, und das Protokoll unterschrieb der österreichische Ministerpräsident, während dies im Falle eines gemeinsamen Ministerrates der Außenminister tat. Dennoch ist es kaum ein Zufall, daß das Protokoll - aus inhaltlichen Gründen -- zu denen des gemeinsa¬ men Ministerrates kam. HHStA., PA. XL, K. 283. || || Einleitung XXXVII setz zwar unmißverständlich, doch wünschte die cisleithanische Regierung, daß es expressis verbis „nur aus Infanterie und Kavallerie" bestehen solle, was Andrässy - mit Rücksicht auf das ungarische Parlament - vermeiden wollte. Der andere umstrittene Paragraph (§ 49) bezog sich auf die Kompe¬ tenz des Landesverteidigungsministers und besagte, daß die Landwehr in militärischer Hinsicht auch in Friedenszeiten dem Landwehrkomman¬ danten unterstehe. In ihrer in unangenehmem Ton gehaltenen Polemik be¬ schuldigten die österreichischen Minister ihre ungarischen Kollegen, sie hätten die Einheit der Armee gefährdet, sie wollten, indem sie das Wehr¬ gesetz in ihrem eigenen Parlament durchsetzen, die Österreicher in eine Zwangslage bringen, vor ein fait accompli stellen und der Möglichkeit be¬ rauben, auf die Gestaltung der Dinge Einfluß zu nehmen.102 Die Klagen waren nicht neu. Aus demselben Minderwertigkeitsgefühl resultierende Anklagen hatten auch die 67er Verhandlungen durchzogen.103 Und wie da¬ mals konnte Andrässy auch diesmal die Vorwürfe erwidern: Ein großer Teil der Deutschösterreicher seien deutsche Nationalisten und liebäugelten mit Deutschland. Die Streitparteien beschuldigten sich gegenseitig zweier Hauptsünden oder eher der einen, daß sie dem Reich nicht restlos treue Untertanen seien. Schließlich gelang es dem Grafen Andrässy aufgrund des Druckes der ungarischen Opposition, in den Gesetzestext einzufügen, daß die Honved „vorerst" aus Kavallerie und Infanterie bestehe, doch vermochte er § 49 nicht zu ändern.104 Um nun die Genese des Wehrgesetzes kurz zusammenzufassen: In einem regelrechten gemeinsamen Ministerrat einigten sich die gemeinsamen Mi¬ nister untereinander über die prinzipiellen Fragen, sie haben nicht disku¬ tiert, sondern Grundprinzipien fixiert; im Juni 1868 diente eine gemeinsa¬ me Ministerberatung, aber kein gemeinsamer Ministerrat der Vereinbarung mit den beiderseitigen Regierungen. Die fachliche Vorbereitung des Wehr¬ gesetzes geschah in der Generalskonferenz und die politische in der Budaer Ministerkonferenz - von ihrer Zusammensetzung her hätte letztere eben- 102 Vgl. Reichskriegsminister an Seine Majestät v. 11. 5. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/ 1868. 103 Die Vereinbarungen der Ungarn mit dem Herrscher brachten die cisleithanischen Abge¬ ordneten „in eine Zwangslage", stellten sie vor ein „fait accompli" - das war die häufig¬ ste Beschwerde bei den Ausgleichsverhandlungen im Sommer 1867; sie seien in eine ungute Lage geraten, weil die ungarische Regierung ihren Willen im ungarischen Parla¬ ment durchsetzen könne, während die Stellung der österreichischen Regierung im natio¬ nal und politisch viel stärker divergierenden österreichischen Parlament ungewiß sei. Somogyi, Vom Zentralismus zum Dualismus 94-97. 104 Die Honv6d ... ist in Friedenzeiten in Verwaltungshinsicht dem Honv6dminister, aber in militärischen Angelegenheiten dem Oberkommandanten der Honved untergeordnet. || || XXXVIII Einleitung falls ein gemeinsamer Ministerrat sein können, war es aber dennoch nicht. Diese Genese des Gesetzes kann in Kenntnis der Praxis späterer Jahre ty¬ pisch genannt werden und symptomatisch auch hinsichtlich ihres politi¬ schen Inhaltes. Die Regierungen mußten nationale Errungenschaften vor¬ weisen. Eine solche ungarische Errungenschaft war das Wörtchen „vorerst" im Wehrgesetz, und eine österreichische war, daß die Landwehr letztlich doch eine zweitrangige Formation blieb (zumindest bis ans Ende des Jahr¬ hunderts). Und bezeichnend ist der Kompromißcharakter des Gesetzes, den Kuhn so formulierte: „Die Landwehr beider Reichshälften müsse einen na¬ tionalen Anstrich bekommen, die Hauptarmee jedoch einheitlich sein."105 b) Strafverfahren bei den Militärgerichten Der bürgerliche Konstitutionalismus verlangte, daß über die Staatsbürger aufgrund von Verfassungsgesetzen geurteilt werde. Das Justizportefeuille wurde in beiden Staaten von liberalen Politikern verwaltet, Eduard Herbst und Boldizsär Horvät hielten es beide für wichtig, daß die Verfassungs¬ prinzipien in allen Bereichen zur Geltung kämen. In der Militärstrafjustiz war aber ein kaiserliches Patent aus absolutistischer Zeit in Kraft, nach dem die Militärgerichtsbarkeit sich nicht nur auf Strafsachen erstreckte, sondern auch auf alle Zivilsachen der Militärpersonen und auf allerlei mit dem Hee¬ re in Verbindung stehende Personen, die nicht Militärpersonen waren.106 Nach dem 1866er Krieg, als die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Ar¬ mee völlig offensichtlich geworden war, erarbeitete Kriegsminster John die Grundzüge einer Militärstrafprozeßordnung. Johns Grundprinzipien akzep¬ tierte der Kaiser zwar, aber infolge der Einführung der allgemeinen Wehr¬ pflicht und der völligen staatsrechtlich-konstitutionellen Umgestaltung der Monarchie von 1867 wurde eine grundsätzliche Reform des Militärjustiz¬ wesens erforderlich.107 Inhaltlich sprachen die 1867er Gesetze von der Militärgerichtsbarkeit nicht. Zwar hieß es in GA. XII/1867 § 14: „Über alle jene ungarischen bürgerlichen Verhältnisse, Rechte und Verpflichtungen der einzelnen Mitglieder des ungarischen Kriegsheeres, welche sich nicht auf den Militärdienst beziehen, wird die ungarische Legislative bzw. die ungarische Regierung verfugen." Für diesen Paragraphen (wie nicht selten in den sog. Ausgleichsgesetzen) gab es im österreichischen Gesetzestext 105 Kuhns Aufzeichnung zitiert Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 47. 106 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 699-701. 107 Wagner, Die k. u. k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 539-541; Malf£r, Die Abschaffung der Prügelstrafe in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der Militärgrenze 229 ff. || || Einleitung XXXIX keine Entsprechung.108 In den österreichischen Staatsgrundgesetzen ist nur an einer Stelle von der Militärgerichtsbarkeit die Rede: Dort wird aber nur gesagt, daß die Feststellung der Zuständigkeit der Militärgerichte besonde¬ ren Gesetzen Vorbehalten ist.109 Das 1868er Wehrgesetz fiihrt gewisse zeit¬ gemäße Reformen ein: so die Aufhebung der körperlichen Züchtigung und der Kettenstrafe, sowie daß auch die aktiven Militärpersonen in ihren bür¬ gerlichen Verhältnissen den zivilen Gesetzen und Behörden unterstehen. Doch verlangt die Durchsetzung letzterer Bestimmung ein gesondertes Ge¬ setz. Ende 1868 tauchte die Frage in beiden Abgeordnetenhäusern auf. Am 29. November legte im ungarischen Abgeordnetenhaus Boldizsär Horvät einen Gesetzesvorschlag über die Befugnis der Militärgerichte vor. Gegen diesen Gesetzesvorschlag wurden aber so viele Bedenken erhoben, daß das Abgeordnetenhaus am 7. Dezember seine Behandlung aussetzte.110 Im österreichischen Abgeordnetenhaus interpellierten am 10. Dezember Skene und Genossen beim Justizminister, wann er beabsichtige, das Militär¬ gerichtsbarkeitsgesetz dem Parlament zu unterbreiten. Am 4. Dezember forderte die Delegation den Kriegsminister auf, „dafür Sorge zu tragen, daß die in Aussicht gestellte zeitgemäße völlige Reform des Militärgerichts¬ wesens mit dem Wehrgesetze zugleich ins Leben trete".111 Da die Militärgerichtsbarkeit auf keinen Fall eine rein innere Angelegen¬ heit beider Staaten war, kam die Frage vor den gemeinsamen Ministerrat. Im Januar 1869 wurde die Militärstrafprozeßordnung in einer Sitzung des gemeinsamen Ministerrates bzw. eher der Reichsregierung verhandelt, zu der auch zwei Mitglieder der cisleithanischen Regierung, Ministerprä¬ sidentenstellvertreter Taaffe und Justizminister Herbst, eingeladen wur¬ den.112 Hier einigte man sich über die Grundprinzipien, nämlich daß die Militärstrafprozeßordnung nur auf verfassungsmäßigem Wege zustande kommen könne, unter Mitwirkung beider Parlamente, und daß die tatsächli¬ chen Militärverbrechen nicht in die Kompetenz der beiderseitigen Ver¬ tretungskörper gehören, sondern vom Kaiser, dem obersten Kriegsherrn, festzulegen sind. Auch beim Verfahren hinsichtlich der gemeinen Verbre¬ chen werde man sich in beiden Reichshälften um einheitliche Prinzipien bemühen. Bis zum Entstehen der neuen Militärstrafgesetzordnung beab¬ sichtige man nur Teilreformen und setze sich nicht zum Ziel, ein umfassen¬ des Gesetz zu erarbeiten; und man werde sich bemühen, mit der ungari¬ schen Regierung zu einer Einigung zu kommen. 108 Vgl. Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 316. 109 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 700; RGBl. Nr. 144/1867. Art. 3. 110 Könyi, Deak Ferenc beszedei, Bd. 6 122-134. 111 Stenographische Sitzungs-Protokolle der Delegation des Reichsrathes 387. 112 GMR. v. 3. 1. 1869, RMRZ. 28. || || XL Einleitung Anderntags fand ein gemeinsamer Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers statt,113 bei dem außer den gemeinsamen Ministem auch die Regierungs¬ chefs beider Staaten erschienen. Der Kaiser, wie üblich bei solchen Fällen, war empfindlich auf seine Rechte bedacht. Er sah den Unterschied des Standpunktes der Militärs und der liberal-konstitutionell eingestellten Mi¬ nister genau: „Die eine betrachte die Regelung des Strafrechtes und Straf¬ prozesses bei der stehenden Armee als einen Ausfluß der Rechte des ober¬ sten Kriegsherrn, welcher hierüber selbständig verordnen könne, und wolle der Legislative nur bezüglich der bürgerlichen Rechtsverhältnisse des Mili¬ tärs eine Ingerenz einräumen, während die andere auch die strafrechtlichen Bestimmungen sowohl in materieller als formeller Beziehung der Mitwir¬ kung der verfassungsmäßigen Vertretungskörper Vorbehalten wissen wol¬ le." Der Herrscher akzeptierte nicht, daß zwischen eigentlichen Militär- und gemeinen Verbrechen ein Unterschied gemacht werden könne. Er war der Auffassung, daß man der Verfassungsmäßigkeit, dem Einfluß beider Parlamente auf die Gestaltung des Militärstrafrechtes in Wirklichkeit des¬ halb nicht mehr Platz einräumen könne, weil dies nicht nur die Rechte des obersten Kriegsherrn, sondern auch die Einheit der Armee gefährde. (Beide Länder werden unterschiedliche Gesetze beschließen, und somit müsse spä¬ ter über die Soldaten des einheitlichen Heeres aufgrund unterschiedlicher Rechtsprinzipien gerichtet werden, was unzulässig sei.) Andrässy schlug im Ministerrat einen ausgesprochen versöhnlichen Ton an. Er betonte, man dürfe aus den 67er Gesetzen keine strengen Folge¬ rungen in dieser Frage ableiten. Ganz nach dem Geschmack des Königs sprach er von Besorgnis über den Unterschied von „Militärdelikten" und „gemeinen" Delikten. Er empfahl kein umfassendes Gesetz, „dies alles sage er aber nur in der Voraussetzung, daß die Meinung über die Notwendigkeit der legislativen Mitwirkung zum Durchbruch gelangen könnte". Beust be¬ tonte in der Debatte die verfassungsmäßigen Bedingungen. Der cisleitha- nische Regierungschef, Ministerpräsidentenstellvertreter Taaffe, machte je¬ doch den Vorschlag, vom Entwurf des Kriegsministers auszugehen. Der Kriegsminister solle mit beiden Justizministem verhandeln, dann mit bei¬ den Regierungen, und schließlich diese mit ihren eigenen Vertretungs- körpem. Sollte wider Erwarten dennoch kein Einvernehmen erzielt werden, dann solle sich gar nichts ändern und die bestehende Lage bleiben, doch müsse die Schaffung eines kurzen, Grundprinzipien festlegenden Gesetzes mit gleichem Inhalt in beiden Staaten angestrebt werden, und er glaube an dessen Erfolg. Die beratenden Minister akzeptierten Taaffes Vorschlag. Aufgrund dieses Ministerratsbeschlusses wurde in Österreich das Gesetz betreffend den Wirkungskreis der Militärgerichte geschaffen,114 welches 113 GMR. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29. 114 Gesetz v. 20. 5. 1869 RGBl. Nr. 78/1869. || || Einleitung XLI verfügte, daß unter die Militärjurisdiktion die aktiven Militärpersonen ge¬ hören, und zwar bei gemeinen und militärischen Straftaten, und im Falle der Reserveoffiziere bei Militärverbrechen.115 Das entsprechende ungarische Gesetz konnte dagegen noch jahrelang nicht verabschiedet werden.116 5. Über die Protokolle anderer Provenienz a) Die Ministerratsprotokolle von 1867 Als vor einem Vierteljahrhundert Horst Brettner-Messler die Protokolle des Ministerrates der Regierung Belcredi herausgab, wies er schon auf das Problem hin, das aus dem Übergangscharakter des Jahres 1867 folgte.117 Am 17. Februar 1867 trat die verantwortliche ungarische Regierung ihr Amt an, zur Ernennung der cisleithanischen Regierung aber kam es erst am Jahresende, nach der Sanktionierung der Gesetze „betreffend die allen Län¬ dern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung". Der gemeinsame Ministerrat hielt seine erste Sitzung am 31. Dezember 1867, der cisleithanische Ministerrat am 1. Janu¬ ar 1868. Juristisch-politisch verhält es sich so, daß in Ungarn der Dualismus im Febnwr_1^6Zin,Kraft trat, in den im Reichsrat vertretenen Königreichen undLandern aber erst nach der parlamentarischen Annahme der Aus¬ gleichsgesetze, im Dezember 1867- Bis dahin übte die österreichische Re- gierung eine Doppelfunktion aus: sie war die Regierung des Reiches und auch Cisleithaniens. Diese Situation verursachte zahlreiche rechtliche und politische ProbTeme; verwiesen sei nur auf Finanzminister Beckes Besorg¬ nisse, daß die Funktion des Reichs- und des cisleithanischen Finanzmini¬ sters kaum vereinbar seien,118 und auf den deutschen liberalen Parteiführer Eduard Herbst, der eben mit Berufung auf seine rechtlich ungeklärte Lage das ihm angebotene Portefeuille im Sommer 1867 zurückweist.119 Aber nicht nur den politischen Akteuren der damaligen Periode, sondern auch der Historikernachwelt bereitet es Probleme, ob die Ministerberatun¬ gen der Periode zwischen Februar und Dezember 1867 als Sitzungen der österreichischen (im Sinne vor Februar 1867), der gemeinsamen odex der cisleithanischeh Regierung zu betrachten sind, d. h. in Verbindung mit den 1,5 Siehe GMRProt. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29. Anm. 8. 116 Vgl. Pap, A katonai büntetö 6s fegyelmi fenyitöjog k6zikönyve; weiter GA. V/1878. 117 Brettner-Messler, Probleme der Edition, ÖMR. VI/2, LXXVI. Vgl. au. Vortrag des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern v. 7. 3. 1867 HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 1021/1867 wegen Regulierung der Stellung des Leiters des Finanzministeriums Freiherr v. Becke. U9 Eduard Herbst an Beust v. 5. 6. 1867 ebd., PA. I, Karton 558. || || XLII Einleitung österreichischen, den gemeinsamen oder den cisleithanischen Ministerrats¬ protokollen publiziert werden sollen.120 Ich bin der Meinung, die Frage kann nicht aufgrund der selbstverständlich bestreitbaren formalen Merkma¬ le, sondern muß entsprechend dem Gegenstand und Inhalt der Ministerrats¬ sitzungen entschieden werden. Die Mehrheit der Sitzungen dieser Periode sind als Nachfolger des österreichischen Ministerrates vor dem Februar 1867 zu betrachten. Es kam aber zu fünf Konferenzen, an denen auch die designierten und dann ernannten Mitglieder der ungarischen Regierung teil- nahmen und die ausgesprochen gemeinsame Angelegenheiten behandelten: die Durchführungsprobleme des Ausgleichswerkes zwischen beiden Reichshälften. Ich meine, daß diese Verhandlungen als Vorläufer der späte- ren gemeinsamen Ministerratssitzungen zu betrachten sind. Vermutlich¬ dachte man auch damals so über sie, denn die Protokolle aus der Periode zwischen Februar und Dezember liegen zum Teil als Abschriften im AVA (diese Abschriften wurden vor der VemicGtimg cler Originale beim Justiz¬ palastbrand 1927 für Josef Redlich angefertigt; die Originale befanden sich offensichtlich in der Reihe der cisleithanischen Ministerratsprotokolle), zum Teil im HHStA., PÄ7XL,' Karton 283 (gemeinsame Ministerrats¬ protokolle). Und gerade die oben erwähnten fünf Protokolle finden sich unter den Akten des gemeinsamen Ministerrates. Aller Wahrscheinlichkeit nach wunJendie Protokolle einst aufgrund inhaltlicher Überlegung im Poli¬ tischen Archiv abgelegt (wie es in Ausnahmefällen auch später mit Proto¬ kollen des österreichischen Ministerrates geschah, z. B. mit diesem vom 20. Oktober 1871),121 und so habe auch ich entschieden, daß ich sie, auch ; wenn sie aktenkundlich Fortsetzungen der österreichischen Ministerrats- ; Protokolle sind und deren Aktennummem weiterführen, dennoch in diesem \ Band als Ministerratsprotokolle „anderer Provenienz" veröffentliche. b) Vor der endgültigen Vereinbarung Der Ministerrat vom 14. Februar 1867 ist als erster quasi gemeinsamer Ministerrat anzusehen. Sein Ziel war, die letztgültige Übereinkunft zu schließen. Bekanntlich bildete die Sache der Armee eines der größten Hindernisse auf dem Weg der Vereinbarung. Als am 20. Dezember 1866 Außenminister Beust in Begleitung von Hofkanzler Mailäth seinen ersten Besuch in Pest machte, um die Ansichten der führenden ungarischen Politiker kennenzu- 120 Vgl. Anm. 117. Brettner-Messler nimmt in dieser Frage keine Stellung. 121 Protokoll des zu Wien am 20. 10. 1871 abgehaltenen Ministerrates HHStA., PA. XL, Karton 286. || || Einleitung XLIII lernen (er verhandelte mit Andrässy, Eötvös und Lönyay und besuchte dann den anerkannten Führer der ungarischen Parlamentsmehrheit, Deäk), äußer¬ te er noch die Überzeugung, daß das Rekrutenbewilligungsrecht des ungari¬ schen Reichstages sowie die Praxis, daß die Heeresergänzung und das Wehrsystem vom Reichstag selbständig geregelt werden, nicht zulässig sei¬ en, weil sie sich nicht mit der Einheit der Armee vertrügen. Die besagten parlamentarischen Rechte bezüglich der Armee waren nun aber die Angel¬ punkte der ungarischen Forderungen. Deäk stellte nachdrücklich fest, daß auf die Bestimmung des Verteidigungssystems keine einzige konstitutio¬ nelle Nation verzichten könne.122 Es verschlimmerte die Lage, daß währenddessen in Wien entscheidende Schritte getan wurden. Am 28. Dezember erschien ein kaiserliches Patent, das über das Heeresergänzungssystem verfugte, allerdings mit der beige¬ fügten Zusage, daß es zur „definitiven Regelung der Heeresergänzung im verfassungsmäßigen Wege" kommen werde. Und es gelang Andrässy nicht zu erreichen, daß das Patent (im Hinblick auf die Übergangsverhältnisse) in Ungarn nicht verkündet werde. Während also noch die Verhandlungen zwi¬ schen der Wiener Regierung und den führenden Politikern des ungarischen Abgeordnetenhauses andauerten, begann eine Pressekampagne gegen die Oktroyierung des Wehrgesetzes, und das Parlament protestierte in einer Adresse, daß „ein so wichtiges, das Interesse und Wohl der Familien so sehr beeinflussendes Gesetz auf absolutem Wege eingeführt werde".123 Am 9. Januar 1867 begannen die inhaltlichen Verhandlungen zwischen der Delegation des ungarischen Parlaments und der Wiener Regierung, und die Auspizien - bezüglich des Wehrgesetzes - waren nicht besonders gün¬ stig. An der Beratung unter Beusts Vorsitz nahmen Staatsminister Belcredi, Hofkanzler Mailäth und Sennyey, bzw. Andrässy, Eötvös und Lonyay teil. Den Ungarn gelang es auf Lonyays Initiative hin zu erreichen - wohl auch deshalb, weil die österreichischen Minister bei weitem nicht in allem einer Meinung waren -, daß als Verhandlungsgrundlage nicht der Vorschlag der Wiener Regierung, sondern des ungarischen Reichstages diene. Damit war es eher möglich, einige Elemente der ungarischen Konzeption zu bewahren, als wenn man von dem österreichischen Entwurf ausgegangen wäre. So blieb im Vorschlag der Ausdruck ungarisches Heer erhalten, den der Regierungsentwurf selbstverständlich nicht verwendete. Wohl erhielt die 122 Von Beusts Fester Verhandlungen vom 20. Dezember 1866 wurden mehrere Aufzeich¬ nungen angefertigt. Die Notizen von Antal Csengery und Bela Orczy sowie Andrässys Brief über die Verhandlung publizierte Könyi, Deäk Ferenc beszädei, Bd. 4 144-156; Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten, Bd. 2 83 ff. Vgl. Somogyi, A birodalmi centralizäciötöl a dualizmusig 173-174. 123 Den Adreßvorschlag des Abgeordnetenhauses veröffentlicht Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 4 185-188. Der Artikel des Pesti Naplö ebd. 183. || || XLIV Einleitung ungarisches Heer ein neues interpretierendes Attribut: „als ergänzender Teil der Gesamtarmee". Die weiteren Veränderungen bezweckten, daß das Recht des Herrschers als obersten Kriegsherrn als Evidenz im Text des Ge¬ setzentwurfs stehen solle: Kommando, Führung und innere Organisation der Armee „fallen nicht unter gemeinsame Maßnahmen" (wie andere ge¬ meinsame Angelegenheiten), sondern werden als „von Seiner Majestät zu bestimmen anerkannt". Dem Herrscher garantiert „sein verfassungsmäßi¬ ges hoheitliches Recht" die absolute Führung der Militärangelegen¬ heiten.124 Auch der modifizierte Entwurf erkannte die Heeresergänzung, die Rekrutenbewilligung und die Festlegung der Dienstzeit (Punkt 12) durch das ungarische Parlament an, aber bei der Festlegung und Umge¬ staltung des Verteidigungssystems bestimmte es die Notwendigkeit ge¬ meinsamer Grundsätze (Punkt 13).125 Die 67er Kommission des ungarischen Parlaments begann am 28. Januar das Elaborat des 15 er Unterausschusses in merito zu beraten und akzeptier¬ te die auf das Militärwesen bezügliche Punktation (11, 12 und 13) ohne wesentliche Veränderungen. Mit der Ermächtigung des Parlamentsaus¬ schusses reisten die nun bereits designierten ungarischen Minister erneut nach Wien. Am 10. Februar 1867 fuhren Andrässy, Eötvös und Lönyay zu¬ sammen mit dem Frühzug, und Wenckheim, Horvät und Miko folgten ih¬ nen am Abend. Man bereitete sich auf die Regierungsbildung vor und reiste in die Reichshauptstadt, um die letzten Hindernisse zu beseitigen. „And¬ rässy war auf der ganzen Reise guter Laune und sprach vertraulich mit uns, Pepi war sorgenvoll und ich gleichmütig."126 Am 11. Februar verhandelt Andrässy zwei Stunden lang mit dem Kaiser. „Am 12. verging fast der gan¬ ze Tag mit der Überprüfung der Punktation, die man uns hinsichtlich der Revision der 1848er Gesetze in die Hand gab. Die schwerste Frage bezog sich auf das Militärwesen. Graf Festetics127 war besonders skrupulös und wollte alles bestimmt ausgedrückt sehen. Andrässy ging bei Beust, beim Kaiser und Mailäth aus und ein, um schließlich zu erfahren, daß am 13. John ihn über Militärangelegenheiten und Becke mich über Finanzan¬ gelegenheiten kontaktieren werde, beide bei Beust."128 „Am 13. Februar verging der ganze Vormittag mit der Verhandlung des Reskriptes, in dem 124 Sarlös, Das Rechtswesen in Ungarn 515-522. 125 Ebd. 126 Menyhert Lönyays Tagebuch, Wien 1867, 10. Februar. Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 4 315. „Pepi" war der Kosename von Baron Jözsef Eötvös. Eötvös wird in der zu bildenden Andrässy-Regierung Ministerfür Kultus und Unterricht, Lönyay Finanzmini¬ ster, Baron Bela Wenckheim Innenminister, Boldizsär Horvät Justiz-, Graf Imre Miko Arbeits- und Verkehrs-, Istvän Gorove Industrie- und Handelsminister. 127 Graf György Festetics wird Minister am Ah. Hoflager in der zu bildenden Regierung. 128 Könyi, Deäk Ferenc beszädei, Bd. 4 315-316. || || Einleitung XLV seine Majestät die Wiederherstellung der gesetzlichen Zustände erklärt und Andrässy zum Ministerpräsidenten ernennt. Im allgemeinen ein langes Konzept, aber etwas daran zu ändern, wäre schwierig gewesen. Wir wünschten die Einfügung einiger Ausdrücke, besonders jener, die die Wiederherstellung der Verfassung nachdrücklicher ausdrücken; des weite¬ ren stellten wir das Prinzip der Indemnität ein. Um 11 Uhr vormittags ging Andrässy zu Beust, um mit General und Kriegsminister John die das Militärwesen betreffenden Angelegenheiten zu besprechen. Ich war zu um 2 Uhr dorthin bestellt; die Besprechung war noch im Gange, als ich dort eintraf. Beust kam heraus und sprach eine Weile mit mir und berührte die Schwierigkeiten, mit denen er bei den Deutschen zu kämpfen habe. Um halb Zwei war die Besprechung mit John zuende; ich sprach bis dahin mit Becke. Ein tatsächlich intelligenter Mann; vieles, wor¬ über in der Konferenz ausführlicher hätte geredet werden müssen, erledig¬ ten schon wir gemeinsam. Seine auf den Übergang bezüglichen Besorgnisse zerstreute ich. An der Beratung unter Beusts Vorsitz nahmen teil: Andrässy und ich von ungarischer Seite, Beust und Becke von deutscher Seite. Becke las eine Punktation vor, die sofort damit begann, daß der un¬ garische Finanzminister seine Tätigkeit nicht beginnen könne, solange die Steuern vom Reichstag nicht votiert sind. Darauf äußerte ich mit Nach¬ druck, daß ich unter dieser Bedingung das Portefeuille nicht übernehmen könne, aber kaum glaube, daß es ein anderer übernähme. Ich gab aber mei¬ ner Hoffnung und Überzeugung Ausdruck, daß das Parlament in kurzer Zeit, wahrscheinlich binnen 14 Tagen von der Ernennung des Ministeriums an gerechnet, die Steuern bewilligen werde, bis dahin werde die Erledigung der schwebenden Dinge und die Trennung der Angelegenheiten ohnehin kaum beendet werden können; man wird das gleiche Ziel also auch so errei¬ chen. Auch wenn sich jemand unter der gestellten Bedingung entschlösse, das Portefeuille zu übernehmen, würde er Schwierigkeiten mit dem Haus bekommen, weil es dies als Pression verstehen würde. Beust ging darauf ein, und die Vorlage ist demgemäß zu modifizieren."129 „Beust ging ein und aus, beriet mit dem einen und anderen deutschen Reichsrat. Wir haben bei Mailäth gegessen, und bis zum späten Abend, bis Mitternacht dauerte es, bis wir das Reskript durchbehandelt hatten."130 „Morgens kam die Benachrichtigung, daß heute, also am 14., die beiden Ministerien nur über die Gegenstände von gemeinsamem Interesse, wie Mi¬ litärwesen, Finanzwesen, die Restitution131 verhandeln werden, und über das Reskript betreffend Andrässys Ernennung. 129 Ebd. 316-317. 130 Ebd. 317-318. 131 Die Restitution bedeutet die Wiederherstellung der 1848er Gesetze, die von ungarischer Seite die Grundvoraussetzung der Vereinbarung war. || || XLVI Einleitung Wir waren alle acht zu halb zwei Uhr in die Burg bestellt, und zwar mußen wir die Treppe gegenüber dem Burgtortheater hinaufsteigen, die so¬ genannte Batthyäny-Treppe. Über die Flure im ersten Stock öffnet sich eine Tür in ein kleines, niedriges, sehr einfach möbliertes Vorzimmer, wo sich einige Diener aufhielten; von dort geht es in ein schon größeres und etwas schmuckreicheres Zimmer, wo sich der diensttuende Adjutant aufhält. An diesem Tag war ein dicker Artilleriemajor im Dienst. Von dort öffnet sich ein mittelgroßer Warteraum, an den Wänden viele Aquarelle, schöne Ge¬ mälde von Rubens, Rembrandt, Tizian usw., in der Mitte des Teppichs ein zweiköpfiger Adler. Zuerst empfing uns Seine Majestät einzeln. Als ich bei ihm eintrat, be¬ gann er: »Es freut mich, Sie wiederzusehen, und ich danke Ihnen, daß Sie das schwierige Amt eines Finanzministers angenommen haben.« Daraufhin sagte ich, daß ich dies zu tun als Pflicht betrachte, auch wenn ich die Schwierigkeiten der Stellung sehe, die so groß sind, daß sie zu überwinden nur in dem Fall gelingen kann, wenn ich mit dem Vertrauen und der Unter¬ stützung Seiner Majestät rechnen kann und wenn der Finanzminister in Wien jemand ist, der den Ausgleich auf Grundlage der Billigkeit mit ebenso viel gutem Willen vorantreiben wird wie ich. Danach ging es noch um die beantragte Ausgleichsvorlage der 67er Kommission. Um zwei Uhr begann die Beratung, Seine Majestät trat ein und stellte sich an den Lehnstuhl an der Spitze des Tisches; einzeln kamen die deut¬ schen Minister herein, danach wir; sie nahmen ihren Stuhl am üblichen Platz oben, wir den unseren unten. Beust saß rechts und Mailäth links neben dem Kaiser. Rechts neben Beust saß Korners, der in der Bach-Zeit recht lange in Pest als Obergerichtspräsident gewohnt hat. Neben ihm Becke, ne¬ ben diesem Andrässy, ich, Eötvös und Gorove, von links neben Mailäth John, Wüllerstorf, Festetics, Wenckheim, Miko, Horvät und dem Kaiser gegenüber Hofrat Meyer, der fleißig schrieb und mit großer Aufmerksam¬ keit das Protokoll führte."132 Von wenigen Beratungen können wir uns ein so plastisches Bild machen. Dabei haben hier auch die Äußerlichkeiten Aussagekraft und Bedeutung, und dieser Ministerrat ist nicht nur hinsichtlich seines Gegenstandes, son¬ dern auch seiner Funktion als Vorläufer der späteren gemeinsamen Mi¬ nisterratssitzungen zu betrachten: Wir haben gesehen, daß ihm eine lange Verhandlungsserie vorausging, wie auch den späteren Kronräten. Und der Ministerrat ist nicht nur der Anlaß der endgültigen Vereinbarung, sondern auch das Forum - die Rechts- und Berufungsbasis - der feierlichen Dekla¬ ration der Standpunkte, ebenso wie auch die späteren gemeinsamen Mi¬ nisterratssitzungen. 132 Könyi, Deak Ferenc besz6dei, Bd. 4 318-319. || || Einleitung XLVII Im wesentlichen bestand die Beratung daraus, daß Kriegsminister John die die Armee betreffende Punktation vorlas und Andrässy „als der von Sei¬ ner Majestät bestimmte Präsident des künftigen ungarischen Ministeriums" namens aller seiner Kollegen in der Mehrzahl der Fälle sein Einverständnis im Einklang mit den früheren Vereinbarungen erklärte. Die ganze Beratung diente augenscheinlich dazu, daß die vereinbarenden Parteien noch einmal ihre Standpunkte formulieren und fixieren. In einigen prinzipiell-staats¬ rechtlichen Fragen zeigten sich aber sogar jetzt noch, in der Beratung un¬ mittelbar vor der Ernennung der ungarischen Regierung, wesentliche An¬ sichtsunterschiede. Bekanntlich behält GA. III/1848 § 8 „die Ernennung in militärische Äm¬ ter" dem Kaiser vor (reservata), allerdings bei Gegenzeichnung des Mini¬ sters am Ah. Hoflager. Das 1848er Gesetz gibt dem Minister, der im dualistischen System minimalen Einfluß haben sollte, eine weitgehende Kompetenz. 1848 ist dieser Minister „in allen Verhältnissen, die das Vater¬ land und die Erbländer gemeinsam interessieren", der verantwortliche Ver¬ treter Ungarns. Andrässy nahm 1867 zur Kenntnis, daß der Minister am Ah. Hoflager unter den neuen Verhältnissen eine derartige Funktion nicht haben werde, aber er wollte provisorisch und prinzipiell im Interesse der Legalität und Rechtskontinuität das Recht der ungarischen Regierung zur Gegenzeichnung der Offiziersemennungen aufrechterhalten. Freiherr von John aber „sprach sich entschieden gegen das Recht der Kontrasignatur bei Offiziersernennungen aus". Denn eine Kontrasignatur durch das ungari¬ sche Ministerium wäre eine Beschränkung der Machtvollkommenheit des Herrschers als oberster Befehlshaber der Armee und würde die Einheit der Armee gefährden. Der Herrscher - da dieser heikle Gegenstand in dem Elaborat der 67er Kommission nicht erwähnt war - gab den Rat, die Sache stillschweigend zu übergehen. Im ungarischen Ministerrat am nächsten Tag, in der ersten Sitzung der neuen ungarischen Regierung,133 wiederholt Andrässy, daß vorläufig, bis zu ihrer Modifizierung, die 1848er Gesetze in Kraft seien, man also auf der Gegenzeichnung der Regierung bestehen müsse, aber dazu käme es nur dort, „wo eine Mitwirkung der Zivilbehörde notwendig sei. Hofkanzler v. Mailäth erachtete aber, daß die in dieser Gesetzbestimmung enthaltene Idee jedenfalls klargestellt oder eigentlich aufgrund des 67er Kommissions- operates ganz abrogiert werden müsse". Der Kaiser unterstützt selbst¬ verständlich Mailäths Standpunkt. Während die Gegenzeichnung der Offiziersemennungen auf jeden Fall nur Übergangs- und prinzipielle Bedeutung gehabt und die Bewahrung der Rechtskontinuität bis zur Annahme der Ausgleichsgesetze demonstriert 133 Ung. MR. v. 15. 2. 1867, OL., K-27, Nr. 1/1867. || || XLVIII Einleitung hätte, verhielt es sich mit dem Ausdruck „ungarisches Heer", der im Vor¬ schlag der 67er Kommission stand und sich auf die Zukunft bezog, anders. Der Kaiser und auch John erklärten, daß „der Armee gegenüber von einem ungarischen Heer nicht gesprochen werden dürfe". Andrässy erkannte zwar an, daß ein ungarisches Heer nicht existierte und sie eben deshalb im 67er Elaborat den Ausdruck „als ergänzender Teil der Gesamtarmee" benutzten. Auf diesem Ausdruck (nämlich „ungarisches Heer"), der am Jahrhundert¬ ende dann zu so vielen staatsrechtlichen Streitigkeiten führen sollte, be¬ stand die ungarische Regierung und konnte durchsetzen, daß er auch in die §§ 11, 12 und 14 des GA. XII/1867 hineinkam. Ein gesondertes Diskussionsthema war die Ernennung eines eigenen un¬ garischen Landesverteidigungsministers, den die Ungarn nicht nur aus Gründen der Rechtskontinuität - daß nämlich auch GA. III/1848 unter den Mitgliedern der verantwortlichen Regierung den Honvedminister er¬ wähnt -, sondern auch aus praktischer Notwendigkeit verlangten und sag¬ ten, das neue Wehrgesetz werde dann die Aufgaben des Honvedministers genau festlegen und garantieren, daß die Existenz und Tätigkeit des Hon¬ vedministers die Einheit der Armee nicht gefährde.134 Es mag nicht uninteressant sein, hier Lonyays Tagebuchnotiz über die Militärdebatte einzufügen, die er noch am selben Tag, am 14. Februar, zu Papier brachte: „John verlas seine Punkte, überall dort seiner Stimme Nach¬ druck verleihend, wo von den Rechten Seiner Majestät als Kriegsherrn die Rede war. Auf jeden einzelnen Punkt antwortete Andrässy. Der Kern der Sache war, daß die aktive Armee, die Festungen, das Kriegsmaterial usw. direkt dem Kriegsministerium unterstehen; daß in Zukunft aufgrund des Wehrsystems die Reserven dem Landesverteidigungsminister unterstehen werden, was als großer Gewinn zu nehmen ist. Die Zahl der in diesem Jahr zu stellenden Rekruten beträgt für Ungarn 40 000 und für Siebenbürgen 8000. Wenn es irgend geht, erbitte ich von Andrässy Johns Punkte und füge sie hier ein. Die Debatte mit John dauerte recht lange. Bei zwei Gelegenhei¬ ten wurde John rot, als Andrässy sagte: Sie scheinen es nicht zu verstehen, mein Herr, Sie wissen es nicht; der Ton war auch so, wie man es in solchen Beratungen eigentlich nicht gewohnt ist. Danach referierte Becke. Er schickte voraus, ich hätte in der Bespre¬ chung mit mir mit Bestimmtheit geäußert, daß wenn Ungarn das Finanz¬ wesen erst dann übergeben werde, nachdem die ungarische Gesetzgebung die derzeitigen Steuern bereits votiert habe, dies das ungarische Abgeord¬ netenhaus als Pression betrachte und niemand von uns das Portefeuille übernehmen werde, aufgrund wessen er gezwungen gewesen sei, die ur¬ sprüngliche Konstruktion zu verändern. Daraus geht hervor, daß die Kon- 134 Über die Ministerratsdebatte: Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, Bd. 2 568-569. || || Einleitung XLIX struktion, die er mir gestern mitteilte, eine Verabredung des Ministerrates war. Er hielt an jedem Punkt inne, und ich rektifizierte und erklärte den Sinn, den wir dem Text zu geben wünschen; wie unsere Freunde sagen, habe ich korrekt und immerfort gut auf die einzelnen Punkte geantwortet. Auch der Kaiser selbst hat mehrfach zu den Fragen das Wort ergriffen, und zwar im¬ mer sehr gründlich. Mich überraschte die schöne Art, in der er den Vorsitz führte, seine Ruhe und der gründliche Sachverstand, den er bezeugte."135 Handelsminister Wüllerstorf war gezwungen einzugestehen, daß es „bei Regelung der Durchführungsmaßregel in betreff des Handels und Verkehrs" noch nicht gelungen sei, sich mit dem ungarischen Kollegen zu verein¬ baren. Lonyay erinnert sich daran so: „Danach sprach Wüllerstorf, der ein Gentleman mit angenehmem Äußeren ist, über die Handelsangelegenheiten als solchen, zu denen eine gewisse Vereinbarung nötig sei; doch konnte er nichts positiv formulieren, so wenig, daß schließlich ich mich zu Wort mel¬ dete und die Notwendigkeit dessen erörterte, daß wir seine Bemerkungen in Punkte gegliedert sehen müssen; bis dahin können wir nichts anderes sagen, als was im Elaborat der 67er Kommission enthalten ist. Dieses Elaborat hatte er, wie es scheint, gar nicht richtig verstanden; er sprach dort von Delegation, wo er Deputation hätte sagen sollen; und von Deputation dort, wo von den Besprechungen beider Ministerien die Rede ist. Der Kaiser hat ihm immer richtig den Weg gewiesen." Am Ende der Beratung entwickelte sich noch eine sehr bemerkenswerte Debatte über einen einzigen Satz des an den ungarischen Landtag zu erlas¬ senden Reskriptes. Korners, Wüllerstorf und John hatten Bedenken hin¬ sichtlich der Formulierung „Wiederherstellung der Verfassung". Die Mini¬ ster hätten vorgezogen, wenn im Reskript statt von Wiederherstellung der Verfassung nur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Zustände gesprochen würde. Das Protokoll enthält nur Andrässys gegen die deut¬ schen Minister vorgebrachtes Argument, daß „nur durch eine solche in ei¬ nem königlichen Reskript niedergelegte Erklärung der Herstellung der Verfassung dem Land die volle Beruhigung gewährt werden könne". Nach Lönyay allerdings „hat auch Mailäth hervorgehoben, daß wir hier »Ver¬ fassung« wünschen; Seine Majestät bejahte dies, und so hob er gut den Un¬ terschied zwischen beidem hervor. Da die Zeit so weit vorgeschritten war, daß wir kaum mehr etwas sahen, stellte man zwei wundervolle silberne Kandelaber auf den Tisch. Es war halb sechs, als wir vom Tische auf¬ standen. Jeder sprach sitzend, doch war das Sitzungsgebaren ziemlich steif*.136 135 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 4 319-320. 136 Ebd. Vgl. Reskript an den ungarischen Landtag v. 17. 2. 1867 Beilage Nr. 1b zum MRProt. v. 14. 2. 1867, MRZ. 127. || || L Einleitung c) Wirtschaftliche Ausgleichsverhandlungen Die Niederlage von 1866-67 hatte sich so tief in das österreichische Ge¬ schichtsbewußtsein eingegraben, daß lange Zeit das Bedürfnis nach einem Neudurchdenken und einer Neuinterpretation der Probleme in der Ge¬ schichtsliteratur gar nicht aufkam: 1867 waren die Deutschösterreicher in einer Zwangslage, in der sie zur Kenntnis nehmen mußten, daß sie vor ein fait accompli gestellt worden waren: Der Hof, die Regierung und Beust, der aus der Fremde stammende Minister, hatten sich hinter ihrem Rücken, ohne zu fragen mit den Ungarn geeinigt. In einer früheren Studie habe ich versucht, den eigenartigen Charakter und Inhalt der „Zwangslage" zu beleuchten: Die Deutschösterreicher ver¬ zichteten 1867 zwar auf die parlamentarische Behandlung der dualistischen Umgestaltung und erlebten dies als Niederlage. Aber sie brachten nur dies eine Opfer. Sie gaben nicht ihre frühere Machtstellung auf, nicht ScKmerlings Reichsverfassung wurde durch das System der gemeinsamen Angelegenheiten ausgetauscht - das wäre ihnen gewiß noch schwerer gefal¬ len -, sondern die Unsicherheit der „Sistierung" durch die dualistische Konsolidation. Und dieseFPualismus garantierte ihnen nicht nur eine Ver¬ fassung statt der Sistierung der Verfassung, sondern eine deutsche Zen¬ tralisation (im Gebiet des engeren Österreich) gegenüber dem als im¬ minente, reale Möglichkeit vorhandenen Länder- oder Nationsfödera¬ lismus.137 Deshalb konnte Beust begründet damit rechnen, daß der Reichs¬ rat letztlich seine Einwilligung zu den definitiven Ausgleichsgesetzen ge¬ ben werde. ." Das Definitivum bezog sich auf die pragmatisch gemeinsamen Angele¬ genheiten, auf Außenpolitik und Militär und ihr Behandlungssystem. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern aber, deren Ge¬ meinschaft - wie das Gesetz besagt - „zwar nicht aus der Pragmatischen Sanktion folgt", aber „zweckmäßiger mittels gemeinsamer Vereinbarung erledigt werden können", wurden nicht auf diese Weise geregelt.138 1 Dennoch ist es für die Historiographie eine keinen Beweis benötigende Evidenz, daß 1867 die Ungarn den Deutschösterreichem ihren Willen auf- gezwungen haben. In derTAualysen wird meist übergangen7 daß der Aus- 'glelchTin zwei klar_yoneinander abgrenzbaren Bereichen geschlossen wur¬ de: im Bereich des Staatsrechtes und dem derjlegelung der Wirtschafts¬ beziehungen, und difese Heiden Bereiche des Ausgleiches lassen sich auch in ihrer Genese gut voneinander unterscheiden. Anders als die pragma¬ tischen staatsrechtlichen gemeinsamen Angelegenheiten entstand die Re- 137 Somogyi, Vom Zentralismus zum Dualismus 77-93. 138 GA. XII/1867 § 52. || || Einleitung LI gelung der als paktiert gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten (die „zwar nicht gemeinsam verwaltet, jedoch nach gleichen, von Zeit zu Zeit zu vereinbarenden Grundsätzen behandelt werden") nicht auf ungarisches Diktat hin, hier kam es zu einem langen Feilschen zwischen den beiden Finanzministem, den beiden Regierungen und parallel dazu zwischen den Deputationen beider Parlamente, zu einer gemeinsamen „Kapazitation", und der so zustande gekommene Kompromiß wirkte auch auf die staats¬ rechtliche Vereinbarung zurück. Seltsamerweise äußert sich auch Sutter, der als erster und im Grunde ein¬ ziger die Geschichte des wirtschaftlichen Ausgleiches,.aufgearbeitet hat, nur allgemein über dessen Zustandekommen und schreibt, man habe bei ihm die Österreicher übergangen.139 Bei der staatsrechtlichen Regelung fragte man sie tatsächlich nicht, aber bei den Wirtschaftsverhandlungen war . dies nicht der Fall.140 ^ Im März f8677Tinmitte1bar nach der Ernennung der ungarischen Re¬ gierung, begannen die Verhandlungen zwischen dem ungarischen und dem österreichischen Finanzminister, Lönyay und Becke.141 Eigentlich mußten sie sich über zwei Grundfragen einigen: In welchem Maße beteiligt sich Ungarn an den gemeinsamen Ausgaben und welchen Anteil übernimmt es beim Abtragen der angehäuften schweren Staatsschuldenlasten. Die prin¬ zipielle Grundlage der Fragen war gesetzlich festgelegt: „so muß durch eine wechselseitige Verhandlung im Vorhinein die Proportion bestimmt werden, nach welcher die Länder der ungarischen Krone die Lasten und Kosten der gemäß der pragmatischen Sanktion als gemeinsam anerkannten Angelegen¬ heiten tragen werden". Die Vereinbarung geschieht so, daß die Vertretungs¬ körperschaften beider Parteien eine Deputation mit identischer Mitglieder¬ zahl wählen, die aufgrund der von der Regierung zu ihrer Verfügung ge¬ stellten Angaben einen Vorschlag über die Proportion der Beteiligung an den gemeinsamen Lasten erstellt. Den Vorschlag behandelt das Parlament, teilt dies dann auf dem Wege über die Regierung dem Parlament des ande¬ ren Partners mit, und ihre gemeinsame Vereinbarung wird vom Herrscher sanktioniert. Sollte den beiden Parlamenten eine Einigung nicht gelingen, 139 Sutter, Die Ausgleichsverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn 1867-1918. ",0 Siehe die hier veröffentlichten MRProtokolle. Über die Deputationsverhandlungen siehe Finanzminister Lönyays Tagebuchaufzeichnungen (Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 5). Detaillierter und weniger voreingenommen als dieser Csengery, HAtrahagyott iratai 6s feljegyz6sei. Csengery ist Deäks naher Mitarbeiter und Vertrauter, Berichter¬ statter der ungarischen Deputation, d. h., er verfertigt den Bericht an das ungarische Parlament. Die Verhandlungsakten der österreichischen Deputation im Band: Die Neue Gesetzgebung Österreichs. 141 Becke war praktisch gemeinsamer und cisleithanischer Finanzminister zugleich, wenn seine Stellungjuristisch auch ungeklärt blieb. || || LII Einleitung dann wird diese Frage Seine Majestät aufgrund der unterbreiteten Angaben entscheiden.142 In dieser Hinsicht gab es zwischen beiden Partnern und den Gesetzen beider Staaten keinen grundsätzlichen Unterschied.143 Ganz anders war die Lage bei der Staatsschuld. Die ungarischen Gesetze bestimmten höchst nachdrücklich - und diese prinzipielle Stellungnahme war eine wesentliche Voraussetzung des staatsrechtlichen Ausgleichs daß zur Zeit des Abso¬ lutismus, also ohne parlamentarische Zustimmung aufgenommene Kredite das Land rechtlich nicht belasten. Das bedeutete freilich nicht, daß es nicht „auf Grundlage der Billigkeit, aus politischer Rücksicht" einen Teil der Staatsschuldenlast übernehmen würde, „damit unter jenen schweren La¬ sten, welche das Verfahren des absoluten Systems angehäuft, die Wohlfahrt der übrigen Länder Seiner Majestät und mit diesen auch jene Ungarns nicht zusammenbreche ..."144 Aus dem prinzipiellen Vorbehalt hinsichtlich der Staatsschuld folgte, daß Ungarn den Beitrag für die laufenden gemeinsamen Angelegenheiten und die Staatsschuld voneinander trennte und gesonderte Regelungen wünschte. Die beiden Finanzminister erstatteten über die Ergebnisse ihrer fort¬ laufenden Verhandlungen Ende Juli erstmals Bericht in einem Ministerrat unter Vorsitz des Herrschers. Sie betonten, sich bloß über den den Depu¬ tationen zu unterbreitenden Vorschlag geeinigt zu haben, „in keinem Fall ist zwischen den beiden Finanzministem eine förmliche Einigung über die Sa¬ chen zustande gekommen", und am allerwenigsten handele es sich darum, daß sie „eine Zustimmung der Ministerkonferenz zu einer solchen Eini¬ gung" erbitten würden.145 Bis Ende August waren die ministeriellen Ver¬ handlungen dahin gelangt, daß der Ministerkonferenz eine umfassende Konzeption unterbreitet werden konnte.146 Lonyay schlug - wie schon frü¬ her - eine 28 %ige und Becke eine 30 %ige ungarische Quote vor. Zur Auf¬ teilung der Staatsschuldenlasten arbeiteten die Minister eine grundlegend neue Lösung aus. Da ein Teil der Staatsschuldenlasten nicht von Kriegs¬ ausgaben, also nicht von den Kosten der „gemeinsamen Verteidigung", her¬ rührte, sondern von Ausgaben, die nur die deutsch-slawischen Länder bela¬ steten (Investitionen im Gebiet Cisleithaniens, Verwaltungskosten, von de¬ nen Österreich einen größeren Teil als Ungarn übernehmen mußte, weil diese Ausgaben dort pro Kopf wesentlich höher waren), beantragte zuerst 142 GA. XII/1867 § 18. 143 Dennoch besagt das österreichische Gesetz: Sollte zwischen beiden Vertretungen kein Übereinkommen erzielt werden, so bestimmt der Kaiser dieses Verhältnis, jedoch nur für die Dauer eines Jahres. RGBl. Nr. 146/1867 § 3. -- 144 _GX. XIlTmTj 54-55. ` '-» 145 MR. v. 31. 7. 1867, MRZ. 168. 146 MR. v. 30. 8. 1867, MRZ. 173. || || Einleitung LIII Andrässy - und später machen sich auch die übrigen seine Konzeption zu eigen daß man von der Staatsschuld eine vorher festgelegte fixe Summe abziehen solle, die Österreich allein bezahlen müsse („Andrässy nennt die¬ se Idee Präzipuum, die Deutschen sagen: von vorne weg abstreichen"),147 und nur über die Aufteilung des Restes verhandeln. Der Ministerrat vom 30. August akzeptierte das Prinzip des sogenannten Präzipuums und hörte sich Beckes Berechnungen über die Quote und die Zinslasten der Staats¬ schuld an, faßte aber keinen Beschluß über konkrete Zahlen, das überließ er den Deputationen. Zu der Zeit berieten die Deputationen bereits seit Wochen, zwar in Wien, aber aufgrund des stets eifersüchtig beachteten Prinzips derParität auf un¬ garischem Hoheitsgebiet, im Gebäude der einstigen ungarischen Hof- kanzlei. In dem Bärockpalais in der Bankgässe wirkte damals das Ministe- _ num am Ah. Hoflager. Üas an den Traditionen festhaltende Wiener Volk konnte aber mit dieser Institution nichts anfangen und nannte es der Ein¬ fachheit halber „Hofkanzleiministerium".148 In der ungarischen Deputation wurde die Regierung vom Finanz- und vom Handelsminister vertreten, in der österreichischen von Finanzminister Becke und Innenminister Taaffe. In den gemeinsamen Sitzungen der Deputationen erschienen auch die Mini¬ sterpräsidenten. Am 8. August stellten sich die beiden Deputationen einan¬ der vor, am 10. hielten sie ihre erste gemeinsame Besprechung ab.149 Die Ungarn schlugen - mit langwieriger Begründung - als Basis für die Quoten¬ berechnung den Anteil vor, mit dem die Länder der ungarischen Krone sich zwischen 1860 und 1865 an den von der Zentrale gedeckten staatlichen Ausgaben tatsächlich beteiligt hatten (dies waren 25 % gewesen), erlaubten aber in einer später übermittelten Botschaft auch eine davon abweichende Berechnungsart. Nach Zeugnis von Lönyays Privataufzeichnungen hätte er 28,5 % für gerecht gehalten.150 Daß man nicht die veranlagte, sondern die tatsächlich gezahlte Steuer¬ summe der Quotenberechnung zugrunde legte, wie die Ungarn anfangs ge¬ wünscht hatten, hielt die Reichsratsdeputation für unannehmbar. Es sei ja bekannt, daß Anfang der 1860er Jahre außerordentlich wenig Steuern von Ungarn eingegangen seien. Da die ungarische Deputation die Möglichkeit einer andersartigen Quotenberechnung angeboten hatte, machte die Reichs¬ ratsdeputation Mitte September einen Vermittluhgsvorschlag: Man solle die PL CSENGERY, HATRAHAGYOTT IRATAI £S FELJEGYZfiSEI 138. Könyi, Deäk Ferenc besz6dei, Bd. 5 223-224. Cüe) Die Neue Gesetzgebung Österreichs 719-729. CSENGERY, HATRAHAGYOTT IRATAI £S FEUEGYZfiSEI 95-138, DlE NEUE GESETZGEBUNG 149 Österreichs 721-723. Lönyays Aufzeichnung: MTAK. Ms. 5303/22. Im Ministerrat vom 31. Juli hielt auch Becke die 28 %ige ungarische Quote für akzeptabel: MR. v. 150 31. 7. 1867, MRZ. 168. || || UV Einleitung direkten und indirekten Steuern der Periode 1860-65 berücksichtigen, aber nicht diejenigen indirekten Steuern mitrechnen, die die beiden Partner in sehr verschiedener Weise belasten.151 Demnach hätte sich Ungarn mit 31 % an den gemeinsamen Ausgaben beteiligen müssen. Während sich bei der Beteiligung an den gemeinsamen Lasten Meinungsunterschiede zwischen den beiden Partnern ergaben, stimmten sie von vornherein darin überein, daß die Vereinbarung für zehn Jahre geschlossen werden und eine frühere Modifikation nur im Falle einer Änderung der Gebietsausdehnung erfolgen solle. (Die territoriale Zugehörigkeit der Militärgrenze und Dalmatiens war nämlich noch nicht geklärt.) Weit schwieriger schien eine Vereinbarung der Deputationen in Sachen der Staatsschulden zu sein. Die Reichsratsdeputation würde sich in Sachen des Beitrages zu den laufenden gemeinsamen Kosten und den Staats¬ schulden für „gleichzeitig und vereinbart" entscheiden und hielt „für alle in Frage kommenden Aufgaben nur ein und dasselbe Beitragsverhältnis" für akzeptabel.152 Die Ungarn trennten aus den obengenannten prinzipiellen Gründen die laufenden Ausgaben von den Staatsschulden und äußerten, zu den letzten nicht mit einer von Zeit zu Zeit wechselnden Quote, sondern „mit einem für allemal zu bestimmenden unveränderlichen Betrage" beitra¬ gen zu wollen.153 Im übrigen kam es im Laufe des Sommers nicht nur zum Austausch von Botschaften, sondern auch zum wiederholten freien Gedankenaustausch der beiden Deputationen.154 Bis Mitte September war die Vereinbarung der Regierungen bezüglich des finanziellen Ausgleichs fertiggestellt, und der Ministerrat behandelte den Text der Note, die die Finanzminister den beiden Deputationen zukom¬ men lassen sollten.155 Die Note beruhte auf der Vöslauer Vereinbarung der beiden Regierungen, also auf folgenden Grundprinzipien: 1. die beiden Reichsteile tragen zu den gemeinsamen Angelegenheiten mit 70 bzw. 30 % bei, 2. zur Bedeckung der jährlichen Erfordernisse der Staatsschuld werden die Reichsratsländer eine Vorbelastung von jährlich 25 Millionen Gulden übernehmen, und 3. der Rest zwischen den beiden Teilen wird im Verhältnis der Quote verteilt werden. 151 Vorschlag vom 14. September: Die Neue Gesetzgebung Österreichs 743-744. 152 Botschaft der Reichsratsdeputation vom 19. August, ebd. 723-727. 153 15. September, ebd. 727 ff. 154 24., 26. August, ebd. 727; 25. September, ebd. 748-751. 155 12. September: Vöslauer Vereinbarung zwischen den beiden Finanzministem FA., Pr./ 1869 (Fase. 7.1/1) Nr. 4145. Nachträglich Unterzeichneten die Vereinbarung auch der ungarische und der cisleithanische Ministerpräsident, Andrässy und Beust. Diese Ver¬ einbarung verhandelte MR. v. 15. 9. 1867, MRZ. 175. || || Einleitung LV Darüber hinaus vereinbarten sich die beiden Finanzminister in Vöslau auch darüber, daß bis zum 1. Mai 1868 beide Vertretungen eine „Vorlage einbringen, deren Zweck die Umwandlung der bisherigen verschiedenen Schuldtitel in eine einheitliche Rentenschuld mit Zugrundelegung des bis¬ herigen Zinsengenusses" sein solle. - Die beiden Regierungen beschließen also die Unifizierung der Staatsschulden, weisen aber die von Lonyay mehrmals und in verschiedenen Foren vorgeschlagene radikale Lösung der Schuldenbehandlung zurück. Lonyay war nämlich der Meinung, daß das Gleichgewicht im Staats¬ haushalt nur durch Zinsenreduktion zu erreichen sei. Anfangs sympa¬ thisierte Becke mit Lönyays Überlegungen, führte auch Berechnungen über die zu erwartenden Wirkungen einer Zinsenreduzierung durch, schrak aber vermutlich vor den wahrscheinlichen Folgen zurück und formulierte im August bereits ein großes Memorandum „Zinsenreduktion oder Wort¬ halten", dessen Kern war, daß die Zinsenreduzierung gleichbedeutend mit der Ankündigung des Staatsbankrotts sei und nichts das Reich zwinge, sich zu einem solchen Schritt zu entschließen.156 Die Vöslauer Vereinbarung vom 12. September war ein Kompromiß, nicht nur zwischen zwei Finanzkonzeptionen (d. h. in der Hinsicht, was man mit den gewaltigen Staatsschulden machen solle), sondern auch ein politischer Kompromiß. Die Minister einigten sich auf das Quotenver¬ hältnis, auf ein Präzipuum von 25 Millionen, im Tausch dafür, daß die Ungarn 30 % der Schuldenzinslasten übernehmen und vor allem, daß die Vereinbarungen ein geschlossenes Ganzes bilden und in der Art untrennbar sind, daß die Zurückweisung eines Punktes durch die eine oder andere Par¬ tei das ganze Übereinkommen fällig machen würde. In der ungarischen Deputation stieß die Vöslauer Vereinbarung aber auf derart großen Widerstand, daß Lonyay dort in der Deputationssitzung zu versprechen gezwungen war, die Vereinbarung zu modifizieren: den von den Staatsschulden zu übernehmenden Teil dem Wunsch der Deputation ge¬ mäß in einer fixen Summe festzulegen. 156 Die Regierung widersetzt sich auf das Entschiedenste jeder Idee eines offenen oder ver¬ schleppt auftretenden Staatsbankrottes. Ordnung in den Finanzen mit gewissenhafter Erfüllung der Staatsverbindlichkeiten ist ihre Devise. Becke an Beust v. 3. 8. 1867 HHStA., PA. XL, Karton 126. Rogge meint, Beckes einzige Ambition sei gewesen, sich der Intention des Hofes entsprechend mit den Ungarn zu einigen. Rogge, Österreich von Vilägos bis zur Gegenwart, Bd. 3 42 ff. - dies war offensichtlich die allgemeine Ansicht der deutschen liberalen Presse. Auch Beust erinnert sich in seiner Denkschrift vom 31. August daran, wie viele Angriffe gegen Becke erfolgt seien. Denkschrift v. Beust v. 31. 8. 1867 HHStA., Kab.Archiv, Geheimakten Karton 17. || || LVI Einleitung Es läßt sich darüber streiten, ob der Beitrag mit einer fixen Summe zu den Schuldenlasten für Ungarn finanziell günstiger war.157 Nur ging es hier nicht um Geldsummen, die Ungarn bestanden nicht auf finanziellen Vortei¬ len, sondern auf dem Prinzip, einem der Grundprinzipien des Ausgleichs, daß sie nur aus Billigkeit, freiwillig einen Teil der Schuldenlasten überneh¬ men, den sie dann nach ihren eigenen Überlegungen tilgen. Man wollte so die möglichst vollständige Absonderung des ungarischen Staatshaushaltes, die Schaffung des Dualismus im Bereich der Finanzverwaltung, ermögli¬ chen. Man könnte auch sagen, daß in der Diskussion über die Aufteilung der Staatsschuldenlasten die unterschiedliche Dualismus-Interpretation der beiden Partner zum Ausdruck kam: Die Reichsratsdeputation verhandelte Reichsangelegenheiten, zu denen die laufenden gemeinsamen Ausgaben und die Staatsschulden gleicherweise gehörten, die ungarische Deputation die gemeinsamen Angelegenheiten der beiden Staaten und bemühte sich, den Kreis dieser Angelegenheiten möglichst eng zu halten. So geschah es also, daß die bereits geschlossene und sogar dem Herr¬ scher unterbreitete Vereinbarung unter dem Druck der Deputationen von den Ministern erneut verhandelt und dann entsprechend der ungarischen Forderung modifiziert wurde.158 Der die Ausgleichsdebatten abschließende Abschnitt fand in den Parla¬ menten statt. Dort wiesen die Experten des Reichsrates - „unsere Finanz- 157 Deshalb diskutierte man um diesen Punkt: Vom Jahre 1868 angefangen leisten die Län¬ der der ungarischen Krone zur Bedeckung der Zinsen für die bisherige allgemeine Staatsschuld einen dauernden, einer weiteren Änderung nicht unterliegenden Jahres¬ beitrag von 29 105 000 Gulden. Diese Klausel wurde deshalb in die Vereinbarung auf¬ genommen, daß Ungarn deklarierte, keine Solidarität in Sachen der Staatsschulden zu üben, aber sie konntefür Ungarn infolge einer eventuellen Zinsenverringerung nachtei¬ lig werden. Darauf machte mich György Köver aufmerksam {vgl. Köv£r, A londoni tözsde 6s Ausztria-Magyarorszäg hitele 1868-1871). Mit dieser Möglichkeit rechnete man übrigens auch damals mehr oder weniger, dennoch wurde die Klausel verlangt. Vgl. Csengery, HAtrahagyott iratai £s feuegyz£sei passim. Der Finanzausschußbe¬ richt des Reichsrates besagte: Nach dem Übereinkommen wird der jährliche Beitrag Ungarns zu den Zinsen der Staatsschuld um 7,5 Millionen Gulden geringer sein, als er sein müßte, wenn die Zinsenlast in dem gleichen Verhältnisse wie die Auslagen für die gemeinsamen Angelegenheiten geteilt würde. Redlich, Bd. 2 667. 158 Vereinbarung bezüglich der Staatsschuld v. 23. 9. 1867 FA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8) Nr. 4914; Vereinbarung v. 25. 9. 1867 ebd. Nr. 5083. Ausgabe der Vereinbarung vom 25. September: Die Neue Gesetzgebung Österreichs 751-753. Die neue Vereinbarung behandelte auch der Ministerrat: Protokoll des zu Wien am 28. 9. 1867 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitz v. Reust (Anwesend: Taaffe, Lönyay, Becke und Sek¬ tionschef des Finanzministeriums v. Lackenbacher) FA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8) Nr. 4975. Den Ministerratsbeschluß unterbreitete Becke dem Herrscher: au. Vortrag v. Becke v. 28. 9. 1867 ebd. || || Einleitung LVII künstler", wie Becke sie nannte - im letzten Moment nach, daß in den Berechnungen des ungarischen Beitrages zu den Staatsschulden ein Fehler unterlaufen sei. Ungarn müsse in Wirklichkeit nicht 29,1, sondern 29,9 Mil¬ lionen zahlen. Becke wandte sich verzweifelt an Lonyay, in einem offi¬ ziellen, aber in persönlichem Ton gehaltenen Brief, er möge diese Modi¬ fizierung durch das ungarische Parlament bewilligen lassen, andernfalls „kann alles in Frage gestellt werden". „Ich schreibe Ihnen, verehrtester Kollege,... als bester Freund und Förderer des großen Werkes, für das ich in den letzten sechs Monaten mit meinen besten Geisteskräften eingestanden bin."159 Uber die Parlamentsberatungen informierten sich dann die beiden Fi¬ nanzminister täglich,160 und in den Tagen vor Weihnachten konnten sie sich gegenseitig zum Erfolg des großen Werkes gratulieren. Der wirtschaftliche Ausgleich war ein Kompromiß. Beide Finanzmi¬ nister suchten zu einer Einigung zu kommen. Beide waren sich über die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Konsolidierung des Staats¬ haushaltes der zur Verfassungsmäßigkeit übergegangenen dualistischen Monarchie und darüber im klaren, daß sie einverständlich zu einer Verein¬ barung kommen müßten. „Wir haben miteinander gewetteifert, der eine wie der andere, seinen eigenen Standpunkt durchzusetzen, ohne daß wir das wirkliche gemeinsame Interesse der Monarchie aus den Augen verloren hätten."161 Für Becke ergaben sich gewiß auch Konflikte mit den zentra¬ listisch eingestellten österreichischen Bürokraten. Aber er ertrug die Ankla¬ gen gegen seine Politik.162 Und immer wieder machte er sich in den heißen Augusttagen von neuem an die Arbeit, mit seinem ungarischen Kollegen zu einem gemeinsamen Standpunkt zu kommen. Auch auf ungarischer Seite dominierten die konzilianten Töne. „All¬ gemein war die Neigung und Bestrebung groß, sich aufjeden Fall darüber zu vereinbaren, was unmöglich zu verhindern war" - stellt Ghyczy etwas 159 Becke an Lönyay v. 29. 11. 1867 VA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8) Nr. 59\1. Lönyays Ant¬ wort v. 1. 12. 1867 ebd. Nr. 5968, Lönyays erneuter Brief v. 6. 12. 1867 ebd. Nr. 6032: Vermutlich werde es gelingen, die größere Summe durch das ungarische Parlament be¬ willigen zu lassen. 160 Das erbat Lönyay von Becke, Brief v. 6. 12. ebd. ad Nr. 5917. Vgl. die Telegramme des ungarischen Finanzministers nach Wien über die Ausgleichsberatungen des ungari¬ schen Parlaments: Lönyay an Andrässy v. 21. 12. 1867 HHStA., PA. XL, Karton 126. 161 Lönyay, A bankügy 173. 162 Über Beckes Auffassung: Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-un¬ garischen Monarchie 1867-1906 68 ff. Über die Anklagen gegen Becke: Lönyay, A bankügy 173-175. Auffällig war, daß zu dem Festessen, das Becke zu Ehren der beiden Deputationen gab, Ignaz Plener, der ehemalige Finanzminister, Mitglied der Reichsratsdeputation, nicht erschien. Das schrieb jedermann seiner prinzipiellen Meinungsdifferenz mit Becke zu. Csengery, HAtrahagyott iratai 6s feljegyz£sei 103. || || LVIII Einleitung bitter fest.163 Kultusminister Eötvös beurteilte wie gewöhnlich die mit dem Ausgleich verbundenen Verpflichtungen gefuhlsfrei. Bei Beginn der Deputationsverhandlungen schrieb er an Lonyay: wenn wir so sehr überzeugt sind, daß das Bestehen des Reiches zugleich die Voraussetzung unseres eigenen Bestehens ist, dann sehe ich wahrhaftig nicht ein, warum ein kluger Mann sich seinen Kopf über etwas anderes zerbricht als die Fra¬ ge: wieviel ist es, was wir opfern müssen, damit Österreich bestehen kann, und wieviel ertragen wir, um nicht Österreich, sondern uns selbst zu ret¬ ten".164 Auch Deäk unterstützte mit seiner ganzen moralischen Autorität das Vorgehen von Lonyay und Andrässy, er war sich sicher, daß es, wenn auch unter Opfern, gelinge, die materiellen Fragen auszugleichen, dies für das Land von großem Nutzen sein werde.165 Die Kompromißbereitschaft der Partner beweist am besten, daß sich kei¬ ner in staatsrechtlichen Gefechtsstellungen verschanzte. Die Ungarn be- harrten nicht darauf, daß vor der Annahme der Delegationsgesetze durch den Reichsrat keine Vereinbarung über Wirtschaftsfragen, vor allem nicht über die Ungarn rechtlich nicht belastende Sache der Staatsschuld stattfin¬ den konnte. Und der Reichsrat akzeptierte de facto die Parität und die Insti¬ tution der Delegationen damit, daß er Ende Juni die Verhandlungsdepu¬ tation über Wirtschaftsfragen entsandte. In dem historischen Moment von 1867 suchten beide Partner aus Eigeninteresse den Kompromiß und führten die Vereinbarung zum Erfolg. Was für einen gefühlsmäßigen Hintergrund jedoch dieser Kompromiß hatte, wie unsicher und halbherzig die Partner die Vereinbarung auf sich nahmen, das charakterisiert gut Csengerys Aufzeichnung über die feierliche Schlußsitzung der beiden Deputationen vom 25. September: „Ein kurzer Privatabschied, gegenseitige Grußworte folgten. Auf Wiedersehen in der Delegation - sagte Lonyay zu Dr. Herbst. Der sich nun schon nach Deutsch- land sehnende ZentraHst Herbst sagte mit verdrossener Miene nur: Viel¬ leicht wäre die reine Personalunion besser gewesen. - Beantragen Sie die¬ se! - warf ich ein,"166 ~ 163 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 5 200-201. .. 164 Eötvös ' Brief vom 14. August 1867 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bdv5 166-167. 165 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 5 204, 229. " ' " 166 Csengery, HAtrahagyott iratai £s feljegyzEsei 175. || ||