Nr. 102 Ministerrat, Wien, 2. und 3. August 1861 - Retrodigitalisat (PDF)
- ℹ️ anwesend:
- Sammelprotokoll; RS.Reinschrift: P. Marherr (2. 8.), Ransonnet (3. 8.) ; VS.Vorsitz Rechberg; BdE.Bestätigung der Einsicht (Rechberg 4. 8.), Mecséry, Degenfeld, Schmerling, Lasser, Plener, Wickenburg, Forgách, Esterházy, Lichtenfels; BdR.Bestätigung des Rückempfangs Rechberg.
MRZ. 896 – KZ. 2557 –
Protokoll des zu Wien am 2. und 3. August 1861 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern Grafen v. Rechberg[Sitzung vom 2. August 1861][anw. Rechberg, Mecséry, Degenfeld, Schmerling, Lasser, Plener, Wickenburg, Forgách, Esterházy, Lichtenfels; abw. Pratobevera]
I. Sistierung der gemeindeweisen Steuerexekution in Ungarn
Der ungrische Hofkanzler referierte über die zahlreichen ihm vorgekommenen Bitten um Einstellung der Steuereintreibung mittelst Militärexekution in Ungern während der Ernte1. Er stellte sich bei der Begutachtung dieser Angelegenheit auf den faktischen Zustand, wie er ihn beim Antritte seines Amts gefunden, und beleuchtete sie von der finanziellen und politischen Seite. In finanzieller Beziehung fand er zu bemerken, daß, da zur Zeit der Ernte der Grundbesitzer in allen Ländern gewöhnlich des baren Geldes entbehrt, überall bei Eintreibung der Steuern mit Schonung vorgegangen zu werden pflege. Um so mehr sei dies in Ungern notwendig, das vorzugsweise ein Agrikulturland ist. Die Strenge, mit der man dort auch jetzt, wo der auf den Ertrag des Bodens angewiesene Landmann seine Produkte noch nicht verwerten kann, mit der Steuereintreibung vorgeht, wird nicht nur sehr hart gefunden, sondern auch im Hinblick auf die zu dieser Zeit in anderen Ländern gewöhnliche Schonung selbst als Verfolgung angesehen. Zwar habe der Finanzminister einige Erleichterung für die kleinen Grundbesitzer zugestanden, indem er unter gewissen, die Zahlungsunfähigkeit konstatierenden Umständen den Abzug der Exekutionsmannschaft gegen dem anordnete, daß die Versicherung der nachträglichen Steuerzahlung gegeben werde. Allein einerseits ist diese Versicherung illusorisch, weil der Unredliche trotz derselben doch nicht zahlen wird und alsdann doch gegen ihn — zur nicht geringen Belästigung des Militärs mit steten Hin- und Hermärschen — mit der Exekution vorgegangen werden muß. Andererseits ist damit der Verlegenheit des größeren Grundbesitzers nicht abgeholfen, der, wenn er überhaupt noch Geld hat, es zur Entlohnung der Erntearbeiter bedarf oder selbst beim besten Willen und Vermögen wegen des herrschenden Terrorismus Steuer zu zahlen sich nicht getraut. Noch schlimmer gestaltet sich die politische Seite. Die bisher geübte Nachsicht hat in allen Komitaten den passiven Widerstand || S. 261 PDF || förmlich organisiert. Wer den ungrischen Charakter und das Zusammenhalten der Kameraderie kennt, wird zugeben, daß derselbe nicht mit einem Male gebrochen werden kann. Ihm allein ist es zuzuschreiben, daß die Steuereintreibung mit Militärexekution, die sonst eine Strafe für den renitenten Steuerpflichtigen sein sollte, zu einer administrativen Maßregel, zu einem integrierenden Teile der Steuereinhebung in Ungern geworden. Soll nun diesem bedauerlichen Zustande ein Ziel gesetzt werden, so muß, nachdem die günstige Gelegenheit, welche die energische Durchführung des königlichen Reskripts vom 16. Jänner2 geboten hätte, leider ungenützt vorübergegangen, mit der Legung eines neuen Bodens in der Komitatsverwaltung begonnen werden. Um dies aber mit Erfolg tun zu können, ist es vor allem notwendig, durch einen schon in den gegebenen Verhältnissen begründeten Akt der Schonung und Milde die aufgeregten Gemüter zu besänftigen, vielleicht zu gewinnen. Als ein solcher erscheint dem ungrischen Hofkanzler die Sistierung der Militärexekution zur Eintreibung der Steuern von jetzt ab etwa bis 15. September, bis wohin dem Kontribuenten Gelegenheit geboten sein dürfte, durch Verwertung der Fechsung die nötigen Mittel zur Bezahlung der Schuldigkeit zu beschaffen. Er kann zwar nicht verbürgen, daß man sich alsdann auch allgemein den Steuervorschriften fügen werde, hofft jedoch, nach Gewährung des dringenden und wirklich begründeten Verlangens des Landes nach zeitweiliger Erleichterung während der Sistierungsperiode Mittel zu finden zur Vorbereitung von Maßregeln, welche die Herstellung eines geordneten Zustandes im Steuerwesen ermöglichen. Auch ist es nicht seine Absicht, die angetragene Sistierung der Exekution auf alle Steuergattungen auszudehnen, wogegen der Finanzminister aufs lebhafteste protestieren müßte, sondern er beschränkt seinen diesfälligen Antrag bloß auf die Grundsteuer, jedoch ohne Unterschied zwischen Klein- und Großbesitzer, weil für die Gleichstellung beider in dieser Beziehung, außer der bereits oben geltend gemachten Rücksicht, auch noch die Betrachtung spricht, daß die Beurteilung, ob Klein-, ob Großbesitz, kaum ohne Willkür möglich ist und daß, wollte unter dem Großgrundbesitz nur der vormals jurisdiktionsberechtigte Herrschaftsbesitz verstanden und von der Wohltat der Exekutionssistierung ausgenommen werden, dies als eine Gehässigkeit gegen denselben ausgelegt und sehr übel aufgenommen werden würde.
Der Finanzminister bemerkte, er habe sich nur ungern und erst nach wiederholten fruchtlosen Aufforderungen an die ungrische Hofkanzlei, die politischen Behörden zur entsprechenden Tätigkeit anzuweisen, zur zwangsweisen Steuereintreibung entschlossen. Sie hat nun in finanzieller Beziehung wenigstens den guten Erfolg gehabt, daß über vier Millionen Gulden in den letzten zwei Monaten eingegangen sind. In politischer Beziehung war der Erfolg der, daß man anerkennen mußte, die Regierung habe wenigstens in einem Punkte Ernst gezeigt und die Erfüllung ihrer Anordnungen durchzusetzen gewußt. Auf keinen dieser || S. 262 PDF || Erfolge kann der Finanzminister verzichten, nicht auf den finanziellen, weil ein Aufhören des Steuerzuflusses aus Ungern nicht nur die Bemühung der Finanzverwaltung, mit den laufenden Einnahmen die Staatsbedürfnisse bis zur Berufung des gesamten Reichsrates zu decken, ohne von dem Rechte des § 13 des Grundgesetzes Gebrauch zu machen, vereiteln, sondern auch auf den Kredit höchst nachteilig wirken würde; nicht auf den politischen, denn eine allgemeine Sistierung der exekutiven Steuereintreibung würde als ein Akt der Schwäche der Regierung und als eine neue unverdiente Begünstigung Ungerns den anderen Ländern gegenüber angesehen werden. Der Finanzminister vermöchte daher prinzipiell einer allgemeinen Steuerexekutionssistierung um so weniger seine Zustimmung zu geben, als er bereits unterm 27. Juli die tunliche Erleichterung hat eintreten lassen, daß den wirklich zahlungsunfähigen kleinen Grundbesitzern während der Schnittzeit keine Exekution eingelegt werden soll3, und als er weiters nicht einzusehen vermag, wie die vom ungrischen Hofkanzler beabsichtigte Reform in den Organen der politischen Verwaltung durch die lediglich von den Finanzbehörden geleitete Steuerexekution beirrt werden sollte, zumal letztere bei der Unzulänglichkeit des Militärs nur partiell und mit der bereits oben schon angedeuteten Schonung durchgeführt wird. Wäre jedoch mit jener Reform eine Abtretung der Finanzverwaltung an das Land selbst beabsichtigt, so müßte er sich gegen eine solche Absicht, als den Reichsgrundsätzen zuwider, verwahren und um Enthebung von der Leitung des Finanzministeriums bitten. Der Polizeiminister bemerkte, insofern es sich um Abstellung der mit der Steuerexekution zur Erntezeit verbundenen Kalamitäten handelt, sei durch die Verfügung des Finanzministers der Hauptsache nach abgeholfen. Insofern jedoch eine allgemeine Exekutionssistierung behufs der Erreichung des vom Hofkanzler beabsichtigten politischen Zwecks beantragt wird, müßte vor deren Genehmigung doch die Garantie für dessen Erreichung als Ersatz für die finanzielle Einbuße gegeben werden. Allein diese Garantie besteht nicht, vielmehr ist nicht zu erwarten, daß eine neue Konzession bessere Früchte tragen werde als die bisherigen. Haben doch selbst die Führer der extremen Partei die Entrichtung der Steuern in Raten vorgeschlagen, weil es ihrer Ansicht und Erwartung nach zur Einhebung der späteren Raten ohnehin nicht kommen werde. Der Polizeiminister stimmte also ganz mit der Meinung des Finanzministers, und zwar um so mehr gegen jede prinzipielle Sistierung der exekutiven Steuereintreibung, als dieselbe bisher ihren ungestörten und ergiebigen Fortgang gehabt hat, nach einer mehrwöchigen Sistierung aber nur mit neuen Schwierigkeiten wieder in Gang gebracht werden könnte. Minister Graf Esterházy erklärte sich dagegen vollkommen mit dem Antrage des ungrischen Hofkanzlers einverstanden. Die finanzielle Seite der Frage beiseite lassend, verbreitete er sich über die politische und führte aus, daß, wenn die Regierung nach reiflicher Erwägung der Frage, ob sie auf dem bisherigen Wege der Verständigung beharren will oder den Weg der materiellen Gewalt betreten soll und kann, sich für das erstere entscheidet, || S. 263 PDF || jede die Gemüter versöhnende Maßregel willkommen sei. Auch sei dabei seine und des ungrischen Hofkanzlers Stellung zu berücksichtigen: sie seien von Sr. Majestät zunächst zur Leitung der ungrischen Verwaltung, und zwar aus einer Partei, berufen worden, die gegenwärtig im Lande kein Vertrauen genießt; sollen sie für das Land wirken, so möge man ihre Stellung dem Lande gegenüber nicht noch mehr erschweren, indem man ihren Kredit schwächt. Der Staatsminister hielt im allgemeinen seinen in ungrischen Angelegenheiten behaupteten Standpunkt fest, beleuchtete aber die Frage, ob momentan mit der Steuerexekution innezuhalten sei, von dem allgemeinen Gesichtspunkte. Von diesem aus stellt sich dar, daß man in allen Ländern während der Ernte, wo der Grundbesitzer gewöhnlich kein disponibles Geld besitzt, mit der Steuereintreibung nachsichtiger zu Werke geht. So möge es denn auch in Ungern gehalten werden, und zwar um so mehr, als ein großer Teil der Renitenz auf Rechnung des Terrorismus kommt, der bisher im Lande geübt wurde. Indem daher der Staatsminister für die Sistierung der Exekution bei der Grundsteuer in Ungern bis 15. September stimmt, knüpft er jedoch daran die Bedingung, daß die Komitatsbehörden die Verpflichtung zur Zahlung der Steuern anerkennen und dies mit dem Beisatze erklären, nach Ablauf der obigen Frist zur ordentlichen Einhebung der Steuern im Sinne des Reskripts vom 16. Jänner mitwirken zu wollen. Geben sie diese Erklärung nicht ab oder entsprechen sie der nach dem 15. September eintretenden Verpflichtung nicht, so fallen die Schuld und somit das Gehässige der Militärexekution, wenn sie nicht sistiert oder nach dem 15. wiederaufgenommen werden müßte, nicht auf die Regierung, sondern auf die Komitate selbst, und die steuerpflichtige Bevölkerung wird erkennen, wem sie die Vereitlung der wohltätigen Absichten der Regierung zu verdanken habe. Minister Ritter v. Lasser schloß sich ganz der Meinung des Staatsministers an, desgleichen der Kriegsminister , welcher das höchste Interesse dabei hat, daß mit der Verwendung des Militärs zur Steuerexekution innegehalten werde, indem jede Armee, die längere Zeit für diesen Zweck verwendet wird, militärisch und moralisch zugrunde gerichtet würde. Der Handelsminister glaubte nicht, daß die Komitate die vom Staatsminister verlangte Erklärung abgeben werden, stimmte daher in thesi mit dem Finanzminister, jedoch mit der Modifikation, daß auch die Großgrundbesitzer an denjenigen Erleichterungen teilzunehmen hätten, welche derselbe den kleinen zuzuwenden beschlossen hat. Der Staatsratspräsident endlich stimmte in der Grundansicht mit dem Finanzminister. Auch ihm schien bei den bekannten Erfolgen der bisherigen Nachgiebigkeit eine prinzipielle Steuerexekutionssistierung nicht angezeigt. Wenn indessen der Antrag des Staatsministers beliebt würde, so müßte derselbe sehr genau formuliert hinausgegeben werden, etwa in der Art: Die Komitate haben sich binnen einer kurzen Frist zu erklären, ob sie die Steuerpflicht anerkennen und nach dem 15. September zur Einhebung der Steuern mitwirken wollen. Diejenigen Komitatsbehörden, welche diese Erklärung verweigern, wären sofort aufzulösen.
Da sich die Mehrheit der Stimmen für den durch den Staatsminister modifizierten Antrag des ungrischen Hofkanzlers erklärt hatte, wurden derselbe, der Staatsminister und der Finanzminister, welcher zuletzt zugab, auch die Großgrundbesitzer || S. 264 PDF || an der von ihm den kleinen zugestandenen Begünstigung, asoferne sie sich wegen der Ernte- und der Feldarbeiten in Zahlungsverlegenheiten befindena, teilnehmen zu lassen, eingeladen, sich wegen Formulierung eines jenen Anträgen entsprechenden Erlasses zu beraten und das Ergebnis in der nächsten Sitzung zum Vortrage zu bringen.
Fortsetzung am 3. August 1861. Vorsitz und Gegenwärtige wie bei dem Ministerrate am 2. d. M. mit Ausnahme des Ministers Grafen Esterházy.
Der ungarische Hofkanzler referierte, die zwischen dem Staatsminister, dem Finanzminister und ihm selbst gepflogene Beratung habe zu der Vereinbarung geführt, daß mittels eines Finanzministerialerlasses an den ungarischen Finanzlandesdirektor die gemeindeweisen Steuerexekutionen bis zum 15. September sistiert werden, jedoch unbeschadet der mittlerweilen noch fortzusetzenden Spezialexekutionen gegen einzelne zahlungsfähige Steuerrestanten. Der Finanzminister fügte bei, man habe sich auch dahin geeiniget, daß diese Sistierung sich nicht bloß auf die Grundsteuer, sondern auch auf die übrigen Steuern zu beziehen habe, indem eine Unterscheidung nach Steuergattungen nur Komplikationen zur Folge haben und die wünschenswerte Einstellung der gemeindeweisen Exekution an vielen Orten hindern würde. Die Spezialexekutionen gegen einzelne Restanten ohne Unterschied, ob große Grundbesitzer, Fabrikanten oder Stifter, werden, so wie die exekutive Eintreibung in den Städten, wie bisher fortdauern. Übrigens fände es der Finanzminister nötig, die Sistierung der gemeindeweisen Exekution noch an die Bedingung zu knüpfen, daß die Gemeinden die Steuereinzahlungstabellen den Finanzbehörden ausliefern, da die letztern jener Tabellen zur Ausmittlung der Individualrückstände bedürfen.
Nachdem der Finanzminister den diesfälligen Verordnungsentwurf vorgelesen hatte, bemerkte der Hofkanzler , daß den Gemeinden die Erfüllung der letzterwähnten Bedingung häufig unmöglich sein dürfte, da die Steuertabellen in vielen Gemeinden auf Anordnung der Komitate bereits an diese abgeliefert worden sind. Hierauf dürfte bei Instruierung der finanziellen Vollzugsorgane Rücksicht zu nehmen sein, und Graf Forgách müsse überhaupt die Erteilung möglichst präziser Instruktionen in dieser Angelegenheit lebhaft befürworten, damit nicht durch Mißverständnisse und unzeitigen Eifer der Unterbeamten der Zweck der Maßregel ganz oder zum Teil vereitelt werde. Der Kriegsminister machte weiters auf die Notwendigkeit aufmerksam, daß das Militär nicht etwa bei den Spezialexekutionen zum empfindlichen Nachteil der Disziplin zu sehr eparpilliert werde, und es hätte sich diesfalls der Finanzlandesdirektor mit dem Landeskommandierenden ins Einvernehmen zu setzen. Der Polizeiminister war des Erachtens, daß man sich dermal bei Abforderung der Steuertabellen auf jene Gemeinden zu beschränken hätte, wo die Exekution bereits im Zuge ist, um nicht in den bisher nicht exekutierten Gemeinden Beunruhigung zu verbreiten und etwa neue Truppenmärsche anordnen zu müssen.
|| S. 265 PDF || Der Finanzminister sicherte zu, daß er den vorgelesenen Entwurf durch Aufnahme näherer Details im Sinne der von den drei Vorstimmen gestellten Anträge ergänzen und denselben ante expeditionem dem ungarischen Hofkanzler mitteilen werde, welcher letztere seinerseits einen entsprechenden Erlaß an die Statthalterei richten wird. Hiemit war man allseitig einverstanden4.
Wien, 4. August 1861. In Vertretung Sr. k. k. Hoheit. Rechberg.
Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Wien, 11. August 1861. Praes [entatum]. Rechberg.