Nr. 430 Ministerkonferenz, Wien, 9. Jänner 1858 - Retrodigitalisat (PDF)
- ℹ️ anwesend:
- RS.Reinschrift; P.Protokoll Marherr; VS.Vorsitz Buol-Schauenstein; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Buol 9. 1.), gesehen Bach 12. 1., Thun 13. 1., gesehen Toggenburg, Bruck, gesehen Nádasdy, gesehen Kempen 17. 1., Für Se. Exzellenz den Herrn Ersten Generaladjutanten Sr. Majestät gesehen Kellner.
MRZ. – KZ. 28 –
Protokoll der zu Wien am 9. Jänner 1858 abgehaltenen Ministerkonferenz unter dem Vorsitze des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern Grafen v. Buol-Schauenstein.
[I.] Kaiserliche Verordnung wegen Abänderung des strafgerichtlichen Verfahrens wegen Übertretungen
Gegenstand der Beratung war der beiliegende Entwurf einer kaiserlichen Verordnung über einige Änderungen des strafgerichtlichen Verfahrens bei Übertretungena,1.
Dieser Entwurf in seiner ursprünglichen (lithographierten) Fassung beruht auf der vom Justizminister angenommenen Grundlage der Intervention und des Berufungsrechtes des Staatsanwalts in Übertretungsfällen (§§ 8–13 des lithographierten Textes). Gegen dieses Prinzip hatte jedoch der Minister des Inneren Bedenken erhoben. Zweck der Verordnung ist möglichste Vereinfachung, Abkürzung des Verfahrens, schnelle Abtuung der Übertretungen und Erleichterung der erdrückenden Geschäftslast der Bezirksämter. Dieser Zweck wird durch die Bestimmungen dieser Verordnung nur unvollkommen erreicht, wenn der schleppende und erschwerende Gang der Verhandlung durch die Hände des Staatsanwalts beibehalten wird. Zwar beruht er im wesentlichen auf der dermaligen Einrichtung des Strafprozesses2. Allein dessen Beibehaltung stellt sich um so entbehrlicher dar, als die Erfahrung zeigt, daß die Übertretungen in der Regel mit dem Erkenntnisse der ersten Instanz abgetan sind, da bei den in einem Jahre verhandelten 400.000 Übertretungsfällen überhaupt nur 15.000 zur Berufung vor die zweite Instanz gekommen sind, die Anzahl der Fälle aber, wo der Staatsanwalt wegen Behandlung einer zum Verbrechen oder zum Vergehen sich qualifizierenden Handlung als bloße Übertretung Berufung eingelegt hat, um deren willen die Bestimmungen der §§ 8–13 (des lithographierten Textes) beibehalten werden sollen, in einem gegen die Anzahl der Untersuchungen wegen Übertretungen geradezu verschwindenden Verhältnisse steht (150 auf 400.000 Untersuchungen). Das Objekt der strafgerichtlichen Untersuchung bei Übertretungen ist fast durchgehends ein an sich unerhebliches, meist Verletzung einfacher Polizeivorschriften, kleine Diebstähle und sonstige Exzesse. Es läßt also in der Regel das einfachste und summarischeste Verfahren zu, besonders auf dem flachen Lande, wo die Judikatur darüber mehr || S. 283 PDF || den Charakter einer friedensrichterlichen annimmt, welcher die theoretisch zwar begründeten, für wichtigere Straffälle auch notwendigen Formalitäten möglichst ferne bleiben sollten. Wenn es zulässig befunden worden, die Untersuchungen wegen Übertretungen und deren Aburteilung in erster Instanz ohne Intervenierung des Staatsanwalts geschehen zu lassen, so dürfte es auch entbehrlich gefunden werden, ihm, dessen Wirksamkeit vornehmlich für den höheren Gang der Justiz berechnet ist, die in den gedachten Paragraphen vorbehaltene Revision aller dieser kleinen Verhandlungen aufzulasten, die, will er sie gewissenhaft vornehmen, ihn entweder zum Nachteile der davon betroffenen Parteien oder anderer wichtigerer Geschäfte zuverlässig in Rückstände bringen wird. Nachdem der Zweck der dem Staatsanwalt vorbehaltenen Revision der Übertretungsuntersuchungen vornehmlich darin besteht, zu verhüten und zu entdecken, daß Handlungen, die sich zum Vergehen oder Verbrechen qualifizieren, als bloße Übertretungen behandelt werden, dieser Zweck aber weit einfacher dadurch zu erreichen ist, wenn der Grundsatz ausgesprochen wird, daß das Obergericht ein derlei gesetzwidriges Erkenntnis, bsolang nicht die Verjährung eingetreten ist,b von Amts wegen zu kassieren und entweder unmittelbar das Urteil nach dem Gesetze zu fällen, oder das weitere Verfahren einzuleiten befugt sein soll, so wären Se. Majestät zu bitten, es von der in den §§ 8–13 lithographierten Textes dem Staatsanwalte vorbehaltenen Amtshandlung in Übertretungen abkommen zu lassen.
Die Konferenz teilte einstimmig die Ansicht des Ministers des Inneren, und es wurde sonach der Entwurf mit den in demselben ersichtlich gemachten, vom Justizminister bereits in diesem Sinne vorbereiteten Änderungen der Beratung unterzogen und in dieser Gestalt, bis auf den § 8 (neuen Textes), einstimmig angenommen.
Bei diesem § 8 beantragte nämlich der Minister des Inneren die Hinweglassung des eingeklammerten zweiten Absatzes des 1. alinea und des 2. alinea. In dem ersteren soll den Bezirksgerichten das durch die §§ 261, 262 und 266 Strafgesetz3 eingeräumte Strafumwandlungs- und Milderungsrecht (unter das gesetzliche Strafminimum) entzogen und dem Gerichte zweiter Instanz vorbehalten bleiben. Allein, dieses Recht ist im Strafgesetze begründet, bei der Ausübung an gewisse gesetzliche Bedingungen gebunden, und sobald es rücksichtlich der ungleich wichtigeren Verbrechen und Vergehen beibehalten bleibt, gerade bei den Übertretungen umso weniger zu beanständen, als dieselben ihrer Natur nach in der Regel eine schonendere Behandlung zulassen. Die Entziehung dieses Rechts der ersten Instanzen würde nur eine namhafte Vermehrung der Berufungen gegen die bezirksgerichtlichen Erkenntnisse zur Folge haben.
Die Mehrheit der Konferenz erklärte sich daher für die Weglassung des Satzes von „dagegen können“ etc. bis „in Anwendung gebracht werden“. Nur der Justizminister beharrte auf der Beibehaltung desselben als der wesentlichen Bedingung der von ihm zugestandenen Beseitigung der Amtshandlung des Staatsanwalts. Denn bei der durch die Erfahrung bestätigten Tendenz der Untergerichte, von dem Milderungsrechte den ausgedehntesten Gebrauch zu machen, würde mit dem Wegfall der Intervention und des Rekursrechts des Staatsanwaltes fast jede Garantie der gewissenhaften Beobachtung der Bedingungen der || S. 284 PDF || §§ 261, 262 und 266 entfallen und kein Reicher mehr nach der Strenge des Gesetzes behandelt werden; wogegen der Handelsminister bemerkte, daß eine solche Garantie durch zeitweise Revisionen von Seite des Obergerichts zu erreichen sein dürfte.
Im Schlußabsatze des § 8 soll den Berufungsbehörden das Recht eingeräumt werden, das Urteil des Bezirksgerichts etc. in deteriorem sententiam abzuändern4. Dies verstößt gegen einen allgemeinen, im ganzen Strafrechte unbedingt festgehaltenen Grundsatz und wäre daher nach dem Erachten des Ministers des Inneren zu streichen. Auch der Kultusminister trat dieser Ansicht bei, insofern der Straffall über den Rekurs des Verurteilten (nicht des Beschädigten) zur höheren Entscheidung gelangt und es sich um die Verschärfung der Strafe handeln sollte.
Der Justizminister beharrte dagegen unter Zustimmung der übrigen Votanten auf der Beibehaltung dieses Absatzes, weil damit ein Mittel geboten ist, der schon oben bemerkten Tendenz der Unterbehörden zur allzu milden Auffassung Schranken zu setzen, und weil, wie der Handelsminister bemerkte, mutwillige Rekurse hintangehalten werden, die sonst ergriffen würden, wenn der Verurteilte weiß, daß ihm wohl eine Milderung, nie aber eine Verschärfung bevorstehen kann. Auch gegen die dermaligen Strafrechtsprinzipien scheint diese Bestimmung nicht zu verstoßen, da über den Rekurs des Staatsanwalts, der nun aufhören soll, eine Verschärfung eintreten kann. Endlich machte der Chef der Obersten Polizeibehörde darauf aufmerksam, daß auch nach dem Militärstrafgesetze5 eine Verschärfung des Urteils in höherer Instanz zulässig ist.
Im § 19 wurde mit allseitiger Zustimmung die Wirksamkeit der Verordnung nicht auf den Tag ihrer Kundmachung, sondern, der nötigen Vorbereitung zu ihrer Ausführung wegen, auf einen späteren, näher festzusetzenden Termin anberaumt, endlich die Abforderung der bisherigen Ausweise für das letzte Quartal der Amtshandlung des Justizministers überlassen. In den Beilagen zu dem Verordnungsentwurfe würde beim Formulare A ad II., lit. f., auf Antrag des Ministers des Inneren wegen der Schwierigkeit, in allen Fällen die Landesund Gemeindezuständigkeit eines Inquisiten zweifellos festzustellen, durch einen Beisatz „so weit sie bekannt oder leicht erhebbar ist“ einer diesfalls etwa sich entspinnenden längern Verhandlung vorzubeugen, dann ad VIII. bei den Erkenntnissen über Freisprechung aus Mangel der Beweise und bei Ablassungserkenntnissen nach dem Antrage des Handelsministers von der Angabe der „Beweisarten“ abzugehen, endlich ad IX. die Rubrik D „Berufungen des Staatsanwalts“ ganz zu streichen sein6.
Wien, am 9. Jänner 1858. Gr[af] Buol.
Ah. E. Ich nehme den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis. Franz Joseph. Wien, 3. Mai 1858.