Nr. 164 Ministerkonferenz, Wien, 29. Mai 1860 – Protokoll I - Retrodigitalisat (PDF)
- ℹ️ anwesend:
- RS.Reinschrift; P.Protokoll Ransonnet; VS.Vorsitz Erzherzog Rainer; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Erzherzog Rainer 30. 5.), Erherzog Wilhelm (bei IV abw.abwesend), Rechberg (bei IV abw.abwesend), Thun 30. 5., Nádasdy 30. 5., Gołuchowski 30. 5. (bei IV abw.abwesend), Thierry 31. 5., Plener 31. 5., FML. Schmerling 1. 6. (bei IV abw.abwesend).
MRZ. – KZ. 1746 –
Protokoll I vom 29. Mai 1860 vormittags unter dem Vorsitze Sr. k. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Rainer, Präsidenten des k. k. Reichsrates etc.
I. Ansprache Sr. Majestät an den verstärkten Reichsrat
Der Ministerpräsident brachte auf Ah. Befehl zur Beratung den Entwurf einer Ah. Ansprache bei dem Empfang der Reichsräte und las denselben seinem ganzen Inhalte nach vor. Schließlich bemerkte Graf Rechberg, es sei nach dem Ah. Wunsche Sr. Majestät durch die hohe Konferenz in Überlegung zu nehmen, ob nicht in der Ansprache den Ah. Absichten ein bestimmterer Ausdruck zu verleihen wäre, welcher unzweideutig entnehmen läßt, 1. das Maß dessen, was Se. Majestät den Kronländern in Bezug auf ihre Autonomie Ag. gewähren will, und 2. daß dem Reichsrate in Absicht auf diesen Gegenstand keine Initiative zusteht. Der Ministerpräsident las zwei diesfalls vorgeschlagene Varianten eines Satzes im Entwurfe vor.
Der Kultusminister würde dem mehr allgemein gehaltenen ursprünglichen Texte den Vorzug geben. Viele der wichtigsten Organisierungsfragen sind noch nicht entschieden, [so]daß es derzeit wohl nicht möglich ist, eine scharfe Grenzlinie zu ziehen. Was aber die Beratungen über organische Einrichtungen in den Kronländern betrifft, so scheint es dem Grafen Thun unmöglich, dieselben im verstärkten Reichsrate ganz zu verhindern. Einerseits bietet das Budget hinreichende Anhaltspunkte dazu, und andererseits haben solche Angelegenheiten einzelner Kronländer doch auch einen so großen Einfluß auf das ganze Reich, daß der verstärkte Reichsrat sich auch aus diesem Titel damit wird beschäftigen wollen. Jedenfalls brauchen die Minister auf diesfällige Interpellationen nicht sofort eine Erklärung abzugeben, sondern sie können sich darüber vorläufig untereinander verständigen. Der Justizminister bemerkt, ein bestimmt formulierter Ah. Ausspruch über die erwähnte Grenzlinie habe das Bedenken gegen sich, daß der Regierung dadurch für die weiteren Verhandlungen die Hände allzusehr gebunden seien und daß sonst vielleicht sehr wünschenswerte Überschreitungen dieser Linie mit dem kaiserlichen Worte kollidieren würden. In dem Texte der Varianten dürfte der Reichsrat vielleicht selbst eine Aufforderung finden, die Provinzialangelegenheiten in seinen Bereich zu ziehen. Graf Nádasdy stimmte daher für den ersten Entwurf. Der Minister des Inneren hält auch den ersten Entwurf im allgemeinen für entsprechend, zumal es sich dabei nicht um eine sogenannte Thronrede, sondern nur um eine herzliche Ansprache handelt. Alles übrige scheint entbehrlich; daß Landesvertretungen, Bezirksgemeinden, Komitate werden organisiert werden, ist bereits Allerhöchstenortes ausgesprochen; Details können hier nicht Ah. normiert werden. Was übrigens die Beratung von Provinzialangelegenheiten im Reichsrate betrifft, so müsse man streng an dem || S. 212 PDF || Grundsatze festhalten, daß dieser Körper nicht berechtigt ist, diesfalls eine Initiative zu ergreifen, sondern daß seine Beratungen über solche Gegenstände nur aus Anlaß einer Vorlage von Seite der Landesvertretungen Platz greifen können. Wenn daher aus einem anderen, gesetzlich nicht gegründeten Anlasse Fragen dieser Art zur Sprache gebracht werden, gedenke Graf Gołuchowski auf die Diskussion gar nicht einzugehen und diesfällige Anträge von Reichsräten wären einfach den Akten beizulegen. Der Reichsrat v. Plener stimmte ebenfalls für den ersten Entwurf, machte jedoch bemerklich, daß dem Reichsrat nach § 4 des Patents vom 5. März 1860 zwar keine Initiative zusteht, er aber doch berufen ist, Lücken und Mängel in der Gesetzgebung bei Sr. Majestät zur Sprache zu bringen, wenn sich hiezu bei Beratung einer Vorlage der Anlaß findet. Der Polizeiminister, FML. Ritter v. Schmerling und der Ministerpräsident vereinigten sich mit den Anträgen des Ministers des Inneren, welchen auch Se. k. k. Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Wilhelm beizutreten fanden.
Hierauf wurde zu einer eingehenden Prüfung der Textierung des Entwurfes geschritten, und die einstimmig beantragten Modifikationen wurden vom Justizminister sofort im Texte ersichtlich gemacht, damit die hievon zu nehmende Reinschrift Sr. Majestät durch den Ministerpräsidenten au. überreicht werden könne1.
II. Erwiderung auf dieselbe
Über die hierauf von Sr. k. Hoheit dem vorsitzenden Herrn Erzherzog Reichsratspräsidenten aufgeworfene Frage, ob von Höchstdemselben auf die Ansprache Sr. k. k. apost. Majestät nicht eine Erwiderung zu folgen hätte, äußerte der Ministerpräsident, daß sich vielleicht eine solche Erwiderung an die letzten Worte der kaiserlichen Ansprache knüpfen ließe. Der Minister des Inneren glaubte, daß ein begeistertes „Lebe hoch!“ der versammelten Reichsräte die einfachste und zugleich schönste Antwort auf eine huldvolle Ah. Ansprache sein würde2.
III. Abhaltung eines Eröffnungsgottesdienstes für den verstärkten Reichsrat
Der Ministerpräsident teilte der hohen Konferenz ein Schreiben mit, worin der Kardinalerzbischof von Wien auf seinen früheren Antrag wegen Abhaltung eines Eröffnungsgottesdienstes für die Reichsräte zurückkommt3.
Der Kultusminister äußerte, daß, wenn er sich früher gegen die Abhaltung eines solchen feierlichen Gottesdienstes aussprach, dies in der Voraussetzung geschah, daß keine wie immer geartete Feierlichkeit mit der Eröffnung der Reichsratsberatungen verbunden würde. Da nun aber doch ein feierlicher Ah. Empfang des verstärkten Reichsrates stattfindet, müsse er sich auch dafür aussprechen, daß eine kirchliche Feier abgehalten werde. Die übrigen Minister glaubten jedoch von ihrer über diesen Gegenstand bei den früheren Beratungen ausgesprochenen Meinung nicht abgehen zu sollen4.a
IV. Frage, welcher Spielraum den Journalen in ihren Besprechungen über die Verhandlungen im verstärkten Reichsrat einzuräumen ist
b Der Polizeiminister brachte die Frage zur Sprache, welcher Spielraum den Journalen in ihren Referaten und Besprechungen über die Verhandlungen im verstärkten Reichsrate einzuräumen wäre. Es handelt sich dabei um folgende Punkte: 1. Dürfen Journale ihre tatsächlichen Mitteilungen über die im Reichsrate gepflogenen Verhandlungen auch aus anderen Quellen als den in der Wiener Zeitung zu veröffentlichenden offiziellen Protokollsauszügen schöpfen? 2. Was ist zu tun, wenn ein Journal eine im ämtlichen Auszug nicht vorkommende wahre Tatsache aus den Reichsratsverhandlungen veröffentlicht? 3. Was ist zu tun, wenn unwahre Tatsachen als den reichsrätlichen Verhandlungen entnommen publiziert werden? 4. Ist die Diskussion über den ämtlich publizierten Inhalt der Reichsratsverhandlungen freizugeben?
Vor allem wurde in Erwägung gezogen, inwiefern einem ao. Reichsrate nach der Geschäftsordnung gestattet ist, über die Beratungen im Reichsrate Mitteilungen zu machen, und es wurde einstimmig anerkannt, daß nach § 22 den Mitgliedern nur die Veröffentlichung des Inhalts der Beratungen untersagt ist, was Privatmitteilungen nicht ausschließt, welche dann durch zweite oder dritte Hand allerdings erlaubterweise zur Veröffentlichung gelangen können. Der Kultusminister glaubte, cdaß, nachdem den Reichsräten durch die Geschäftsordnung versagt sei, über die Vorfälle im Reichsrate an Zeitungen zu berichten, demzufolge auch wenn in den Zeitungen unwahre oder ungenaue Berichte erscheinen, durch deren tendenziöse Abfassung einer oder der andere sich beeinträchtiget fände, ihm kein Mittel der Verteidigung zu Gebote stünde, die Regierung diese Eventualität hintanhalten müsse und das nur dadurch geschehen könne, daß den Zeitungen unbedingt verboten würde,c über die Reichsratsverhandlungen etwas anderes oder mehreres zu bringen als das offizielle Organ. dJedes dagegen handelnde Blatt müßte konfisziert werden.d Die Diskussion dagegen wäre freizulassen. Der Justizminister fand, daß der § 22 der Preßordnung5 hinlängliche Anhaltspunkte gewähre, um die Journale für die unbefugte Veröffentlichung selbst wahrer Tatsachen zu verfolgen, wenn dies in böser Tendenz geschehen sei. Der Polizeiminister findet das Preßgesetz in seinen diesfälligen Bestimmungen so elastisch, daß er sich von der Konferenz eine Weisung erbitten müsse, ob er in solchen Fällen mit größerer oder geringerer Strenge zu Werk gehen solle. Der Reichsrat v. Plener warnt davor, in der Behandlung dieser so wie überhaupt der Preßangelegenheiten den gesetzlichen Boden zu verlassen. Wenn man auch die inländischen Journale zum Schweigen bringen kann, so vermag man es nicht gegenüber den ausländischen, und so dringt doch die Wahrheit ins Publikum. Die Veröffentlichung unwahrer Tatsachen dagegen sei strenge zu verfolgen. || S. 214 PDF || Übrigens halte er die Besprechung der reichsrätlichen Verhandlungen überhaupt nicht für so gefährlich und stimme daher für die Freigebung der Diskussion über diese Verhandlungen.
Se. k. k. Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Reichsratspräsident äußerte, es sei Höchstdesselben Absicht, die Reichsratsverhandlungen in möglichst vollständigen Auszügen zu veröffentlichen, wodurch dem Nachteil aus unbefugten Publikationen am wirksamsten begegnet werden könne6.
Wien, am 30. Mai 1860. Erzherzog Rainer.
Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Wien, den 4. Juni 1860.