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Vorwort - Retrodigitalisat (PDF)

Wenn von der Mehrzahl der Beratungsmaterien des österreichischen Ministerrates von 1848 bis 1867 gilt, daß sie unpolitisch im Sinne einer Aussparung der großen Reichspolitik waren, dann bilden die Protokolle der Ära Rainer-Schmerling die vorerst herausragende Ausnahme. Dies war eine Folge der geänderten verfassungsrechtlichen Verhältnisse, die einerseits eine Aufwertung des Ministerrates mit sich brachten, andererseits im Reichsrat des Februarpatents ein Zentrum schufen, mit dessen politisch meist brisanten Initiativen sich die Regierung, nicht zuletzt aufgrund der Budgetabhängigkeit, befassen mußte. Ohne daß Fragen wie der „Schleichhandel an der Seeküste“ oder die „Auswechslung abgenützter Münzscheine“ zu kurz kamen, beherrschte qualitativ das „Staats-und Reichsproblem“ die Ministerberatungen der Jahreswende von 1861 auf 1862. Die Protokolle und die Einleitung des Bandbearbeiters zeigen, daß dieses „Staats- und Reichsproblem“ mehr Seiten hatte, als die ältere Forschung zu sehen vermochte. Nur in der ungarischen und siebenbürgischen Frage klingt das reichspolitische Hauptthema des Februarpatents, Zentralismus gegen Föderalismus, ungelöst nach. Im Zentrum des Bandes steht neben der Frage der Ausgestaltung und praktischen Handhabung des Konstitutionalismus vor allem die Krise der Reichsfinanzen. Obwohl das konstitutionelle System theoretisch fest etabliert war, setzte die Regierung der vollen Entfaltung des konstitutionellen Lebens beträchtlichen Widerstand entgegen; doch sicherte die Krise der Staatsfinanzen die Position des Reichsrates als mitbestimmende Kraft im neuen Regierungssystem. Wenn es in der Frage des Konstitutionalismus zu tragfähigen Kompromissen kam und sich auch in der Regelung des Verhältnisses zu Ungarn ein solcher bereits andeutete, so fand die Finanzfrage nur eine vorläufige Lösung. Ob sich nämlich der Hauptteil der Ausgaben, der Militäretat, in Grenzen halten lassen würde, hing von der Entwicklung der außenpolitischen Lage ab. Die im vorliegenden Band publizierten Protokolle beleuchten sehr deutlich den zwiespältig-provisorischen Charakter der Situation Österreichs in innen- wie außenpolitischer Beziehung. Der prekären Ungelöstheit aller außenpolitischen Fragen in Richtung Deutschland, Italien, Rußland entsprach der Versuch eines innenpolitischen Neuansatzes. Aber außenpolitisch war es nur die Ruhe vor dem Sturm, und davon beeinflußt sowie als Folge von Inkonsequenzen war auch der innenpolitische Neuansatz nur ein vorläufiger.

Die Herausgeber danken auch diesmal dem ungarischen Komitee für die wissenschaftliche Zusammenarbeit. Neben dem laufenden Meinungsaustausch hat den vorliegenden Band Univ.-Doz. Dr. Oskar Sashegyi begutachtet. Wenn er in seiner Stellungnahme schreibt, daß der Band „auch für die ungarischen Historiker große Dienste leisten“ wird, dann ist ein Hauptanliegen der gutnachbarlichen Zusammenarbeit bei der Erforschung der zum Teil gemeinsamen österreichischen und ungarischen Geschichte erfüllt. Nicht ganz selbstverständlich ist die Aussage, daß „weder die Einleitung noch der Textteil etwas enthalten, was von ungarischer Seite zu einer kritischen Bemerkung Anlaß geben würde“. Tatsächlich gäbe gerade die Behandlung der ungarischen Frage in der beginnenden Schmerling-Ära einigen Anlaß zur unterschiedlichen Interpretation vom österreichischen bzw. ungarischen Standpunkt. Aber einerseits ist der ungarischen Auffassung, daß das „Provisorium“ die Fortsetzung des Neoabsolutismus war, voll Rechnung getragen, andererseits hat ja Franz Joseph schon zu diesem frühen Zeitpunkt die von Forgách festgehaltene ungarische Position der Nichtzuständigkeit des Wiener Reichsrates für ungarische Angelegenheiten grundsätzlich respektiert.

Daß im Vorsitz des österreichischen Komitees für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle ein Wechsel von o. Univ.-Prof. Dr. Gerald Stourzh zu o. Univ. Prof. Dr. Helmut Rumpler eingetreten ist, bietet Gelegenheit, Gerald Stourzh für seine Arbeit herzlich zu danken. Er hat einerseits die wissenschaftlichen Zielsetzungen Friedrich Engel-Janosis seit 1978 gewahrt, andererseits durch die Verankerung der Bearbeitergruppe als Abteilung im Österreichischen Ost-und Südosteuropa-Institut die organisatorische und materielle Basis für die Fortführung der Editionsarbeit gesichert. Die Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen hat sich zum gegenseitigen Nutzen bestens bewährt. Dem Leiter des OOSI, Univ. Prof. Dr. Richard Georg Plaschka, sei für die Aufgeschlossenheit gegenüber den spezifischen Arbeitsproblemen der Ministerratsprotokolle aufrichtig gedankt. Auch in einem anderen Punkt kann und will der neue Vorsitzende an Bewährtes anschließen: Die Edition ist im wesentlichen die Leistung eines gut eingespielten Teams. Die derzeit hauptberuflichen Mitarbeiter Dr. Waltraud Heindl, Dr. Stefan Malifèr und Frau Inge Sieghart bewältigen, unterstützt von Mitarbeitern auf Zeit (gegenwärtig Dr. Klaus Koch, Mag. Andreas Gottsmann und Dr. Thomas Kletečka), die zahlreichen Aufgaben vom Transkribieren und Kollationieren der Texte bis zu den weit ausgreifenden Archivarbeiten mit dem Erfolg, daß die Edition nicht nur einen raschen und gedeihlichen Fortgang nimmt, sondern auch zu einem Zentrum der Erforschung der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des 19. Jahrhunderts geworden ist. Der Wechsel im Vorsitz ist die geeignete Gelegenheit, ihnen allen den gebührenden Dank für die Mitarbeit und für den Teamgeist auszusprechen. Nicht vergessen sei auch für diesen Band der Dank, den die Herausgeber den fördernden Institutionen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien schulden.

Klagenfurt, im September 1985