Gemeinsamer Ministerrat, 31. 7. 1914
I. Beratung über den englischen Vermittlungsvorschlag und über Kompensationen an Italien
Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z3.pdf.
Ministerrates nicht etwa notwendig erscheinende strategische Grenzberichtigun¬ gen unmöglich machen. Nachdem der k.u.k. Kriegsminister erklärt hat, dass er diesem Be¬ schlüsse zustimmen würde, jedoch nur unter der Bedingung, dass ausser einer Grenzberichtigung auch die dauernde Besetzung eines Brückenkopfes jenseits der Save, etwa des Schabatzer Kreises, hiedurch nicht ausgeschlossen werden dürfe, wird der nachstehende Beschluss einstimmig gefasst: Der gemeinsame Ministerrat beschliesst auf Antrag des königlich ungarischen Ministerpräsidenten, dass sofort bei Beginn des Krieges den fremden Mächten erklärt werde, dass die Monarchie keinen Eroberungskrieg führt und nicht die Einverleibung des Königreiches beabsichtigt. Natürlich sollen strategisch notwen¬ dige Grenzberichtigungen sowie die Verkleinerung Serbiens zu Gunsten anderer Staaten sowie eventuell notwendige vorübergehende Besetzungen serbischer Ge¬ bietsteile durch diesen Beschluss nicht ausgeschlossen werden. Der Vorsitzende konstatiert hierauf, dass erfreulicherweise in allen Fra¬ gen vollständige Einmütigkeit erzielt worden sei und hebt hierauf den Ministerrat auf. Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministefrates bestätigt. In der rechten oberen Ecke dieses Bogens mit Bleistift geschrieben: »f(ertig)«. Auf dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Wien, am 5. August 1914.« Am Rand des Blattes rechts die Unterschrift Berchtolds, links die des Protokollführers Hoyos. -- Ebd. das handschriftliche Konzept des Protokolls mit einigen belanglosen Korrek¬ turen. (Ohne Handzeichen.) 3. Wien, 31. Juli 1914 Beschluß, das Friedensvermittlungsangebot Großbritanniens in höflicher Form abzuleh¬ nen. Debatte über die Befriedigung der territorialen Ansprüche Italiens auf der Grund¬ lage des Dreibundes. Diese Ministerkonferenz ist vom Gesichtspunkt der Ausweitung des Konflikts zwischen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und Serbien zu einem Weltkriege von ausschlaggebender Bedeutung. Der britische Außenminister Grey hatte wiederholt (zuletzt noch vier Tage vor diesem Ministerrat, am 27. Juli) durch den Londoner Botschafter des Deutschen Reiches, den Fürsten Lichnowsky, vorgeschlagen, die vier unmittelbar nichtinteressierten Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Deutsch¬ land und Italien) sollten in dem Falle, daß Rußland an der Seite Serbiens auftrete, zwischen den Parteien vermitteln. Die deutsche Reichsregierung hat das Angebot -- wie auch aus dem zum Protokoll beigefügten »Tagesbericht« hervorgeht -- an die Regierung der Monarchie weitergeleitet. Die gemeinsame Ministerkonferenz hat jedoch das britische Angebot, wenn auch taktvoll und von Bedingungen abhängig, abgelehnt. Nicht zuletzt auch darum, weil der deutsche Reichskanzler Bethmann- Hollweg selbst den Schein meiden wollte, daß er die Entscheidung der Regierung der Monarchie beeinflusse. In seinen mündlichen Mitteilungen hat er dies auch mehrfach 154 <pb/> zum Ausdruck gebracht. Vermutlich in der irrigen und politisch sehr falschen Meinung, Rußland werde doch nicht an der Seite Serbiens eingreifen und der Konflikt werde isoliert bleiben. Der Ministerrat befaßte sich zum erstenmal mit der italienischen Frage. Sie wurde dann in den Sitzungen vom 8. und 19. August, 7. und 20. September, 31. Ok¬ tober 1914, 3. Februar und 8. März 1915 wiederholt behandelt, in immer pessimi¬ stischerem Ton; schließlich ging es um die Sicherung der Neutralität Italiens und dann: wie, eventuell unter welchen Opfern Italien zurückgehalten werden könnte, gegen seinen einstigen Verbündeten bewaffnet aufzutreten. Protokoll des zu Wien, am 31. Juli 1914 abgehaltenen Ministerratesfür gemeinsame Angelegenheiten, unter dem Vorsitze des Ministers des k.u.k. Hauses und des Äußern Grafen Berchtold. K.Z. 60. - G.M.K.P.Z. 514. Gegenwärtige: der k.k. Ministerpräsident Graf S t ü r g k h, der kgl. ung- Ministerpräsident Graf T i s z a, der k.u.k. gemeinsame Finanzminister Ritter von B i 1 i n s k i, der k.u.k. Kriegsminister FZM. Ritter von K r o b a t i n, der kgl. ung. Minister am Allerhöchsten Hoflager Freiherr von B u r i ä n, der Stellvertreter des k.u.k. Marinekommandanten Konteradmiral v. K a i 1 e r. Protokollführer: Legationsrat Graf H o y o s. Gegenstand: Beratung über den englischen Vermittlungsvorschlag und über Kompensationen an Italien. Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und verliest einen Tagesbericht vom 30. d. M.* Hieran anknüpfend erklärt Graf Berchtold, er habe dem deutschen Botschafter, als dieser ihm den enghschen Vorschlag vorlegte, sogleich erklärt, dass eine Ein¬ stellung unserer Feindseligkeiten gegen Serbien unmöglich sei. Über den Vermitt¬ lungsvorschlag könne er nicht allein entscheiden, sondern er müsse hierüber die Befehle Seiner Majestät einholen und die Angelegenheit im Ministerrate bespre¬ chen. Er habe dann Seiner k. und k. Apostolischen Majestät über den Inhalt der Demarche des deutschen Botschafters Vortrag erstattet, Allerhöchstwelcher sofort erklärt habe, dass die Einstellung der Feindseligkeiten gegen Serbien unmöglich sei. Seine Majestät habe aber den Antrag genehmigt, dass wir es zwar sorgsam ver¬ meiden, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht anzunehmen, dass wir aber in der Form unserer Antwort Entgegenkommen zeigen und dem Wunsche des deutschen Reichskanzlers, die Regierung" nicht vor dem Kopf zu stossen, auf diese Weise entgegenkommen. *) Laut Tagesbericht hat der deutsche Botschafter in Wien, Tschirschky, am 30. Juli Außenminister Berchtold über die Unterredung zwischen Sir E. Grey und dem deut¬ schen Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, informiert. Sir Grey soll mitgeteilt haben, England denke auf Ansuchen Rußlands an eine Vermittlung ä quatre, unter der Bedingung der Einstellung der Feindseligkeiten gegen Serbien (S. Österreich--Ungarns Außenpolitik. Band VIII, Nr. 11025). a) Sic! 155 <pb/> Die Antwort an die deutsche Regierung sei noch nicht ausgearbeitet, er könne aber jetzt schon sagen, dass bei ihrer Textierung auf drei Grundprinzipien Bedacht zu nehmen sein werde, nähmlich 1. Die kriegerischen Operationen gegen Serbien müssen fortgesetzt werden. 2. Wir könnten über den englischen Vorschlag nicht unterhandeln, solange die russische Mobihsierung nicht eingestellt werde und 3. unsere Bedingungen müssten integral angenommen werden und wir könnten uns in keine Verhandlungen über dieselben einlassen. Erfahrungsgemäss versuchten die Mächte in solchen Fällen immer Abstriche bei Weitergabe seitens einer Macht aufgestellter Bedingungen zu machen, es sei sehr wahrscheinlich, dass man dies auch jetzt versuchen würde, wo bei der jetzigen Zusammensetzung Frankreich, England und auch Itahen den russischen Stand¬ punkt vertreten würden und wir an dem gegenwärtigen deutschen Vertreter in London eine sehr zweifelhafte Stütze hätten. Von dem Fürsten Lichnowsky sei alles andere zu erwarten, als dass er unsere Interessen warm vertreten würde. Wenn die Aktion jetzt nur mit einem Prestigegewinne endete, so wäre sie seiner Ansicht nach ganz umsonst unternommen worden. Wir hätten von einer einfachen Beset¬ zung Belgrads gar nichts, selbst wenn Russland hiezu seine Einwilligung geben würde. Alles dies wäre Flitterwerk, Russland würde als Retter Serbiens und namentlich der serbischen Armee auftreten. Letztere würde intakt bleiben und wir hätten in zwei bis drei Jahren wieder einen Angriff Serbiens unter viel ungün¬ stigeren Bedingungen zu gewärtigen. Er beabsichtige daher, auf den englischen Vorschlag in sehr verbindlicher Form zu antworten, dabei aber die vorerwähnten Bedingungen zu stellen und zu vermeiden, auf den meritorischen Teil einzu¬ gehen. Der gemeinsame Finanzminister weist darauf hin, dass durch unsere Mobilisierung eine ganz neue Situation geschaffen worden sei. Vorschläge, die in einem früheren Zeitpunkte akzeptabel gewesen wären, seien jetzt nicht mehr annehmbar. Der kgl. ung. Ministerpräsident erklärt, er schliesse sich den Aus¬ führungen des Vorsitzenden vollkommen an und sei auch der Ansicht, dass es verhängnisvoll wäre, auf das Meritum des englischen Vorschlages einzugehen. Unsere Kriegsoperationen gegen Serbien müsstenjedenfalls ihren Fortgang nehmen. Er frage sich aber, ob es notwendig sei, schon jetzt überhaupt unsere neuen For¬ derungen an Serbien den Mächten bekanntzugeben und würde Vorschlägen, die englische Anregung dahin zu beantworten, dass wir prinzipiell bereit wären, der¬ selben näherzutreten, jedoch nur unter der Bedingung, dass unsere Operationen gegen Serbien fortgesetzt werden und die russische Mobilisierung eingestellt werde. Der k.k. Ministerpräsident führt aus, der Gedanke einer Konferenz sei ihm so odios, dass er selbst ein scheinbares Eingehen auf denselben vermeiden möchte. Er halte daher den Vorschlag des Grafen Tisza für den richtigen. Wir müssten den Krieg mit Serbien fortsetzen und uns bereit erklären, mit den Mächten weiter zu verhandeln, sobald Russland seine Mobilisierung ein¬ stelle. 156 <pb/> Herr von B i 1 i n s k i findet die Anregung des Grafen Tisza ausserordentlich geschickt und würden wir durch das Stellen der erwähnten zwei Bedingungen Zeit gewinnen. Auch er könnte sich mit der Idee einer Konferenz nicht befreunden. Der Verlauf der Londoner Konferenz stünde in so entsetzlicher Erinnerung, dass sich die ganze Öffentlichkeit gegen die Wiederholung eines solchen Schauspieles auf¬ lehnen würde. Auch er sei der Ansicht, man solle den englischen Vorschlag nicht schroff ablehnen. Nachdem noch Freiherr von B u r i ä n sich in zustimmendem Sinne geäussert hat, wird der Vorschlag des Grafen Tisza einstimmig angenommen und festge¬ stellt, dass prinzipielle Geneigtheit besteht, auf den enghschen Vorschlag unter den zwei vom Grafen Tisza aufgestellten Bedingungen einzugehen. Der Vorsitzende hebt hierauf hervor, wie wichtig es sei, Italien beim Dreibund zu erhalten. Nun hätte sich aber Italien auf den Standpunkt gestellt, der Konflikt sei von uns provoziert worden und unser Vorgehen gegen Serbien habe eine aggressive Spitze gegen Russland. Aus allen Äusserungen des Marquis di San Giuliano gehe klar hervor, dass die ganze italienische Haltung von dem Ver¬ langen nach einer Kompensation getragen sei. Italien stütze dieses sein Verlangen auf den Wortlaut des Artikels VH des Dreibundvertrages.1 Unsere Auffassung sei, dass laut dieses Artikels das Recht auf eine Kompensation nur dann bestünde, wenn wir türkisches Gebiet auf dem Balkan dauernd oder vorüber¬ gehend besetzen würden, da dem Geiste des Vertrages nach nur von Gebieten des Empire Ottoman die Rede sein könne. Italien behaupte dagegen, dass, nach¬ dem an einer Stelle auch die Worte dans les Balcans Vorkommen, die ganze Bal¬ kaninsel gemeint sei. Wenn sich auch die italienische Auffassung durch eine Reihe von Gründen bekämpfen Hesse, so müsse er doch darauf hinweisen, dass die deutsche Regierung sich die Anschauung Italiens zu eigen gemacht hätte. Im Laufe der letzten Woche seien täglich Demarchen bei ihm gemacht worden, um zu erreichen, dass sich die k.u.k. Regierung der Auffassung der Kompensa¬ tionsfrage seitens der zwei anderen verbündeten Mächte anschhesse. Der k.u.k. Kriegsminister erwähnt, dass ihm der k.u.k. Militärat¬ tache in Berlin berichtet hätte über Unterredungen, die er mit Kaiser Wilhelm und Generalstabschef Graf Moltke gehabt hätte, in welchen beide in eindringHcher Weise hervorgehoben hätten, wie wichtig ein aktives Eingreifen Italiens in dem bevorstehenden Konflikte sei und dass es daher äusserst wünschenswert wäre, wenn die k.u.k. Regierung Italien in der Kompensationsfrage entgegenkommen würde. Der Vorsitzende erklärt, man hätte ihm von Rom aus wissen lassen, der bevorstehende Krieg widerstreite den italienischen Interessen, da durch einen günstigen Ausgang desselben unsere Machtstellung am Balkan vermehrt würde. Unter diesen Umständen könne ItaHen nur dann aktiv eingreifen, wenn seine 1 Der 3. Dreibundvertrag (6. Mai 1891.) im Art. VII. wollte den territorialen Status quo im Orient solange, wie möglich aufrechterhalten. Die Unterzeichner »werden sich zu diesem Zwecke alle Nachrichten mitteilen, die geeignet sind, sich wechselseitig über ihre eigenen Pläne sowie über die anderer Mächte zu unterrichten«. 157 <pb/>Ansprüche anerkannt würden. Er habe den k.u.k. Botschafter in Rom bisher beauftragt, mit vagen Phrasen auf die Kompensationsforderungen zu antworten und dabei immer wieder nachdrücklich zu betonen, dass uns der Gedanke an territoriale Erwerbungen ferne liege. Wenn wir aber gegen unseren Willen dazu gezwungen würden, eine nicht nur vorübergehende Okkupation vorzunehmen, so wäre noch immer Zeit, der Kompensationsfrage näherzutreten. Er sehe nun zwei Wege, die man hier einschlagen könne. Entweder auf der eige¬ nen Auslegung des Artikels VII zu beharren, aber mit einem »beau geste« Itahen eine Kompensation zuzusprechen, oder aber die italienische Auslegung des Artikels VII anzunehmen, wobei ausdrücklich hervorzuheben wäre, dass Italien nur dann Anspruch auf eine Kompensation hätte, wenn wir zu einer dauernden Besitzergrei¬ fung eines Gebietes auf der Balkanhalbinsel schreiten würden. Zum Schlüsse wolle er daraufhinweisen, dass wir während des lybischen Feldzuges den Artikel VII in sehr rigoroser Weise ausgelegt hätten. Freiherr von B u r i ä n und Graf T i s z a betonen, dass man nicht nur die italienische Interpretation des Artikels VII des Vertrages anfechten könne, sondern auch die Auffassung der italienischen Regierung, dass der Casus foederis für sie nicht gegeben sei. Daher sollte man nur unter der Bedingung sich zu Konzessionen entschliessen, dass die italienische Kooperation im Falle eines grossen Krieges tatsächlich Platz greife. Herr von B i 1 i h s k i weist darauf hin, dass der grosse Kampf, der bevorstehe, für die Monarchie ein Existenzkampf sei. Wenn die effektive Hilfe Italiens in diesem Kampfe wirklich von so grossem Werte sei, so werde man wohl ein Opfer bringen müssen, um dieselbe zu erkaufen. Graf S t ü r g k h vertritt den Standpunkt, dass Italien keinen Anspruch auf eine Kompensation erheben könne, wenn es nach Ausbruch des grossen Krieges seine Bundespflicht nicht erfülle. Der Ministerrat erteilt hierauf dem Vorsitzenden die prinzipielle Ermächtigung, Italien für den Fall als wir eine dauernde Besetzung serbischen Territoriums vornehmen sollten, eine Kompensation in Aussicht zu stellen und wenn es die Umstände erheischen sollten und Italien seine Bundespflicht tatsächlich erfüllte, auch über die Abtretung Valonas an Italien zu sprechen, in welchem Falle Österreich-Ungarn sich den ausschlaggebenden Einfluss in Nordalbanien sichern würde. Hierauf erklärt der Vorsitzende die Beratung für beendet. Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. An der rechten oberen Ecke dieses Bogens mit Bleistift geschrieben: »fertig«. Auf dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Wien, 21. August 1914.« Unter dem Text rechts die Unterschrift Berchtolds, links die des Protokollführers Hoyos. -- Ebd. das handschriftliche Konzept mit den Korrekturen des Protokollführers. 158 <pb/>