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Gemeinsamer Ministerrat, 24. 5. 1914

I. Verhandlungen mit Serbien betreffend die Orientalischen Eisenbahnen

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VI/pdf/oe_hu_mrp_VI_z47.pdf.

642 Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914

   Über eine weitere Anregung des kgl. ung. Ministerpräsidenten wird die Frage
der serbischen Bahnen besprochen. Die Serben hätten sich jetzt entschieden ins
Unrecht gesetzt. Unsere Vertretung in Belgrad müsse sehr energisch protestie¬
ren.

   Der Vorsitzende führt aus, daß es sich um zwei Dinge handle. Erstens
um die Restitution des den Orientbahnen weggenommenen Betriebes an diesel¬
ben und zweitens um die Tarifffage, durch deren Behandlung die Convention ä
quatre verletzt zu sein scheint.13 Da in letzterer Hinsicht zunächst die Bahnverwal¬
tungen betroffen sind, würde er bitten, daß sich beide Regierungen an das Mini¬
sterium des Äußern wenden. Jedenfalls handle es sich um unser Prestige und
unsere Interessen und um Vorsorge für die Zukunft. Denn bei der bekannten Psy¬
che der Serben müsse man sich vor Augen halten: principiis obsta. Nachdem
noch beide Ministerpräsidenten zugesagt, daß sie die Fundierung der Beschwerde
sehr sorgfältig prüfen lassen werden,14 schließt der Vorsitzende um 4 Uhr 15 Mi¬
nuten die Sitzung.

                                                                                             Berchtold

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen.
Wien. 24. Jänner 1914. Franz Joseph.

       Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. Mai 1914

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der k. k. Ministeipräsident Graf Stürgkh, der kgl. ung. Ministerpräsident Graf
Tisza, der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Dr. Ritter v. Bilinski (22. 6.), der k. k. Eisenbahnmi¬
nister Dr. Freiherr v. Förster (24. 6.), der k. k. Handelsminister Dr. v. Schuster (25. 6.), der kgl. ung.
Handelsminister Freiherr v. Harkänyi, der k. k. Finanzminister Freiherr v. Engel, der kgl. ung. Fi¬
nanzminister Dr. Teleszky, der k. u. k. Sektionschef im k. u. k. Ministerium des Äußern Graf Wik-
kenburg, der k. k. Sektionschef im k. k. Handelsministerium Riedl, der k. k. Ministerialrat im

         Tisza bestimmt, HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 867/1914. Der Voranschlagfilr 1914/15 in Km.,
         MKSM., Karton 1149, Fasz. Voranschlag für das Budgetjahr 1914/15. Über Vortrag des ge¬
         meinsamen Ministeriums v. 20. 4. 1914 wurde der gemeinsame Budgetentwurffür 1914/15
         mit Ah. E. v. 22. 4. 1914 resolviert, HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 974/1914. Nach der Annah¬
         me des Budgetsfür 1914/15 durch die Delegationen wurde es über Vortrag Berchtolds v. 12.
         6. 1914 mit Ah. E. v. 14. 6. 1914 sanktioniert, ebd., KZ. 1476/1914.
         Gemeint ist der Betrieb der Orientbahn durch den serbischen Staat im neu erworbenen Ge¬
         biet. Zur Situation siehe die Note über die Orientbahn o. D. undAngaben über Absender und
        Empfänger als Beilage A der Referentenbemerkungen in Fa., FM., allg., Z. 91370/1913.
        Die Frage des Kaufes der Aktien der Betriebsgesellschaft der Orientalischen Einsenbahn
         durch ein Konsortium cisleithanischer und ungarischer Banken war zur Sprache gekommen
         in GMR. v. 21. 2. 1913, GMKPZ. 504. Fortsetzung über die Rechte der Orientalischen Ein¬
         senbahn in Serbien in GMR. v. 24. 5. 1914, GMKPZ. 511.
<pb/>Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914  643

k. k. Handelsministerium Dr. Ondraczek, der k. k. Sektionschef im k. k. Eisenbahnministerium Dr.
Grienberger, der k. k. Ministerialrat im k. k. Eisenbahnministerium Dr. v. Piechler, der kgl. ung.
Staatssekretär im kgl. ung. Handelsministerium Dr. v. Lers, der kgl. ung. Ministerlairat im kgl. ung.
Handelsministerium v. Neumann, der kgl. ung. Sektionsrat im kgl. ung. Handelsministerium
Mätray, der k. u. k. Sektionschef im k. u. k. gemeinsamen Finanzministerium Freiherr v. Klimburg,
der k. u. k. Oberstleutnant im k. u. k. Kriegsministerium Poll.

    Schriftführer: Generalkonsul Joannovics.
    Gegenstand: Verhandlungen mit Serbien betreffend die Orientalischen Eisenbahnen.

   KZ. 43-GMKPZ. 511

   Protokoll des zu Budapest am 24. Mai 1914 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des Ministers des k. u. k. Hau¬
ses und des Äußern Grafen Berchtold.

    Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung um 10 !4 Uhr vormittags und
gibt der Konferenz zunächst eine Darstellung des gegenwärtigen Standes der Ver¬
handlungen betreffend die Orientbahnen.1 Nachdem die Bedingungen, unter
welchen die kgl. serbische Regierung die Intemationalisierung der aufserbischem
Territorium gelegenen Linien durchzufuhren sich bereit gefunden hatte, den in
Betracht kommenden Interessen Österreich-Ungams in ungenügendem Maße
Rechnung getragen hätten, sei österreichisch-ungarischerseits beschlossen wor¬
den, das Intemationalisierungsprojekt nicht weiter zu verfolgen und sich auf den
ursprünglich eingenommenen Rechtsstandpunkt, das ist die Rückgabe des Be¬
triebsrechtes an die Gesellschaft, zurückzuziehen.

   Dem gegenüber strebe Serbien die Verstaatlichung an und habe sich, im Falle
österreichisch-ungarischerseits dieser Lösung zugestimmt werden sollte, zu ge¬
wissen wirtschaftlichen Zugeständnissen an Österreich-Ungarn bereit erklärt.
Diese Zugeständnisse betreffen, einer dem k. u. k. Gesandten in Belgrad offiziell
überreichten Aufzeichnung des kgl. serbischen Ministeriums des Äußern zufol¬
ge, die Sicherstellung des Eisenbahnanschlusses bei Vardiste sowie des Baues der
Sandschakbahn, die Ausdehnung der Convention ä quatre auf einen Teil der neu¬
en Linien, die Revision der Konventionaltarife, die Überlassung des Baues und
der Lieferungen für eine der projektierten Linien an österreichische und ungari¬
sche Unternehmer, endlich die Durchführung der Verstaatlichung im Verhand¬
lungswege mit der Betriebsgesellschaft unter Vorbehalt schiedsgerichtlicher Ent¬
scheidung im Falle der Nichteinigung.2

Die Frage der Verstaatlichung der Linien der Orientbahngesellschaft durch Serbien war zur
Sprache gekommen in GMR. v. 14. 12. 1913, GMKPZ. 510.
Telegramm Giesels an Berchtold v. 9. 5. 1914, HHStA., Admin. Reg., F 19, Karton 48, Fasz.
19 Serbische Eisenbahnkonvention, Nr. 63. Siehe dazu auch das Schreiben (Kopie) des Un¬
terhändlers der Betriebsgesellschaft der Orientalischen Einsenbahn mit der serbischen
Regierung an den Direktor des Wiener Bankenvereins, v. 1. 5. 1914, Fa., FM., allg Z
32114/1914.
<pb/>644 Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914

   Um die serbischen Propositionen rücksichtlich ihres Wertes beurteilen zu kön¬
nen, sei zunächst zwischen der k. k. und der kgl. ung. Regierung ein Einverneh¬
men rücksichtlich der nachstehend erwähnten Punkte erforderlich, bei welchen
bisher eine Divergenz der Auffassungen bestanden habe, nämlich:

   a) in der Frage der Ausdehnung der Convention ä quatre auf die bosnischen
Linien, die zu einem dalmatinischen Hafen fuhren,

   b) in der Frage der Revision der Konventionaltarife auch für diese Linien unter
tunlichster Festlegung der gegenwärtig geltenden Orienttaxen für eine längere
Zeitdauer.

   Der Vorsitzende ersucht die beiden Regierungen, sich zu diesen Fragen zu
äußern.

   Der k. k. Ministerpräsident verweist einleitend auf den Um¬
stand, daß diese Fragen kürzlich die Zoll- und Handelskonferenz befaßt haben,
welcher es nicht gelungen sei, ein Einvernehmen zu erzielen.3 Es sei daher die
gegenwärtige gemeinsame Besprechung der Minister einberufen worden, wel¬
cher, da es sich um sehr intrikate Fragen des Tarifwesens handle, auch die Refe¬
renten der Ressortministerien zugezogen wurden. Die zwischen der Monarchie
und Serbien in Schwebe befindliche Orientbahnffage habe außer der wirtschaftli¬
chen auch eine politische Bedeutung. Sie habe die Aufinerksamkeit der ganzen
Welt auf sich gezogen und es sei daher auch im Interesse des Prestiges der Mon¬
archie gelegen, zu einem guten Abschlüsse zu gelangen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident teilt vollständig die Auffas¬
sung seines Vorredners, was die politische Seite der Frage anbelangt und glaubt,
daß man trachten müsse, die Angelegenheit in einer Weise zu bereinigen, welche
eine Lösung der Frage im Rahmen unserer Wünsche ermöglicht. Schon um dies
zu erreichen, sei die kgl. ung. Regierung bereit, diejenigen eisenbahn- und ver¬
kehrspolitischen Fragen wohlwollend und entgegenkommend zu behandeln, bei
welchen die Erfüllung der auf die Erschließung eines Weges zur Adria hinzielen¬
den serbischen Wünsche notwendig sei. Die gleichen Erwägungen, welche Öster¬
reich-Ungarn veranlaßt hätten, Serbien den Zugang zum Adriatischen Meere über
Albanien zuzugestehen, kämen auch für die Gewährung dieses Zuganges über
Bosnien und die Herzegowina in Betracht, welcher überdies den Vorteil biete,
Serbien von der Donau-Adriabahn abzulenken.

    Was nun die Rückwirkung der Serbien auf den in Rede stehenden Linien zu
gewährenden Zugeständnisse auf die wirtschaftlichen Interessen der beiden Staa¬
ten der österreichisch-ungarischen Monarchie anbelange, so sei es allerdings die
Pflicht der Regierung des einen Staates, die kommerziellen Interessen des ande¬
ren nach Tunlichkeit zu fördern; nur komme hiebei der Gesichtspunkt der Rezi¬
prozität in Betracht. Alle, die beiden Staaten der Monarchie berührenden wirt-

3 Konferenz v. 19. 5. 1914 in Angelegenheit der Orientbahn. Ein Protokoll dieser Konferenz
         wurde anscheinend nicht erstellt, aber ein Resume (K.) befindet sich in HHStA., Admin.
         Reg., F 19, Karton 48, Fasz. Serbische Eisenbahnkonvention, Z. 51725/1914.
<pb/>Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914  645

 schaftlichen Fragen müssen von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet werden.
 Man werde daher ungarischerseits die österreichischen Interessen immer zu för¬
 dern bereit sein, wenn die Reziprozität gewahrt bleibe. Dieser Gesichtspunkt
 komme insbesondere auch bei den eisenbahnpolitischen Fragen zur Geltung.
 Wenn durch den in Rede stehenden bosnisch-dalmatinischen Eisenbahnanschluß
 an Serbien und die Ausdehnung der Convention ä quatre auf die in Betracht kom¬
menden bosnischen und dalmatinischen Linien sowie durch die hieraus sich erge¬
benden Tarifverhältnisse wichtige Exportinteressen Österreichs nach dem Osten
gefördert werden, ohne daß entsprechende Exportinteressen Ungarns gegen den
Westen hin Berücksichtigung finden würden, so entstehe eine für Ungarn ungün¬
stige Situation; die ungarische Regierung hätte sich dann eines für die nächsten
Ausgleichsverhandlungen wichtigen Kompensationsobjektes begeben, ohne hie-
fur einen Gegenwert empfangen zu haben. Sie sei daher in dieser Erwägung nur
unter der Bedingung bereit, den in Betracht kommenden österreichischen Interes¬
sen Rechnung tragend, in den in Verhandlung stehenden verkehrspolitischen Fra¬
gen ein Entgegenkommen zu zeigen, wenn die analogen reziproken Interessen
Ungarns gleichfalls gewahrt werden. Zu diesem Zwecke müßten wenigstens die
zwischen den beiden Staaten der Monarchie schwebenden eisenbahnpolitischen
Fragen schon jetzt der Lösung zugefuhrt werden und sei die kgl. ung. Regierung
bereit, die Verhandlungen hierüber aufzunehmen.

    Der k. k. Ministerpräsident möchte zu dem von seinem Vor¬
redner eingenommenen Standpunkte nur ganz allgemein erwidern, daß es sich in
dem in Verhandlung stehenden Falle nicht um ein österreichisches Exportinteres¬
se sondern um die Beantwortung der Frage handle, ob man österreichisch-unga-
rischerseits dem zustimmen könne, daß Serbien vom Gesichtspunkte seiner, d. i.
der serbischen Exportinteressen, die Ausdehnung der Convention ä quatre auf die
bosnisch-dalmatinischen Linien gewährt werden könne. Es handle sich also nicht
um eminente österreichische Interessen sondern um ein Zugeständnis für den ser¬
bischen Export. Eine nähere Prüfung und Konkretisierung dieser Frage sei daher
erwünscht und wenn sich hiebei heraussteilen sollte, daß diese Annahme den
Tatsachen entspreche, so wäre die ungarischerseits zur Sprache gebrachte Kom-
pensationsffage wohl kaum in den Vordergrund der Verhandlungen zu ziehen.

   Der vom k. k. Ministerpräsidenten gegebenen Anregung entsprechend, legt der
k. k. Eisenbahnminister an der Hand der für einige Artikel berech¬
neten Tarifsätze den großen Unterschied zwischen den auf der Route via Belgrad
und den über Metkovic geltenden Sätzen dar, welcher sich als so erheblich dar¬
stelle, daß er selbst durch die weitgehendsten Ermäßigungen österreichischerseits
nicht ausgeglichen zu werden vermöchte. Es könne daher von einer Begünsti¬
gung des österreichischen Exportes oder von einer Schädigung der ungarischen
Interessen nicht die Rede sein. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, so müsse es
in Anbetracht der entgegenkommenden Haltung der k. k. Regierung in dem gan¬
zen bosnisch-herzegowinischen Eisenbahnhauprogramm als eine fast einseitige
Auffassung bezeichnet werden, wenn bei der ersten Gelegenheit, die sich biete,
<pb/>646 Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914

um den bosnischen Bahnen und im Zusammenhänge damit auch für Dalmatien
einen kleinen Nutzen zu erreichen, schon die bloße Möglichkeit eines solchen zu
Befürchtungen Anlaß gebe. In der Sache selbst sei ein Anlaß zu diesen Befürch¬
tungen nicht gegeben und deshalb auch kein Grund zu Kompensationen vorhan¬
den.

   Der kgl. ung. Handelsminister bemerkt zu den vom k. k. Ei¬
senbahnminister angeführten Daten, daß sie sich auf Nis, einen Punkt der Haupt¬
linie, bezögen; für Stationen der Nebenlinien dürften die Berechnungen ein ande¬
res Ergebnis liefern. Außerdem habe man es in Österreich in der Hand, die
Seefrachten zu beeinflußen. Man könne daher ungarischerseits über das vom kgl.
ung. Ministerpräsidenten in Aussicht gestellte Entgegenkommen gegenüber den
spezifisch serbischen Exportinteressen nicht hinausgehen, was an sich schon ein
Opfer bedeute, zu dem sich aber die kgl. ung. Regierung in Anbetracht der poli¬
tischen Interessen entschlossen habe. Die Anwendung des Konventionalregimes
für die serbischen Importe über die bosnischen Linien dagegen könnte ungari¬
scherseits ohne entsprechende Kompensationen nicht gewährt werden; anderer¬
seits hätte es auch keinen Zweck, darauf einzugehen, wenn, wie behauptet wurde,
diese Linien mit der über Ungarn führenden Hauptlinie nicht konkurrieren könn¬
ten.

   Seitens des k. k. Handelsministers wird ausgeführt, daß man
die serbischerseits aufgestellte Forderung nach Ausdehnung des Konventionalre¬
gimes auf die bosnisch-dalmatinischen Anschlußlinien nicht als ungerechtfertigt
ansehen dürfe. Wenn Serbien sich verpflichte, einen Anschluß herzustellen, wel¬
cher für Österreich-Ungarn aus mancherlei Gründen nur wünschenswert sein
könne, und auf diesen neuen Linien die Convention ä quatre anwenden wolle, so
sei es doch nur billig, auf den bosnisch-dalmatinischen Anschlußstrecken das
gleiche Regime zuzugestehen, welches österreichisch-ungarischerseits für die
serbischen Linien verlangt werde. Was die Seefrachten ab Triest anbelange, so
seien sie schon auf ein Minimum herabgesetzt worden. Es sei das möglichste
geschehen, um die Fracht zur See via Triest zu begünstigen. Trotzdem sei gegen¬
wärtig die Fracht von Triest nach serbischen Stationen auch bei Anwendung des
Konventionalregimes noch immer wesentlich ungünstiger, als jene aufder Haupt¬
linie. Die Ausdehnung der Convention ä quatre auf die bosnischen Linien bedeu¬
te also nicht eine wesentliche Verschiebung der gegenwärtigen Situation.

    Es werden nun seitens der Referenten der beiden Handelsministerien Tarifbe¬
rechnungen mitgeteilt, um die Richtigkeit des einerseits beziehungsweise ande¬
rerseits eingenommenen Standpunktes zu bekräftigen. Diese Berechnungen erga¬
ben jedoch ein ganz entgegengesetztes Resultat. Aus den österreichischen
Berechnungen würde unter Annahne von Krusevac in Serbien als Verteilungssta¬
tion folgen, daß sogar bei ganz unentgeltlicher Beförderung der Waren bis Triest
der Weg über Ungarn immer noch günstiger wäre als jener über Bosnien, so daß
hier gar keine spezifisch österreichischen Exportinteressen, sondern höchstens
dalmatinische oder bosnisch-herzegowinische Lokalinteressen in Betracht kom-
<pb/>Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914  647

 men können. Ungarischerseits wird wiederum unter der Voraussetzung der Über¬
 tragung der Sätze der Ungaro--Croata in der Relation Fiume--Metkovic auf
 Triest-Metkovic berechnet, daß sich die Sätze über Bosnien wesentlich billiger
 stellen als auf der Hauptlinie, woraus auf die Möglichkeit einer sehr erheblichen
 Konkurrenzierung der letzteren umsomehr geschlossen werden könne, als die aus
 der Entwicklung der Verkehrsrelationen sich ergebenden Eventualitäten nicht in
jeder Beziehung vorausgesehen und in ihren Folgen im vorhinein bestimmt zu
 werden vermöchten.

    Der k. u. k. gemeinsame Finanzminister verweist auf
 den ursprünglichen Zweck der zwischen Bosnien und Serbien herzustellenden
 Eisenbahnanschlüsse, welche Serbien einen Ersatz für die Donau-Adriabahn ge¬
ben sollen. Wenn Serbien diese Anschlüsse gleichfalls wünsche, so sei hiefür
 ausschließlich das Interesse maßgebend, sein Vieh leicht nach den westlichen
Märkten zu bringen. Hiemit gehe das Interesse der bosnisch-herzegowinischen
Bahnen insofeme parallel, als hiedurch bis zu einem gewissen Grade eine Kräfti¬
gung des Verkehrs auf den bosnischen Linien erreicht und die schwer herzustel¬
lende teuere Eisenbahn Bugojno-Arzano alimentiert werden könnte. Redner ste¬
he daher auf dem Standpunkte, daß es sich hier um ein tatsächliches
Exportinteresse Serbiens handle und er glaube, daß Serbien zufriedengestellt
werden könnte, wenn ihm die Möglichkeit gegeben werde, zu den Konventionai¬
sätzen zu den dalmatinischen Häfen zu gelangen. Inwieweit umgekehrt der serbi¬
sche Import davon profitieren könne, sei Redner zu beurteilen nicht in der Lage.

    Der kgl. ung. Ministerpräsident begrüßt es, daß vom Vor¬
redner betont wurde, Serbien wünsche vor allem mit seinen Waren möglichst
billig an die Adria zu kommen und werde daher voraussichtlich befriedigt sein,
wenn ihm ein billiger Exportweg für sein Vieh zugestanden werde. Ungarischer¬
seits sei man ohneweiters zu diesem Zugeständnisse bereit und man willige darin
ein, die speziellen serbischen Exportinteressen zu berücksichtigen, wenn es auch
nicht möglich sein sollte, die Eisenbahnfragen zwischen Österreich und Ungarn
schon jetzt zu bereinigen. Wenn aber den serbischen Wünschen in dem Umfange
Genüge geleistet werden sollte, daß die Anwendung der Convention ä quatre
nicht nur auf den Export Serbiens, sondern auch auf den Import zugestanden
würde, so sei hiedurch ohne jede Gegenleistung auch den österreichischen Wün¬
schen gedient, wobei noch zu berücksichtigen komme, daß die Ausdehnung des
Konventionalregimes ein unbefristetes Zugeständnis wäre, während alle Kom¬
pensationen, die Ungarn hiefür erhielte, befristet wären. Nachdem alle zwischen
den beiden Staaten der Monarchie schwebenden handelspolitischen und eisen¬
bahnpolitischen Fragen nur auf dem Wege eines Kompromisses zu regeln sind, so
sei in der Ablehnung der imentgeltlichen Erfüllung dieses Wunsches durchaus
nicht ein Mangel an Entgegenkommen oder gar eine Feindseligkeit gegenüber
den in Betracht kommenden Interessen Österreichs zu erblicken. Redner wolle
durchaus nicht darüber debattieren, ob die österreichischerseits zur Geltung ge¬
brachte Auffassung, daß bei der in Rede stehenden Angelegenheit österreichische
<pb/>648 Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914

Exportinteressen nicht in Betracht kommen, zutreffe oder nicht. Wenn ja, so sei
für alle beteiligten Faktoren nur das Exportinteresse Serbiens relevant und es er¬
schiene dann angezeigt, sich dahin zu einigen, Serbien die tunlichsten Erleichte¬
rungen zu gewähren, ohne die Convention ä quatre zu erwähnen.

   An diese Bemerkung des kgl. ung. Ministerpräsidenten anknüpfend, findet nun
ein Meinungsaustausch über die Bedeutung der serbischen Forderung betreffend
die Ausdehnung der Convention ä quatre statt. Österreichischerseits wird die
Auffassung vertreten, Serbien werde die Ausdehnung der Convention auf die ser¬
bischen Anschlußlinien nur auf Grundlage der Reziprozität zugestehen, welcher
Auffassung sich auch der k. u. k. gemeinsame Finanzminister anschließt, wäh¬
rend ungarischerseits auf die Tatsache verwiesen wird, daß die serbische Regie¬
rung erst in allerletzter Zeit mit dieser Forderung hervorgetreten ist und sich wohl
mit den für den serbischen Export nötigen Begünstigungen begnügen werde.

   Es wird ferner seitens des k. k. Eisenbahnministers betont,
daß man sich eine befriedigende Erledigung der Angelegenheit nicht denken kön¬
ne, wenn Bosnien und die Herzegowina vom Regime der Convention ä quatre
ausgeschlossen werden, wogegen ungarischerseits bemerkt wird, daß das Ver¬
hältnis zu Bosnien sich infolge des neuen Eisenbahnprogrammes sehr zugunsten
Österreichs verschoben habe, weshalb die kgl. ung. Regierung die Ausdehnung
der Convention ä quatre auf die bosnischen Linien als ganz ausgeschlossen be¬
zeichnen müsse, wenn ihr nichts dafür geboten werde.

   Angesichts der dezidierten Erklärungen der Mitglieder der kgl. ung. Regie¬
rung richtet der k. k. Ministerpräsident an den kgl. ung. Minister¬
präsidenten die Frage, ob es der kgl. ung. Regierung möglich wäre, die Frage der
Kompensation in dem Sinne aufzufassen, daß die tarifarische Behandlung der
bosnischen Bahnen in den Komplex jener wirtschaftlichen Fragen einbezogen
werde, bezüglich welcher gegenwärtig mit der gemeinsamen Regierung verhan¬
delt werden müsse. Dies erschiene gerechtfertigt, weil Bosnien daran gleichfalls
interessiert sei. In einer Reihe von Punkten sei eine Annäherung schon erzielt
worden, doch sei das Einvernehmen in der Frage des bosnischen Hafens bei
Samac noch nicht erfolgt. Diese Frage sei österreichischerseits sehr eingehend
studiert worden, wobei sich ergeben habe, daß sehr wesentliche ungarische Ver¬
kehrsinteressen in günstiger Weise tangiert werden. Da sich die Bilanz bei den in
Verhandlung stehenden bosnisch-herzegowinischen Fragen hiedurch erheblich
auf die Seite Ungarns neige, frage Redner, ob man ungarischerseits bereit wäre,
in diesem Zusammenhänge eine Kompensation für die Ausdehnung der Conven¬
tion ä quatre zu erblicken.

    Der kgl. ung. Ministerpräsident bedauert, auf diese Anre¬
gung nicht eingehen zu können; es seien dies erledigte Fragen, über welche eine
neuerliche Diskussion abgelehnt werden müsse. Wenn die k. k. Regierung die
Hafenfrage ablehne, so falle die ganze Vereinbarung: C&#39;est ä prendre ou ä laisser.
Nachdem österreichischerseits die Diskussion auf das Gebiet der Kompensation
gelenkt worden sei, so müsse ungarischerseits nach dem bisherigen Verlaufe der
<pb/>Nr. 47 Gemeinsamer Ministermt, Budapest, 24. 5. 1914  649

 Debatte bemerkt werden, daß man sich keinen Erfolg davon verspreche, wenn
man gegenwärtig auf das Meritum dieser Frage eingehen würde. Die Kompensa¬
tionsforderungen der kgl. ung. Regierung würden von großer Bedeutung sein, da
man davon überzeugt sei, daß die Convention ä quatre vom Standpunkte der
österreichischen Interessen gleichfalls von großer Wichtigkeit sei. Eine Bereini¬
gung des ganzen Komplexes der in Betracht kommenden Fragen sei, nach dem
Eindrücke, den man aus dem Verlaufe der gegenwärtigen Besprechung gewon¬
nen haben müsse, kaum zu erhoffen. Es sei daher besser, hievon vorläufig über¬
haupt abzusehen und Serbien gegenüber den ungarischerseits beantragten Stand¬
punkt einzunehmen, was auch für Serbien vollauf genüge und die Lösung der
Orientbahnffage wesentlich erleichtern und beschleunigen dürfte.

    Auf Grund des Vorstehenden einigt man sich sohin, in den bevorstehenden
Verhandlungen mit der kgl. serbischen Regierung rücksichtlich der Frage der
Ausdehnung der Convention ä quatre wie folgt vorzugehen:

    ,,Serbien wünsche die Verstaatlichung der auf seinem Gebiete liegenden Strek-
ken der orientalischen Eisenbahnen und habe hiefur verschiedene Konzessionen
angeboten. Unter diesen befinde sich die Ausdehnung der Konvention auf die
serbischen Linien Stalac-Uzice-Vardiste und Uvac-Mitrovica. Doch könne auf
die Bedingung, an welche Serbien diese Ausdehnung des Konventionalregimes
knüpfe, nicht eingegangen werden. Dagegen ist die österreichisch-ungarische
Monarchie grundsätzlich bereit, für den serbischen Export nach der Adria über
die bosnisch-herzegowinischen und dalmatinischen, nach einem dalmatinischen
Seehafen führenden Eisenbahnlinien Verkehrserleichterungen zu gewähren. Es
muß der kgl. serbischen Regierung überlassen bleiben, im Zuge der Verhandlun¬
gen nach dieser Richtung mit konkreten Forderungen an Österreich-Ungarn her¬
anzutreten.&quot;

   Seitens des k. k. Eisenbahnministers wird zum Schlüsse noch
betont, daß man österreichisch-ungarischerseits aufder Ausdehnung der Conven¬
tion ä quatre auf die serbischen Anschlußlinien werde bestehen müssen, wogegen
ungarischerseits nichts eingewendet wird. Es würde sich demnach das Arrange¬
ment in der Orientbahnfrage wie folgt darstellen:

   Serbien erhält die Verstaatlichung der Bahnen und die Zusage gewisser Zuge¬
ständnisse für seinen Export nach der Adria. Serbien leistet hiefür die beiden
Anschlußlinien an die bosnisch-herzegowinischen Bahnen und die Ausdehnung
der Convention ä quatre auf seine neuen Anschlußlinien.4

Am 29. 6. 1914 fand in Belgrad eine Besprechung der österreichisch-ungarischen und der
serbischen Vertreter über den österreichisch-ungarischen Vorschlag eines Eisenbahnüber¬
einkommens statt. Der Vorschlag mit den Stellungnahmen der serbischen Regierung sowie
das Protokoll über die Vergabe von Aufträgen von Eisenbahnbauten undMateriallieferungen
für die serbische Bahn an österreichisch-ungarische Unternehmen in ebd. Zu diesen Ergeb¬
nissen wurde am 7. 7. 1914 eine gemeinsame Zoll- und Handelskonferenz abgehalten, das
Protokoll ebd., Z. 55987/15/1914. Doch berichtete der deutsche Gesandte in Belgrad im
Schreiben v. 1. 7. 1914 an den deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg: Der öster-
<pb/>650 Nr. 47 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 24. 5. 1914

   Seitens des k. u. k. gemeinsamen Finanzministers
wird noch das Ersuchen gestellt, bevor an Serbien konkrete Anträge betreffend
die Tarife gestellt werden, diese dem k. u. k. gemeinsamen Finanzministerium
mit Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der bosnisch-herzegowinischen Eisen¬
bahnen vorerst mitzuteilen. Diesem Ersuchen wird entsprochen werden.

   Nachdem der Gegenstand der Verhandlung hiemit erschöpft ist, wird die Sit¬
zung um 3 Uhr nachmittags geschlossen.

                                                                                             Berchtold
Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen.
Bad Ischl, am 11. Juli 1914. Franz Joseph.

        reichisch-ungarische Geschäftsträger bezeichnet mir die Fortsetzung der Verhandlungen im
         gegenwärtigen Augenblick als inopportun, und dürfte es somit richtig sein, wenn hier be¬
        hauptet wird, die Verhandlungen seien infolge des Attentats aufFranz Ferdinand abgebro¬
         chen worden. Grosse Politik, Bd. 37/2, Nr. 15149.
<pb/>