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Vorwort - Retrodigitalisat (PDF)

Das Jahr 1862 – diesen Eindruck vermitteln die Protokolle des österreichischen Ministerrates vom 8. Mai bis 31. Oktober 1862 – war einer der wenigen fast absoluten Ruhepunkte in der seit 1848 in jeder Richtung stürmischen Entwicklung des Habsburgerstaates. Sowohl die Verfassungsfrage wie auch nennenswerte außenpolitische Belastungen schienen stillgelegt. Die Regierung widmete sich vehement dem Ausbau dessen, was als „vorbildlicher Rechtsstaat“ apostrophiert worden ist. Folgerichtig nimmt der vorliegende Band die großen Gesetzgebungsaktionen zum Mittelpunkt und schließt mit deren Vorlage zur Sanktion durch den Kaiser am 31. Oktober 1862. Gewiß war dieser Rechtsstaat kein politisch und gesellschaftlich neutrales Gebilde. Er trägt deutlich die Handschrift eines Liberalismus, der wie in der Verfassungsfrage dem monarchischen Absolutismus Kaiser Franz Josephs so auch in der Gesellschaftspolitik den traditionellen Strukturen eines Feudalstaates Zugeständnisse machen mußte. Auch wenn mit der Aufhebung des Lehensverbandes ein deutliches Zeichen gesetzt wurde, war der Weg Österreichs zu einer bürgerlichen Gesellschaft durch das Paket neuer Wirtschafts-, Verwaltungs- und Kulturgesetze bestenfalls gewiesen. Mit Ausnahme des Osmanischen Reiches und des zaristischen Rußland hatten die europäischen Großmächte diesen Wandel bereits weitgehend vollzogen, und es wäre eine Lebensfrage für Österreich gewesen, den Anschluß an das neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu finden. Trotz des „handelspolitischen Königgrätz“ vom 29. März 1862 wäre Österreich dieser Weg durch den Anschluß an den Zollverein möglich gewesen. Aber die Regierung war unvorbereitet, und die Textilfabrikanten und EisenindustrielIen entschieden gegen die Zolleinigung. Österreich selbst hat damit einen sehr bedeutsamen Beitrag zum Erfolg der Bismarckschen Politik geleistet.

Der vorliegende Band ist arbeitstechnisch ein Sonderfall; er verdankt sein Gelingen der kollegialen Zusammenarbeit zweier Vertragsmitarbeiter – Dr. Horst Brettner-Messler bearbeitete die Protokolle vom Mai bis September 1862, Dr. Klaus Koch kommentierte diejenigen vom Oktober 1862, verfaßte die Einleitung und erstellte das Register.

Besonders intensiv gestaltete sich seit Erscheinen des letzten Bandes (September 1985) die Zusammenarbeit mit dem ungarischen Herausgeberkomitee: Auf einer Arbeitstagung in Budapest (30. September und 1. Oktober 1985) wurden im Anschluß an die in Bearbeitung stehenden Bände der Ministerien Buol-Schauenstein (III/4, Dr. Waltraud Heindl) und Rainer/Schmerling (V/3, Dr. Stefan Malfèr) Wirtschaftsthemen der1850er und1860er Jahre vorgestellt, insbesondere aber die von Dr. Éva Somogyi vorgelegte und vom österreichischen Komitee begutachtete umfassende Einleitung zum Band Gołuchowsky (1895–1906) der Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates ausführlich diskutiert. Im Zusammenhang mit der Bearbeitung der Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates wurde im Hinblick auf die je in Budapest und Wien zur Verfügung stehenden Quellen eine Neuregelung getroffen: Das ungarische Komitee übernimmt die Abteilung Andrássy/Haymerle, das österreichische Komitee die Protokolle des Ministeriums Aehrenthal. Auf einer zweiten Tagung in Wien (23./24.Juni 1986) wurden die in Arbeit befindlichen Bände Rainer/Schmerling (V/4, Dr. Horst Brettner-Messler und Dr. Klaus Koch) und Kálnoky (Univ.-Prof. Dr. István Diószegi) besprochen sowie eine eventuelle Erweiterung des Arbeitsprogrammes erwogen (Ausgleichserneuerungen, Militär­konferenzen). Für die Durchführung derartiger Arbeitstagungen in Wien ist bei dieser Gelegenheit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu danken, die solche Veranstaltungen in das Arbeitsprogramm ihrer Subkommission Österreich und Ungarn aufgenommen hat.

Auch der vorliegende Band wurde dem ungarischen Herausgeberkomitee zur Begutachtung unterbreitet. Dr. Gábor Pajkossy und Dr. Éva Somogyi haben in bewährter kollegialer Weise Stellungnahmen formuliert. Die doch sehr zahlreichen ungarischen Betreffe der Ministerberatungen haben Anlaß zu Ergänzungen und zu einem Sachdialog über wichtigere Fragen wie Protestanten­patent und siebenbürgische Eisenbahn geboten. Auch an diesem kleinen und relativ undramatischen Abschnitt der historischen Entwicklung bewährte sich die österreichisch-ungarische Zusammen­arbeit. Wenn sich aus der Lektüre der vorliegenden Protokolle für ungarische Historiker die Erkenntnis ableitet, daß man bisher die Erforschung der politischen Ordnung und des Verwaltungswesens zu stark in den Vordergrund gestellt habe, hingegen die aktive „Wirtschaftspolitik des Reiches“ und „deren möglicherweise auch für Ungarn günstigen Bezüge nicht angemessen analysiert“ hat (Somogyi), dann liegt darin eine ausreichende Bestätigung für die Fruchtbarkeit des wissenschaftlichen Diskurses über die Grenzen zweier unterschiedlicher geschichtswissenschaftlicher Traditionen hinweg. So wie viele österreichische und internationale Historikerkommissionen hat auch das österreichische Komitee für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle den Verlust eines seiner aktivsten Mitglieder zu betrauern. Durch den Tod von Heinrich Lutz verlor das Komitee einen Fachmann, dessen Erfahrungen bei den Deutschen Reichstagsakten und den Nuntiaturberichten eine unschätzbare Hilfe bei der Entscheidung editionstechnischer Fragen waren. Für seine Mitarbeit und persönliche Anteilnahme seit der Gründung des Unternehmens durch Friedrich Engel-Janosi gebührt ihm der Dank der öster­reichischen und der ungarischen Geschichtswissenschaft. Den Institutionen, die das Unternehmen Ministerratsprotokolle materiell unterstützen, dem österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich und der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien, sei an dieser Stelle der Dank ausgesprochen.

Klagenfurt, im September 1986