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Gemeinsamer Ministerrat, 10. 9. 1908

I. Maßnahmen zur Vorbereitung der Annexion Bosniens und der Herzegowina

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VI/pdf/oe_hu_mrp_VI_z4.pdf.

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Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. September 1908

    RS. (und RK.)

    Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle, der k. k. Ministerpräsident Dr. Frei¬
herr v. Beck, der k. u. k. Reichsfinanzminister Freiherr v. Buriän, der k. u. k. Reichskriegsminister
FZM. Freiherr v. Schönaich. [Auszugsweise publiziert in: Österreich-Ungarns Aussenpoutik,
Band 1, Nr. 75.]

    Protokollführer: Gesandter Max Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Maßnahmen zur Vorbereitung der Annexion Bosniens und der Herzegowina.

   KZ. 42 - GMCPZ. 468

   Protokoll des zu Budapest am 10. September 1908 abgehaltenen Ministerrates
für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des Ministers des k. u. k.
Hauses und des Äußern Freiherm v. Aehrenthal.

   Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, indem er daran erinnert, daß die
beiden Ministerpräsidenten in der vorangegangenen gemeinsamen Ministerkon¬
ferenz in Aussicht gestellt hatten, die staatsrechtliche Frage der Annexion Bosni¬
ens und der Herzegowina einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und den
Versuch zu machen, diesfalls zu einer Einigung zu gelangen.1 Der Vorsitzende
richtet sodann das Ersuchen an die Konferenz, sich darüber zu äußern, ob diesel¬
be zunächst die staatsrechtliche Frage ins Reine bringen wolle, oder ob dieselbe
vorerst die Äußerung des gemeinsamen Finanzministers über die anläßlich seiner
jüngsten Inspektionsreise in Bosnien und der Herzegowina gewonnenen Eindrük-
ke entgegennehmen wolle.

   Nachdem die Konferenz sich für letzteres entschieden, ergreift der k . u .
k. Reichsfinanzminister Freiherr v. Buriän das Wort
und bemerkt, daß seine Reise in Bosnien nur sechs Tage gedauert habe, daß er
dieselbe jedoch am folgenden Tage fortzusetzen gedenke, um die bisher gewon¬
nenen Eindrücke zu ergänzen. Redner möchte nun zunächst konstatieren, daß die
Wahrnehmungen, welche er auf Grund eingehender Studien sowie auf Grund des
Verkehres mit Personen im Okkupationsgebiete, deren Meinung für ihn über¬
haupt in Betracht komme, gemachte habe, dahin gehen, daß das Land sich zwar
nicht in aufgeregter, wohl aber in angeregter und erwartungsvoller Stimmung
befinde und daß speziell die Intelligenz den lebhaften Wunsch nach Teilnahme an
der Verwaltung hegt und diesen auch offen vertritt, wobei jedoch bemerkt werden
müsse, daß sich keine Tendenz zeigt, das angestrebte Ziel mit illegalen Mitteln zu
erreichen. Im Lande herrsche überall Ruhe.

   Redner geht sodann zur Besprechung der Parteiverhältnisse im Okkupations¬
gebiete über und bemerkt, daß dermalen in Bosnien hauptsächlich zwei Parteien
in Betracht kommen, welche die Massen vertreten und zwar sei die eine dersel-

Fortsetzung des GMR. v. 19. 8. 1908, GMCPZ. 467.
<pb/>196 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

ben die serbische Unabhängigkeitspartei mit Dr. Dimitrijevic an der Spitze, wel¬
cher sich, nicht ohne Zutun der Regierung, die katholische Partei unter Dr. Mandic
angeschlossen habe. Diese Partei sei vorwiegend aus Elementen gebildet, welche
mit den Tendenzen der alten serbisch-radikalen Partei nicht einverstanden gewe¬
sen seien. Ferner gebe es die sogenannte serbische Resolutionistenpartei, deren
Führer Gliso Jeftanovic sei und welcher sich eine Anzahl jungtürkischer Elemen¬
te unter Firdus Bey zugewendet habe, nachdem ihnen seitens des alten, radikalen
serbischen Ausschusses eingeredet worden sei, daß Bosnien eventuell wieder un¬
ter türkische Herrschaft zurückkehren werde. Dr. Dimitrijevic, welcher sich wohl
bewußt sei, daß die Zukunft Bosniens von der Monarchie abhänge, sei nun kürz¬
lich mit Dr. Mandic während seines Aufenthaltes in Bosnien bei Redner erschie¬
nen und hätte ihn mit kluger Motivierung ersucht, zur Kenntnis Sr. Majestät des
Kaisers und Königs zu bringen, daß das bosnische Volk aus dem Zustande der
Ungewißheit herausgefuhrt zu werden und die definitive Einverleibung Bosniens
und der Herzegowina in die Monarchie durchgeftihrt zu sehen wünsche.

   Andererseits seien der serbisch-radikale Ausschuß im Verein mit den demsel¬
ben affiliierten Mohammedanern am 7. September bei Redner in Ilidze erschie¬
nen und hätten ihm ein Schriftstück überreicht, in welchem um Gewährung einer
Verfassung für Bosnien und die Herzegowina gebeten wird, jedoch mit dem aus¬
drücklichen Bemerken, daß dies ohne Lösung der staatsrechtlichen Frage zu ge¬
schehen hätte.

   Die Antwort, welche Redner den bei ihm erschienenen beiden Abordnungen
erteilt habe, habe selbstverständlich sehr verschieden, zugleich aber auch sehr
reserviert gelautet.

    Immerhin habe Redner eine Phrase einfließen lassen, wonach kein Zweifel
mehr über das schließliche Schicksal Bosniens und der Herzegowina bestehen
könne. Auch eine neue mohammedanische Partei habe sich gebildet, welche mit
den serbenffeundlichen Allüren des alten mohammedanischen Ausschusses nicht
zufrieden gewesen sei und deren Programm sich im Rahmen der Monarchie be¬
wegt. Schließlich erwähnt Redner noch des Umstandes, daß gewisse fanatische
alttürkische Kreise über die jetzigen Vorgänge in der Türkei ganz empört seien
und sich von dem Sultan, den sie als ganz ,,verschwabt&quot; bezeichnen, abwenden.

    Die in letzter Zeit von serbischer und mohammedanischer Seite ausgegange¬
nen Agitationen stellten sich eigentlich nur als ein Versuch des alten serbischen
und des alten mohammedanischen Ausschusses dar, die Sache so hinzustellen,
daß eventuell zu gewärtigende Freiheiten dem Einflüsse der erwähnten Ausschüs¬
se zuzuschreiben seien.

    Speziell der alte mohammedanische Ausschuß habe mm, nachdem man bezüg¬
lich der mohammedanischen kirchlichen Autonomie zu einer Einigung gelangt
sei, welche nur noch der formellen Erledigung bedürfe, jede Grundlage verloren.
Das Schlimmste, was man von mohammedanischer Seite im Falle der Annexion
zu befurchten habe, werde eine beschränkte Auswanderung sein, welche jedoch
für das Land kaum einen Verlust bedeuten würde, da es sich hiebei eben um nicht
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  197

assimilierbare Elemente handle. Redner glaubt seiner Ansicht überhaupt dahin
Ausdruck geben zu dürfen, daß im Falle der Proklamierung der Annexion von
den Anhängern der letzterwähnten beiden Parteirichtungen keine schwerwiegen¬
den Manifestationen zu befürchten sein und sich dieselben aufmehr oder weniger
geräuschvolle Proteste beschränken werden. Zu weitergehenden Unternehmun¬
gen fehle es ihnen an den nötigen Mitteln und auch an dem erforderlichen Mute.
Die Volksmassen selbst seien keineswegs aufgeregt, wüßten überhaupt nicht, was
Verfassung ist und hätten nur Sinn für wirtschaftliche Fragen, in welch letzterer
Beziehung konstatiert werden könne, daß die Aufhebung der Robot einen ausge¬
zeichneten Eindruck auf die breiten Schichten der Bevölkerung gemacht habe.2
Die Agitationen von serbischer Seite würden ja gewiß fortdauem, nach erfolgter
Annexion werde jedoch ein gesetzlicher Standpunkt geschaffen sein, der es er¬
möglichen werde, solchen Umtrieben erfolgreich entgegenzutreten.

   Der Vorsitzende stellt hieraufdie mit der Annexion in Zusammenhang
stehende &quot;staatsrechtliche3 Frage zur Diskussion und schlägt vor, nach Bereini¬
gung derselben die übrigen auf der Tagesordnung stehenden Fragen in nachste¬
hender Reihenfolge zu erörtern: Bestimmung des Zeitpunktes für die Vornahme
der Annexion; diplomatische Vorbereitung derselben; für den Fall der Annexion
zu treffende militärische Maßnahmen; endlich Bestimmung des Zeitpunktes für
den Zusammentritt der Delegationen.

   Nachdem die Konferenz diesem Vörgangsmodus zugestimmt hat, erteilt der
Vorsitzende dem kgl. ung. Ministerpräsidenten Dr. We-
k e r 1 e das Wort, welcher ausführt, daß, wenn die Annexion auch ein Akt der
Macht sei, dieselbe doch eines Rechtstitels nicht entbehren könne, und einen sol¬
chen biete eben der historische Rechtsanspruch der heiligen ungarische Krone
auf Bosnien und die Herzegowina. Dieser rechtshistorische Titel lebe in Ungarn
fort, es sei auf denselben niemals verzichtet worden und derselbe bilde auch heu¬
te noch ein immer aufrecht erhaltenes lebendes Recht, welches unter anderem in
den Fahnen und Wappen der ungarischen Könige zum sichtbaren Ausdruck kom¬
me. Redner verweist in dieser Beziehung auch aufden Krönungseid sowie auf die
Bestimmung des § 3 des Inauguraldiploms, wonach einst zum Besitze der heili¬
gen ungarischen Krone gehörig gewesene Gebiete im Falle ihrer Zurückerobe¬
rung dem ungarischen Staatsgebiete anzuschließen sind. Redner erinnert weiters
daran, daß man sich seinerzeit nicht nur bei der Einverleibung Dalmatiens, son¬
dern auch schon früher bei der Erwerbung Galiziens und Lodomeriens auf die
Rechte der ungarischen und böhmischen Krone berufen habe, und daß selbst Kai¬
ser Josef II., welcher in der inneren Politik der ungarischen staatsrechtlichen Auf¬
fassung widersprechende Tendenzen verfolgt habe, in Angelegenheiten seiner

Einfügung

Vortrag Buriäns v. 6. 7. 1908 zur Aufliebung des Staatsrobots für Straßenzwecke, resolviert
mit Ah. E. v. 20. 7. 1908, HHSxA., Kab. Kanzlei, KZ. 2175/1908.
<pb/>198 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

äußeren Politik im ungarischen Staatsrechte nach rechtshistorischen Ansprüchen
habe nachforschen lassen.

   Redner bezeichnet überdies rechtshistorische Ansprüche als ein wirksames Ar¬
gument gegen plebiszitäre Velleitäten, welche darauf hinauslaufen, der Bevölke¬
rung eines Gebietes ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich der Zugehörigkeit
dieses letzteren einzuräumen, und weist auch noch darauf hin, daß das erwähnte
Argument der Bildung ethnographischer Formationen entgegengestellt werden
könne.

   Dies vorausgeschickt, bringt Redner folgenden von ihm verfaßten Gesetzent¬
wurf zur Verlesung, mit welchem die erfolgte Annexion Bosniens und der Herze¬
gowina den beiden Legislativen als Akt Sr. Majestät zur nachträglichen Geneh¬
migung vorzulegen wäre.

   § 1. Nachdem Bosnien und die Herzegowina - mit Ausnahme des Sandschaks
Novipazar - kraft des Rechtes der heiligen ungarischen Krone an die Länder die¬
ser Krone wieder angeschlossen worden sind, wird die erfolgte Tatsache dieses
neuerlichen Anschlusses unter die Gesetze des Landes inartikuliert.

   § 2. Die Bestimmungen der Gesetzartikel I, II und III vom Jahre 1723 werden
auch auf diese neuerlich angeschlossenen Teile ausgedehnt.

   § 3. In betreff der Verwaltung dieser neuerlich angeschlossenen Teile sind un¬
ter Berücksichtigung jenes Prinzipes, daß die neuerlich angeschlossenen Provin¬
zen mit Zustimmung ihrer Interessenkreise je früher mit einer verfassungsmäßi¬
gen Autonomie beteilt werden mögen, bis zur weiteren einvemehmlichen
Verfügung der Gesetzgebungen, die Bestimmungen des Gesetzartikels VI vom
Jahre 1880 anzuwenden.

    § 4. Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes wird das Ministerium betraut.
   Redner bemerkt hiezu erläuternd, daß ungeachtet der im § 1 dieses Entwurfes
ausgesprochenen Inkorporierung Bosniens und der Herzegowina in die Länder
der ungarischen Krone diese beiden Provinzen gemäß § 3 des Entwurfes Öster¬
reich gegenüber ein im gegenseitigen Einvernehmen zu verwaltendes Gebiet bil¬
den, dessen Umgestaltung an keinen Termin gebunden und woselbst zu jeder
administrativen Änderung im Sinne des auf unbestimmte Zeit aufrecht zu erhal¬
tenden Gesetzartikels VI vom Jahre 1880 auch die Zustimmung der österreichi¬
schen Gesetzgebung notwendig sei. Es sei ausgeschlossen, daß der Monarch ein¬
seitig mit Ungarn etwas an dem bestehenden Zustande in Bosnien und der
Herzegowina ändere. Mit Rücksicht hierauf könne daher auch nicht von einer
infolge der Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in Ungarn eintretenden
Störung des Gleichgewichtes zuungunsten Österreichs gesprochen werden, da
eben im Hinblicke aufden vorerwähnten Gesetzartikel an dem faktischen Zustan¬
de in jenen Ländern ohne Zustimmung der österreichischen Gesetzgebung nichts
geändert werden könne. Redner betont in dieser Beziehung ausdrücklich, daß er
keineswegs eine Änderung des tatsächlichen Verhältnisses der jetzigen Okkupa¬
tionsländer zu den beiden Staaten der Monarchie verlange, sondern nur, daß der
rechtshistorische Anspruch Ungarns auf dieselben im Gesetze zum Ausdruck
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komme und vom Auslande wie von Österreich anerkannt werde. Aber selbst ge¬
setzt den Fall, daß das Territorium Ungarns durch Bosnien und die Herzegowina
vergrößert würde, so würde dies in den Augen des Redners nur eine neue Garan¬
tie für die Zusammengehörigkeit Ungarns und Österreichs bilden, da, ähnlich wie
heute Kroatien, Bosnien und die Herzegowina im Falle ihrer Zugehörigkeit zu
Ungarn ein Interesse daran haben würden, daß zwischen den beiden Staaten der
Monarchie eine wirtschaftliche Zusammengehörigkeit bestehen bleibe, welche
auch ihnen zugute komme.

   Zu § 2 des vorangeführten Gesetzentwurfes bemerkt Redner, daß die Aufnah¬
me der Gesetzartikel I, II und III vom Jahre 1723 in denselben aus dem Grunde
nötig sei, um die Thronfolge auch auf Bosnien und die Herzegowina auszudeh¬
nen und daß diesfalls die Berufung auf die ungarische Pragmatische Sanktion aus
dem Grunde geboten erscheine, weil in derselben nicht nur der Zusammenhang
der Länder der heiligen ungarischen Krone untereinander, sondern auch dieser
letzteren mit den österreichischen Ländern zum Ausdrucke gelange. Hiedurch
würde dann auch zugleich der Zusammenhang Bosniens und der Herzegowina
mit Österreich zum gesetzlichen Ausdruck gebracht werden.

   Es ergreift sodann der k. k. Ministerpräsident Dr. Frei¬
herr v. Beck das Wort, indem er seine Ausführungen mit der Bemerkung
einleitet, er sei fern davon, gegen die rechtshistorischen und die darauf gegründe¬
ten staatsrechtlichen Ausführungen des kgl. ung. Ministerpräsidenten polemisie¬
ren zu wollen, da ihm sehr daran liege, jeden Schein zu vermeiden, als ob er in
einer die ungarische Empfindung sehr nahe berührenden Frage von vomeherein
eine ablehnende Haltung einnehmen würde. Es sei ihm sehr wohl bekannt, daß
sowohl in den Zeiten der Selbständigkeit Ungarns als in jenen der Herrschaft der
habsburg-lothringischen Dynastie in Ungarn an dem Ansprüche auf die einmal
mit Ungarn verbundenen Länder und Landesteile festgehalten und der Revindi-
kationsidee in den Inauguraldiplomen und Krönungseiden und bei verschiedenen
Anlässen Ausdruck gegeben worden sei. Nicht minder müsse er zugeben, daß
auch anläßlich der Verfassung des Jahres 1867 und in dem von Sr. Majestät aus¬
gestellten Inauguraldiplome beziehungsweise in dem bezüglichen Krönungseide
diese staatsrechtliche Auffassung zum Ausdruck gelangt ist.

   Aber er müsse ausdrücklich feststellen, daß es sich in allen diesen Enunziatio-
nen immer nur um eine einseitige ungarische staatsrechtliche Auffassung handle,
deren Vertretbarkeit als völkerrechtlichen Anspruches dritten Staaten gegenüber
füglich bezweifelt werden könne. Bei dem von Ungarn behaupteten fortlebenden
historischen Rechte auf Wiedervereinigung der einmal zur heiligen ungarischen
Krone gehörigen Gebiete mit dieser handle es sich um ein in verfassungsmäßige
Formen gekleidetes Programm, auf dessen Realisierung der König verpflichtet
werde. Wie dem aber auch sein möge, so sei doch die Folgerung unzulässig, daß
diese staatsrechtliche Auffassung Ungarns auch im Rahmen der heute bestehen¬
den dualistischen Verfassung der Monarchie als Rechtsgrundsatz zur Anerken¬
nung und zur Durchführung zu bringen sei. Für die duahstische Verfassung sei es
<pb/>200 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

charakteristisch, daß die Monarchie auf Basis des durch die Pragmatische Sank¬
tion bedingten Verbandes der österreichischen Erbländer und der Länder der hei¬
ligen ungarischen Krone nach außen hin sich als eine Einheit darstellt, während
im Verhältnisse zueinander die beiden Staaten, immer durch jenen Verband um¬
schlossen, einander selbständig gegenüberstehen, eine Selbständigkeit, die aber
allerdings in mannigfacher Beziehung eben durch die 1867er Verfassung auch
wieder beschränkt ist. Diese dualistische Verfassung habe zur Voraussetzung ei¬
nen gewissen Gleichgewichtszustand hinsichtlich der materiellen Mittel und des
Einflusses dieser beiden Staaten. Eine Verschiebung desselben wäre ohne Alterie-
rung der Verfassung gar nicht denkbar.

   Was nun speziell einen Gebietszuwachs zu dem einen oder dem anderen der
beiden Staaten anbelangt, so sei es klar, daß hiemit eine sehr wesentliche Ver¬
schiebung dieses Gleichgewichtes, weil der ganzen Voraussetzung, unter welcher
die dualistische Verfassung zustande gekommen ist, gegeben sein kann. Die in
dem Inauguraldiplome des Jahres 1867 inartikulierte Revindikationstheorie sei
österreichischerseits nicht anerkannt worden, wie denn in der österreichischen
Verfassung sich hinsichtlich einer Gebietsänderung nur die Bestimmung im § 11
lit a des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867,
RGBl. Nr. 141, finde, wonach eine Gebietsänderung der im Reichsrate vertrete¬
nen Königreiche und Länder der Genehmigung des Reichsrates unterliegt.

   Hinsichtlich der Frage aber, wie eine Gebietsänderung, sei es, daß diese auf
österreichischer oder auf ungarischer Seite eintritt, im Rahmen der dualistischen
Verfassung zu behandeln sei, enthält weder die österreichische noch die ungari¬
sche Verfassung irgendeine Bestimmung. Wir haben es hier mit einer Frage zu
tun, die in jedem einzelnen Falle erst als eine eben die dualistische Verfassung
berührende im verfassungsmäßigen Wege im Einvernehmen der beiden Teile ge¬
ordnet werden müßte. Wenn also immerhin ungarischerseits die Auffassung ver¬
treten werde, daß ein Anspruch auf die Wiedervereinigung ehemals zu den Län¬
dern der heiligen ungarischen Krone gehöriger Gebiete mit dieser Krone bestehe,
und daß dieser Anspruch staatsrechtlich auch Österreich gegenüber geltend ge¬
macht werden könne, so sei das eben nur eine durchaus einseitige Auffassung;
derartige Ansprüche hätten ihre unüberschreitbare Grenze in der dualistischen
Verfassung sowie in den Rechten und Interessen des anderen Teiles.

    Die durch Redner hier theoretisch vertretene Auffassung finde in bezug auf
Bosnien und die Herzegowina ihre Sanktion in zweifelloser Weise durch den § 5
des Gesetzes vom 22. Februar 1880, RGBl. Nr. 18, welcher bestimme, daß jede
Änderung des bestehenden Verhältnisses Bosniens und der Herzegowina zur
Monarchie der übereinstimmenden Genehmigung der Legislativen der beiden
Teile der Monarchie bedarf. Diese Vorschrift sei nichts weniger als eine solche
bloß formaler Natur; ihr würde durch die Feststellung, daß Bosnien und die Her¬
zegowina - im Falle ihrer Wiedervereinigung mit der Monarchie - den Ländern
der ungarische Krone zu inkorporieren sind, durchaus nicht entsprochen werden.
Durch jene Vorschrift sollte auch Österreich die Möglichkeit geboten werden, in
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  201

Ansehung Bosniens und der Herzegowina seine Rechte und Interessen gerade im
Hinblicke auf die durch die dualistische Verfassung geschaffene Lage meritorisch
wirksam zur Geltung zu bringen. Diese Anordnung hätte gar keinen Sinn, wenn
im Falle einer dauernden Erwerbung des Okkupationsgebietes dieses den Län¬
dern der heiligen ungarischen Krone schlechthin zu inkorporieren wäre.

   Redner müsse darauf hinweisen, daß die Monarchie als solche ein europä¬
isches Mandat zur Okkupation dieser Länder erhalten habe; diese Okkupation sei
durch gemeinschaftlich aufgewendete Mittel und gebrachte Opfer tatsächlich im
Wege der Eroberung erfolgt.

   Österreich habe sich somit seine Rechte an Bosnien und der Herzegowina
mindestens ebenso erworben wie Ungarn und das wohl umso mehr, als ja be¬
kanntlich in der am 21. April 1879 abgeschlossenen Konvention mit der Türkei
die Souveränitätsrechte des Sultans hinsichtlich Bosniens und der Herzegowina
ausdrücklich anerkannt worden sind,3 womit wohl klar ausgesprochen worden
ist, daß die historischen Rechte Ungarns auf diese Länder nicht mehr geltend
gemacht werden können und gewiß auch nicht Österreich gegenüber.

   Redner erklärt sohin den vom kgl. ung. Ministerpräsidenten in Vorschlag ge¬
brachten Gesetzentwurf unmöglich akzeptieren zu können, da er nicht nur den
entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht entspreche, sondern ganz ins-
besonders mit jener gesetzlichen Bestimmung nicht im Einklänge stehe, welche,
wie eben dargelegt, davon ausgehe, daß bei jeder Änderung des Verhältnisses des
okkupierten Gebietens zu der Monarchie die Rechte und Interessen Österreichs
meritorisch gewahrt werden müssen und zu diesem Zwecke eben auch die Ge¬
nehmigung der Legislative Österreichs erforderlich sei.

   Redner sei aber ferne davon, der kgl. ung. Regierung zumuten zu wollen, eine
heilig gehaltene Rechtsanschauung aufzugeben. Dies sei nach der Sachlage auch
gar nicht erforderlich. Es ließe sich ohne weiters eine Form finden, welche das
Verhältnis zwischen dem okkupierten Gebiete und der Monarchie neu regelt,
ohne dieser Rechtsanschauung irgendwie Eintrag zu tun, indem sie diese viel¬
mehr vollständig offen läßt.

   Der österreichische Ministerpräsident verliest hierauf den folgenden Gesetz¬
entwurf:

   Gesetz betreffend die Einverleibung Bosnien und der Herzegowina in den Ver¬
band der österreichisch-ungarischen Monarchie.

   Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen wie
folgt:

   § 1. Die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in den durch die Prag¬
matische Sanktion begründeten Verband der österreichisch-ungarischen Monar¬
chie wird im Sinne des § 5 des Gesetzes vom 22. Februar 1880, Nr. 18 RGBL,

3 Die Konvention v. 21. 4. 1879 zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei wurde publiziert
       in Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze Nr. 196.
<pb/>202 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

betreffend die durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 an Österreich-Un¬
garn übertragene Verwaltung Bosniens und der Herzegowina genehmigt.

   § 2. Diese Länder bilden ein vom Kaiser von Österreich und apost. Könige von
Ungarn beherrschtes Gebiet und werden einen zur Mitwirkung bei der Gesetzge¬
bung und Verwaltung in Landesangelegenheiten berufenen Landtag erhalten.

   Die näheren Bestimmungen hierüber werden mit einer besonderen Landesver¬
fassung getroffen werden, die durch die übereinstimmenden Beschlüsse der ge¬
setzgebenden Körperschaften beider Staaten und die Sanktion des Kaisers und
Königs festzusetzen ist.

   § 3. Die Bestimmungen des Gesetzes vom 22. Februar 1880, Nr. 18 RGBl.,
betreffend die durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 an Österreich-Un¬
garn übertragene Verwaltung Bosniens und der Herzegowina bleiben bis zum
Zustandekommen der Landesordnung und insofeme diese keine abweichenden
Anordnungen enthält, auch fernerhin in Kraft.

   § 4. Dieses Gesetz tritt unter der Voraussetzung, daß die ihm entsprechenden
Bestimmungen in den Ländern der heiligen ungarischen Krone Gesetzeskraft er¬
halten und gleichzeitig mit diesem Gesetze kundgemacht werden, mit dem Tage
seiner Kundmachung in Wirksamkeit.

   § 5. Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes wird das Gesamtministerium betraut.
   Redner bemerkt hiezu, daß im § 1 dieses Gesetzentwurfes ganz allgemein und
in einer der Diktion des § 1 des XII. Gesetzartikels vom Jahre 1867 sich anschlie¬
ßenden Wendung dem Gedanken Ausdruck gegeben wird, daß die Aufnahme
Bosniens und der Herzegowina in den durch die Pragmatische Sanktion begrün¬
deten Verband der Monarchie genehmigt werde. Der § 2 setze fest, daß die Län¬
der ein von Sr. Majestät beherrschtes Gebiet bilden. Durch die im § 3 enthaltene
Berufung auf das Gesetz vom 22. Februar 1880, RGBl. Nr. 18, komme zum Aus¬
drucke, daß auch in Zukunft Änderungen des nunmehrigen Verhältnisses des ok¬
kupierten Gebietes zur Monarchie der übereinstimmenden Genehmigung beider
Legislativen bedürfen. Dem ungarischen Standpunkte sei auf diese Weise durch¬
aus nicht präjudiziert.
   Redner erklärt, es übrigens auch nicht von vomeherein ausschließen zu wol¬
len, daß dem ungarischen Gesetzentwürfe ein Präambulum vorangeschickt wer¬
de, in welchem der historische Rechtsanspruch auf Inkorporierung des okkupier¬
ten Gebietes zu den Ländern der heiligen ungarischen Krone ausdrücklich
Vorbehalten werde.
   Der österreichische Ministerpräsident bemerkt weiters, es müsse als absolut
ausgeschlossen betrachtet werden, daß im österreichischen Reichsrate ein Ge¬
setzentwurf angenommen würde, in dem der Reichsrat beschlußweise die Inkor¬
porierung Bosniens und der Herzegowina zu Ungarn anerkenne. Angesichts der
herrschenden Auffassung über die Lage, in der sich die slawischen Nationalitäten
in Ungarn befinden, würde kein einziger Vertreter einer slawischen Nation im
österreichischen Abgeordnetenhause für eine solche Vorlage stimmen, ebenso
wenig jene Parteien, welche heute noch unter dem Einflüsse großösterreichischer
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  203

Ideen stünden. Aber auch von anderen Parteien sei eine Stellungnahme zugunsten
einer solchen Bestimmung völlig ausgeschlossen. Ein derartiger Gesetzentwurf
ginge der absolut sicheren Ablehnung entgegen.

   Wenn man auch von allen rechtlichen Erwägungen absehen wolle, sei schon
aus diesem rein praktisch parlamentarischen Grunde des Eingehen auf die Inten¬
tionen der kgl. ung. Regierung unmöglich. Redner müsse übrigens auch darauf
aufmerksam machen, daß wahrscheinlich in Bosnien und der Herzegowina selbst
die Idee der Inkorporierung dieser Länder zu Ungarn auf den allerschärfsten Wi¬
derstand stoßen dürfte.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle reflek¬
tiert auf die vorstehenden Ausführungen des k. k. Ministerpräsidenten sowie auf
den von demselben zur Verlesung gebrachten Gesetzentwurf, indem er ausführt,
daß die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in die Monarchie dem un¬
garischen Staatsrechte widersprechen würde. Diese Länder müßten entweder in
dem einen oder in dem anderen Staatsgebiete aufgehen, da sonst ein dritter Fak¬
tor, ein Reichsland, entstehen würde, was vom ungarischen Standpunkte unzuläs¬
sig erscheine.

   Es entspinnt sich hierauf eine längere Diskussion über die infolge der eventu¬
ellen Annexion sich ergebende staatsrechtliche Frage, in deren Verlaufe der kgl.
ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle wiederholt nachdrücklich betont, daß diese
Frage bereits jetzt wenigstens im Prinzipe eine definitive Lösung erfahren müsse,
da man, ohne die staatsrechtliche Seite der Frage einer Lösung zuzuführen, wohl
okkupieren, nicht aber annektieren könne.

   Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck
vertritt dagegen den Standpunkt, daß in dieser Beziehung vorläufig nur so viel zu
geschehen hätte, als nötig sei, um der momentanen Zwangslage gerecht zu wer¬
den, in welche die Monarchie im gegenwärtigen Augenblicke nur infolge der
plötzlich ausgebrochenen jungtürkischen Bewegung gekommen sei.

   Schließlich kommen die beiden Ministerpräsidenten überein, eine neuerliche
Prüfung der staatsrechtlichen Frage vorzunehmen und nochmals den Versuch zu
machen, zu einer einverständlichen Lösung derselben zu gelangen.4

   Der Vorsitzende gibt sodann einen Überblick über die von ihm bisher
in betreff der diplomatischen Vorbereitung der Annexion unternommenen Schrit¬
te. Was zunächst Rußland betrifft, so erinnert Redner zunächst daran, daß er be¬
reits in der vorangegangenen Ministerkonferenz von einem Memorandum des
Petersburger Kabinettes Erwähnung getan habe, worin der Monarchie unter ge-

Am 11. 11. 1908 wurden in beiden Parlamenten unterschiedliche Gesetzentwürfe einge¬
bracht, mit denen die rechtliche Eingliederung Bosnien-Herzegowinas in den Verband der
österreichisch-ungarischen Monarchie parlamentarisch beschlossen werden sollte. Diese
Entwürfe wurden von beiden Parlamenten nicht behandelt. Die Texte beider Gesetzentwürfe
sind publiziert in Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze cisleithanischer Entwurf
Nr. 200 c und ungarischer EntwurfHr. 200 d. Siehe dazu auch den Kommentar Bernatziks,
ebd. 1032 f.
<pb/>204 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

wissen, allerdings ziemlich weit gehenden Kompensationsforderungen das Aner¬
bieten gemacht wird, Bosnien und die Herzegowina samt dem Sandschak zu an¬
nektieren. In Erwiderung hierauf habe Redner unterm 27. August Herrn Iswolskij
ein Memorandum zugehen lassen, worin im wesentlichen erklärt wird, daß Öster¬
reich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina als ein seit dreißig Jahren in seinem
Besitze befindliches Territorium betrachte, welches es auf Grund eines internatio¬
nalen Mandates okkupiert und mit Waffengewalt erobert habe. Dies vorausge¬
schickt, habe Redner in dem vorerwähnten Memorandum als Basis für eine Ver¬
ständigung zwischen den beiden Kabinetten folgende Gesichtspunkte aufgestellt:5
Österreich-Ungarn und Rußland halten an ihrem Entschlüsse, den gegenwärtigen
Status quo in der Türkei aufrecht zu erhalten, so lange fest, als die Umstände es
gestatten, und enthalten sich, außer im Falle vorangegangener Verständigung un¬
tereinander, jeder Einmischung im nahen Oriente. Sollten zwingende Umstände
jedoch Österreich-Ungarn veranlassen, Bosnien und die Herzegowina zu annek¬
tieren, so würde die russische Regierung dieser Maßnahme gegenüber eine wohl¬
wollende und freundliche Haltung einnehmen. Dagegen würde sich das Wiener
Kabinett verpflichten, unmittelbar nach der Proklamation der Annexion seine
Truppen aus dem Sandschak zurückzuziehen und endgiltig auf jede Annexion
dieses Territoriums zu verzichten. Bezüglich der russischerseits aufgeworfenen
Frage von Konstantinopel und dessen angrenzendem Gebiete sowie der Durch¬
fahrt durch die Dardanellen erklärt sich das Wiener Kabinett vorkommenden Fal¬
les zu einem vertraulichen und freundschaftlichen Gedankenaustausche bereit.
Dieses Memorandum sei von Herrn Iswolskij im allgemeinen freundlich aufge¬
nommen worden. Redner werde nun demnächst in Buchlau mit dem russischen
Minister des Äußern Zusammentreffen und es werde sich dann Gelegenheit bie¬
ten, die Ansicht Herrn Iswolskijs über die in dem österreichisch-ungarischen Me¬
morandum enthaltenen Anregungen zu erfahren.6 Redner könne zwar keine abso¬
lute Sicherheit dafür geben, daß die von ihm in dem Memorandum vom 27.
August niedergelegten Gesichtspunkte russischerseits angenommen werden,
doch betrachte er das Petersburger Kabinett mit Rücksicht auf die in dessen Me¬
morandum vom 6. Juli gemachten Anerbietungen als bis zu einem gewissen Gra¬
de gebunden, weshalb Redner schon heute der Hoffnung Raum geben zu können
glaube, daß von Rußland bei der Annexion keine Schwierigkeiten zu erwarten
sein werden.

         Siehe dazu GMR. v. 19. 8. 1908, GMCPZ. 461, Anm. 1.
         Siehe dazu die Aufzeichnung über eine am 16. September 1908 in Buchlau geführte Unterre¬
         dung mit dem russischen Minister des Äußern Iswolsky, ohne Datum, publiziert in Öster¬
         reich-Ungarns AUSSENPOLITIK, Bd. 1, Nr. 79. Zu den Abmachungen zwischen Aehrenthal und
         Iswolskij in Buchlau siehe Bridge Francis Roy, Aehrenthal, Izvolsky, Grey and the Annexa-
         tion of Bosnia 413-420.
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  205

   Redner kommt sodann auf seinen Besuch beim deutschen Staatssekretär v.
Schoen in Berchtesgaden zu sprechen,7 welchem gegenüber er bemerkt habe, daß
Österreich-Ungarn zwar an seiner konservativen Politik im nahen Oriente fest-
halte und den gegenwärtigen Status quo aufrecht zu erhalten wünsche, daß aber
immerhin Ereignisse zwingender Natur eintreten könnten, welche diese Absich¬
ten zu durchkreuzen geeignet wären und die Monarchie veranlassen könnten,
unter Verzicht auf ihr Besatzungsrecht im Sandschak ihre Truppen von dort zu¬
rückzuziehen und zur Annexion Bosniens und der Herzegowina zu schreiten.
Herr v. Schoen habe für die schwierige Lage, welche für Österreich-Ungarn hin¬
sichtlich der okkupierten Provinzen infolge der jungtürkischen Bewegung ent¬
standen sei, volles Verständnis an den Tag gelegt und nur ein gewisses Erstaunen
darüber gezeigt, daß Österreich-Ungarn in seinen Aspirationen auftürkisches Ge¬
biet so maßvoll und bescheiden sei. Die Monarchie werde - so habe v. Schoen
hinzugefugt - für den Fall des Eintrittes der vom Redner angedeuteten Eventua¬
litäten - bestimmt auf die Unterstützung Deutschlands rechnen können.

   Redner führt sodann, auf seine kürzlich stattgehabte Begegnung mit dem ita¬
lienischen Minister des Äußern übergehend, aus,8 daß er demselben gegenüber
betont habe, Österreich-Ungarn wünsche, was seine Politik der Türkei gegenüber
betrifft, sich solange als möglich auf derselben Linie zu bewegen wie die übrigen
Mächte, doch bestehe für die Monarchie eine besonders schwierige Lage nicht
nur wegen ihrer geographischen Lage zur Türkei, sondern auch wegen der ihr
durch den Berliner Vertrag hinsichtlich Bosniens und der Herzegowina sowie des
Sandschaks eingeräumten Rechte.

   Bosnien und die Herzegowina anlangend, könne wohl kein Zweifel bestehen,
daß das Verbleiben Österreich-Ungams in diesen Provinzen ein dauerndes sei und
es nur von den Umständen abhängen werde, daß Österreich-Ungarn die Form
seines Besitzes dortselbst in definitiver Weise regle. Herr Tittoni habe auch keinen
Anstand genommen, in positiver Weise zu erklären, daß Bosnien und die Herze¬
gowina selbstverständlich Österreich-Ungarn gehören und die Monarchie in be¬
treff des Rechtes auf diese Provinzen die Unterschrift Italiens habe. Auch habe
Redner Herrn Tittoni gegenüber bei dieser Gelegenheit konstatieren zu sollen ge¬
glaubt, daß Österreich-Ungarn nach den Bestimmungen des vier Jahre nach der
Okkupation Bosniens und der Herzegowina geschlossenen Dreibundvertrages im
Falle der Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses dieser Provinzen keine
Verpflichtung zur Gewährung von Kompensationen an Italien hätte.

   Bezüglich des Sandschaks habe Redner dem italienischen Minister des Äußern
erklärt, daß er ebenso wie Graf Gohichowski im Jahre 1904 das Recht Österreich-

Erwähnung dieses Treffens im Schreiben (K.) Aehrenthals an Bülow v. 26. 9. 1908, publiziert
in Österreich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1, Nr. 89.
Dazu die Aufzeichnung über eine Unterredung mit dem italienischen]. Minister des Äußern
Tittoni in Salzburg, 5. Sept. 1908, publiziert in Österreich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1,
Nr. 67.
<pb/>206 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

Ungarns, die Garnisonen dortselbst zu vermehren und auszudehnen, aufrecht er¬
halte, daß eine eventuelle Notwendigkeit hiezu jedoch keineswegs den Absichten
des Wiener Kabinettes entsprechen würde. Redner habe übrigens Herrn Tittoni
versprochen, in einem solchen Falle die italienische Regierung prealablement zu
verständigen, um sie in die Lage zu versetzen, eine solche konservative Maßnah¬
me Österreich-Ungams seinem Lande gegenüber zu erklären und zu verteidigen.
Auch im Falle der Vornahme der Annexion werde Redner den italienische Mini¬
ster des Äußern, wenn auch nur kurz vorher, verständigen müssen, um denselben
nicht in eine schwierige Lage seinem Parlamente gegenüber zu bringen.

    Im allgemeinen habe Redner aus seiner Unterredung mit dem italienischen
Minister des Äußern die Überzeugung schöpfen können, daß von Seite Italiens in
betreff der Annexion nichts Ernstliches zu befürchten sein werde.

   Redner bemerkt noch weiters, daß die Absicht bestehe, dem deutschen Kaiser,
dem Kaiser von Rußland und dem Könige von Italien durch eigenhändige Schrei¬
ben Sr. Majestät von der bevorstehenden Annexion Kenntnis zu geben, während
dem Könige von England und dem Präsidenten der französischen Republik durch
die k. u. k. Botschafter in London und Paris in einer zu diesem Zwecke zu erbit¬
tenden Audienz die analoge Mitteilung gemacht werden solle.

   Redner teilt ferner mit, daß er auch versucht habe, sich darüber zu orientieren,
wie sich die Türkei im Falle der Annexion verhalten und welchen Eindruck die¬
selbe dort machen würde, und zwar habe er zu diesem Zwecke bei einer beson¬
ders markanten Persönlichkeit, wenngleich dieselbe zur Zeit nicht an der Spitze
der Regierung stehe, Sondierungen vornehmen lassen. Diese Persönlichkeit sei
der gewesene Großwesir Ferid Pascha, bei welchem Markgraf Pallavicini in sehr
vorsichtiger Weise die Eventualität der Räumung des Sandschaks angedeutet und
dabei die Möglichkeit der Annexion Bosniens habe durchblicken lassen.9 Ferid
Pascha habe darauf mit der Bemerkung reagiert, daß die Zurückziehung der
österreichisch-ungarischen Truppen aus dem Sandschak in der Türkei sicherlich
als eine große Konzession würde betrachtet werden; trotzdem aber müsse er drin¬
gend raten, im gegenwärtigen Momente bezüglich Bosniens und der Herzegowi¬
na nichts zu unternehmen, da es jetzt ja eigentlich keine Regierung in der Türkei
gebe, mit der man über eine so wichtige Frage verhandeln könnte.

   Redner habe draufhin den k. u. k. Botschafter in Konstantinopel angewiesen,
von weiteren diesfälligen Pourparlers mit Ferid Pascha abzusehen. Redner behal¬
te sich übrigens vor, knapp vor Proklamierung der Annexion neuerdings an den
genannten türkischen Staatsmann heranzutreten. Die türkische Armee sei übri¬
gens derzeit so desorganisiert, daß von der Türkei kaum mehr als ein Protest und
allenfalls der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu befürchten sei. Nach
erfolgter Annexion und nachdem der erste Lärm sich gelegt haben werde, würden
dann aber die Beziehungen zur Türkei aller Voraussicht nach wieder wesentlich

9 Über dies Gespräch berichtete Pallavicini in seinem Telegramm an Aehrenthal v. 2. 9. 1908,
        publiziert in Österreich-Ungarns Aussenpoutik, Bd. 1, Nr. 61.
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  207

bessere werden als vor dem Abbruche, weil dann zwischen der Türkei und Mon¬
archie ein klares Verhältnis hergestellt sein werde.

   Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck
richtet an den Vorsitzenden die Anfrage, ob es nicht doch ratsam wäre, knapp vor
der Annexion direkt an den Sultan heranzutreten und ihm die Räumung des San-
dschaks als Preis für seine Zustimmung zur Annexion anzubieten.

   Der Vorsitzende führt demgegenüber aus, daß der k. u. k. Botschafter
in Konstantinopel anfänglich selbst Bedenken gegen die Vornahme der Annexion
im gegenwärtigen Momente geltend gemacht habe, seither aber seine Meinung
geändert und sich dafür ausgesprochen habe, daß man diesfalls verblüffend wir¬
ken müsse. Für ein rasches Vorgehen sprächen auch Nachrichten welche dem
Redner erst ganz kürzlich zugekommen seien. So sei seitens des k. u. k. Ge¬
schäftsträgers in Belgrad die Meldung eingelangt, daß das serbische Aktionsko¬
mitee ,,Slovenski Jug&quot; mit dem jungtürkischen Komitee zu dem Zwecke in Ver¬
bindung getreten sei, um in Bosnien eine aufständische Bewegung zu entfachen
und auch in Kroatien zu hetzen und zu intriguieren. Auch machten sich mehrfa¬
che Anzeichen dafür bemerkbar, daß im Sandschak von Novipazar alle verläßli¬
chen und der Monarchie wohlgesinnten alten türkischen Funktionäre nach und
nach abberufen und durch serbenfreundliche Männer des neuen Regimes ersetzt
werden, was die Gefahr eines Konfliktes mit den k. u. k. Besatzungstruppen im
Sandschak sehr wesentlich steigere. Man dürfe sich eben darüber keiner Täu¬
schung hingeben, daß Serbien alle Hebel in Bewegung setze, um der Monarchie
in Bosnien, Kroatien und Dalmatien Verlegenheiten zu bereiten, um eine den ei¬
genen Aspirationen günstige Lage herbeizuführen. Es seien hauptsächlich drei
Gründe, welche im gegenwärtigen Augenblicke für ein rasches Handeln sprä¬
chen: 1. die Gefahr, daß das im Laufe des November zusammentretende türkische
Parlament einen Beschluß bezüglich Bosniens fasse, 2. die Gefahr, daß sich in
Bosnien selbst eigenmächtig ein Parlament konstituiere, 3. daß jetzt noch der
letzte Augenblick sei, wo die Monarchie aus eigenem freien Entschlüsse aus dem
Sandschak herauskommen könne und wo ein solcher Entschluß noch einen mit
Vorteil zu verwertenden Akt der Großmut darstellen würde. Wenn dieser Moment
versäumt werde, so würde leicht im Herbst oder Winter ein Inzidenzfall im San¬
dschak eintreten, der nicht nur die Räumung desselben seitens der k. u. k. Trup¬
pen verhindern, sondern die Monarchie nötigen würde, ihre Stellung dortselbst
durch Mobilisierung des 15. Korps zu wahren.

   Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck
ergreift hierauf das Wort, um dem gemeinsamen Finanzminister sowie dem Vor¬
sitzenden für deren sehr eingehende Darlegungen zu danken, und bemerkt, daß
ein ihm seitens des letzteren mitgeteilter Bericht des Brigadekommandos in
Pljevlje über die dortige Lage tatsächlich großen Eindruck auf ihn gemacht habe
und er nunmehr selbst anerkennen müsse, daß die Situation dortselbst leicht ei-
<pb/>208 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

nen sehr bedenklichen Charakter annehmen könnte.10 Redner müsse selbst zuge¬
ben, daß faktisch eine Zwangslage vorhanden sei, welche es im höchsten Grade
wünschenswert erscheinen lasse, dem Zustande des Zweifels ein Ende zu ma¬
chen.

   Was die diplomatische Vorbereitung betreffe, so habe Redner volles Vertrauen
in den Vorsitzenden, welcher diesfalls ja auch die Verantwortung trage.

   Bezüglich des Zeitpunktes für die Vornahme der Annexion bemerkt Redner,
daß derselbe mit dem Termine für den Zusammentritt der Delegationen Zusam¬
menhänge und bezüglich dieses letzteren wieder das Kalendarium der österreichi¬
schen Regierung hinsichtlich der Tätigkeit des Reichsrates und der Landtage in
Betracht gezogen werden müsse. Da nun, um den Landtagen Zeit zu ihren Arbei¬
ten zu lassen, die Einberufung des Reichsrates für den 3. November in Aussicht
genommen sei, die Proklamation der Annexion aber jedenfalls vor dem Zusam¬
mentritte der Delegationen erfolgen müsse, spricht Redner sich dafür aus, daß der
Beginn der Delegationssession erheblich hinausgeschoben werde, damit die die
Annexion betreffenden Gesetzvorlagen ehestens dem Reichsrate unterbreitet
werden können. Es müsse jedenfalls vermieden werden, daß die betreffenden
Vorlagen im Reichsrate etwa später als im ungarischen Reichstage eingebracht
werden.

   Anschließend an diese Äußerung des k. k. Ministerpräsidenten entspinnt sich
sodann eine längere Diskussion über die Frage des Termines für die Einberufung
der Delegationen, welche zu dem Ergebnisse führt, daß diesfalls ein noch zu be¬
stimmender Tag der ersten Oktoberwoche in Aussicht genommen wird. An dem¬
selben oder dem vorhergehenden Tage würde dann, unter der Voraussetzung, daß
es zwischen den beiden Ministerpräsidenten bis dahin zu einer Einigung bezüglich
der staatsrechtlichen Frage kommt, die Proklamierung der Annexion stattfinden.

   Der Vorsitzende läßt hieraufeine in seinem Aufträge vorbereitete Pro¬
klamation zur Verlesung bringen, mittels welcher der Bevölkerung Bosniens und
der Herzegowina die erfolgte Annexion zur Kenntnis gebracht werden soll, und
schlägt unter Anführung historischer Gesichtspunkte vor, daß Se. Majestät den
Titel eines Königs von Bosnien annehmen möge.11

   Der k. u. k. Reichsfinanzminister Freiherr v. Bu-
r i ä n gibt, was die Titelffage betrifft, seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß die
Annahme des Königstitels durch Se. Majestät und damit die Verleihung des Titels
eines Königreiches an Bosnien nicht in die Proklamation aufzunehmen wäre,
sondern daß dies erst später, gleichsam als Belohnung für das loyale Verhalten
der annektierten Provinzen erfolgen sollte und wenn der zu schaffende Landtag

        Schreiben Aehrenthals an Beck und Wekerle v. 26. 8. 1908 mit dem Situationsbericht des 9.
         Gebirgsbrigadekommandos in Pljevlje v. 20. 8. 1908, publiziert in Österreich-Ungarns
        AUSSENPOLITIK, Bd. 1, Nr. 46.
        Proklamation an das bosnische Volk, September 1908, HHStA., PA. I, Geheime Akten, Lias-
         se XXXIX: Annexion Bosniens und der Herzegowina (Vorbereitung, Korr, usw.), fol. 103v.
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  209

darum bittlich werden sollte. Auch spricht Redner sich dafür aus, daß der Titel
,,König von Bosnien und der Herzegowina&quot; lauten sollte. Der Königstitel werde
Bosnien und die Herzegowina jedenfalls auch gegen Einverleibungstendenzen
seitens Kroatiens schützen.

   Bei der weiteren Besprechung der Proklamation äußert sich Redner dahin, daß
in derselben auch gesagt werde müßte, daß den Einwohnern Bosniens und der
Herzegowina auch eine Teilnahme an den allgemeinen Interessen der Monarchie
gewahrt werden würde, da es nicht möglich sei, denselben nur ein beschränktes
Bürgerrecht zu verleihen. Es werde daher auch irgend eine Form gefunden wer¬
den müssen für die Teilnahme der Einwohner Bosniens und der Herzegowina an
den Delegationen, da dieselben ja in Hinkunft auch an den gemeinsamen Ausga¬
ben partizipieren würden. Jedenfalls werde der Anschein vermieden werden müs¬
sen, als ob die volle Ausübung der Staatsbürgerrechte der Einwohner von Bosni¬
en und der Herzegowina dortselbst zu erfolgen haben werde.

   Sowohl der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle
als auch der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v.
Beck sprechen sich entschieden hiergegen aus und bemerkt letzterer, daß vor¬
läufig nur davon die Rede sein solle, daß Bosnien und die Herzegowina einen
Landtag in Landesangelegenheiten erhalten. In allen übrigen Belangen müsse es
vorläufig bei alten bleiben, da man sonst unabsehbare Schwierigkeiten heraufbe¬
schwören würde.

   Nachdem es sich im Laufe der über die Proklamation geführten Erörterung als
wünschenswert herausgestellt hat, einzelne Stellen derselben einer Modifikation
zu unterziehen, beschließt die Konferenz auf Vorschlag des Vorsitzenden, den k.
u. k. gemeinsamen Finanzminister damit zu betrauen, an der Proklamation die
erforderlichen Änderungen vorzunehmen, worauf sodann den beiden Minister¬
präsidenten sowie dem Reichskriegsminister eine Abschrift des amendierten Ent¬
wurfes übermittelt werden solle.12

   Der Vorsitzende teilt hierauf der Konferenz mit, daß er auch den Ent¬
wurf eines Manifestes vorbereitet habe, womit den Völkern der Monarchie die
Tatsache der erfolgten Annexion zur Kenntnis gebracht werden solle. Nach ei¬
nem kurzen Gedankenaustausche einigt sich jedoch die Konferenz dahin, daß
von einem solche Manifeste abgesehen werden könnte und daß statt dessen [ein]
Ah. Handschreiben an die beiden Ministerpräsidenten sowie an den Vorsitzenden
zu richten wären, welche die Bekanntgabe der erfolgten Annexion enthalten. Die¬
se Ah. Handschreiben hätten identisch zu sein und nur die an die beiden Minister¬
präsidenten zu richtenden noch einen Zusatz zu enthalten, womit diese letzteren
aufgefordert werden, wegen Einbringung einer einschlägigen Gesetzvorlage in
den Parlamenten sowie wegen Verlautbarung der Annexion das Erforderliche zu
veranlassen.

12 Konzepte der Proklamation liegen in HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXIX, Anne¬
       xion Bosniens und der Herzegowina 1908-1909, 1. Teil, Karton 485, fol. 95r-131r.
<pb/>210 Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908

   Der Vorsitzende läßt weiters den Entwurf einer an die Pforte zu richtenden
Note verlesen, womit die Konstantinopeler Konvention vom 21. April 1879 ge¬
kündigt und der Pforte eröffnet wird, daß die Monarchie hiemit wieder die Frei¬
heit ihrer Entschließungen hinsichtlich Bosniens und der Herzegowina zurücker¬
langt hat.13

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle bringt
diesfalls den Wunsch zum Ausdrucke, daß auch in diesem Aktenstücke auf das
historische Recht Bezug genommen werde.

   Der Vorsitzende fuhrt demgegenüber aus, daß ihm dies nicht tunlich
erscheine, da ein solcher Titel im Jahre 1878 nicht geltend gemacht worden sei,
sondern der Einmarsch der österreichisch-ungarischen Truppen in Bosnien und
der Herzegowina vielmehr unter Berufung auf den nötigen Schutz der Interessen
der Monarchie und des europäischen Friedens erfolgt sei. Die Frage, ob und in¬
wieweit an der erwähnten Note etwa eine Modifikation vorzunehmen wäre, bleibt
einstweilen offen.

   Redner bemerkt sodann, daß er auch eine Zirkulamote an die Mächte vorberei¬
tet habe, welche jedoch nur die Notifikation der erfolgten Kündigung der Kon¬
stantinopeler Konvention vom Jahre 1878 enthalte.

   Der Vorsitzende bringt sodann die Frage der im Hinblicke auf die bevorstehen¬
de Annexion zu treffenden militärischen Maßnahmen zur Diskussion und ersucht
den k. u. k. Reichskriegsminister FZM. Freiherrn v.
Schönaich, sich hierüber zu äußern, welcher zunächst daran erinnert, daß
er bereits in der vorangegangenen gemeinsamen Ministerkonferenz die Verstär¬
kung der in Bosnien und der Herzegowina dislozierten Truppen durch Erhöhung
der Stände derselben sowie durch Zurückziehung der Gebirgsbrigade aus dem
Sandschak als notwendig bezeichnet habe. Redner weist daraufhin, daß er keine
gesetzliche Grundlage habe, um die erforderlichen Standeserhöhungen durch
Einberufung von Ersatzreservisten zu bewerkstelligen und daß daher, nachdem
auch eine Verschiebung von Truppenkörpem aus der Monarchie wegen deren ge¬
genwärtigen geringen Ständen nicht tunlich sei, nichts übrig bleibe, als eine teil¬
weise Mobilisierung zu verfugen, wodurch in der öffentlichen Meinung allerdings
ein unangenehmer Eindruck hervorgerufen werden würde. Die Stärke der Trup¬
pen im Okkupationsgebiete und in Süddalmatien betrage zur Zeit einen Verpflegs-
stand von 26 000 Mann, wovon jedoch nur 20 000 Mann als Gefechtsstand in
Rechnung gestellt werden könnten. Durch teilweise Mobilisierung des 15. Korps
könnten diese 20 000 Mann auf einen Gefechtsstand von 64 000 Mann gebracht
werden. Redner erinnert an die im Jahre 1878 gemachten üblen Erfahrungen, wo
man anfänglich unterlassen habe, die nötigen militärischen Maßnahmen zur Ok¬
kupation zu treffen und dann infolge der Ereignisse genötigt gewesen sei, weit
größere Maßnahmen als die ursprünglich erforderlich gewesenen zu treffen.

13 Konzepte der Handschreiben liegen in HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXIX: An¬
        nexion Bosniens und der Herzegowina 1908-1909, 1. Teil, Karton 485, fol. 134r-146r.
<pb/>Nr. 4 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 10. 9. 1908  211

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle erkun¬
digt sich nach den Kosten, welche aus einer eventuellen Mobilisierung des 15.
Korps erwachsen würden und wie lange die Mobilisierung würde aufrecht erhal¬
ten werden müssen.

   Der k. u. k. Reichskriegsminister FZM. Freiherr
v. Schönaich beantwortete diese Anfrage dahin, daß die Mobilisierung im
ersten Monate auf 48 Millionen, in jedem folgenden auf sechs Millionen zu ste¬
hen kommen würde, und daß man, wenn die Mobilisierung einmal verfügt sei,
die Tmppen wohl bis zum Frühjahre werde beisammen halten müssen, was einen
Kostenaufwand von 100 Millionen verursachen würde.

   Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck
bezeichnet es als in hohem Maße wünschenswert, daß, wenn irgend tunlich, die
Mobilisierung wegen des schlechten Eindruckes auf das Ausland vermieden wer¬
de. Auch auf die politischen Kreise des Inlandes würde die Mobilisierung wegen
der großen Kosten und wegen der tiefgreifenden wirtschaftlichen Folgen einen
äußerst ungünstigen Eindruck hervorbringen. Redner wäre daher dafür, daß man
auch in dieser Beziehung den Eintritt einer Zwangslage abwarte, auf welche man
sich dann nach innen und außen würde berufen können.
  Der Vorsitzende führt aus, daß die von dem Reichskriegsminister an¬
geführten Reminiszenzen aus dem Jahre 1878 auf ihn einen starken Eindruck
gemacht hätten. Immerhin würde Redner das Wort ,,Mobilisierung&quot; vorerst gerne
vermieden sehen, wenn er auch der Ansicht sei, daß es bedenklich wäre, ohne
irgendwelche besondere militärische Vorkehrungen dem Winter und Frühjahre
entgegenzugehen. Sollte die Annexion zu irgend einer, wenn auch nicht bedeu¬
tenden aufständischen Bewegung Anlaß geben, so würde dann die Mobilisierung
den Mächten gegenüber gerechtfertigt erscheinen.

   Der k. u. k. Reichsfinanzminister Freiherr v. Bu-
r i ä n spricht sich dahin aus, daß die a-priori-Mobilisierung entschieden einen
schlechten Eindruck hervorrufen und als Mangel an Vertrauen in die Bevölke¬
rung ausgelegt werden würde. Es wäre nach Ansicht des Redners daher ange¬
zeigt, die Mobilisierung erst einige Tage, eventuell eine Woche, nach der Annexi¬
on anzuordnen, wenn man etwa sehen werde, daß die Sache nicht ganz ruhig
abläuft, wodurch dann ein großer moralischer Effekt erzielt werden würde. Red¬
ner möchte jedoch nochmals betonen, daß nach den Aussagen aller seiner Ver¬
trauensmänner die Annexion, von allfälligen kleineren Demonstrationen abgese¬
hen, anstandslos werde durchgeführt werden können.

   Nachdem noch der k. k. Ministerpräsident sich der Ansicht des Vorredners
angeschlossen hat, konkludiert der k. u. k. Reichskriegsmini¬
ster FZM. Freiherr v. Schönaich dahin, daß man immerhin
den Versuch machen könne, vorläufig ohne Mobilisierung auszukommen und
diese erst dann eintreten zu lassen, wenn der Landeschef, welcher diesfalls be¬
reits mit entsprechenden Instruktionen versehen sei, einen dahingehenden Antrag
stellen würde.
<pb/>212 Nr. 5 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 22. 11. 1908

   Der Vorsitzende schließt hierauf die Sitzung, indem er sich vorbehält,
zur endgiltigen Bereinigung der heute noch offen gebliebenen Fragen in nächster
Zeit nochmals eine gemeinsame Ministerkonferenz einzuberufen.14

                                                                                           Aehrenthal

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen.
Wien, 16. November 1908. Franz Joseph.

      Nr. 5 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 22. November 1908

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle, der k. k. österreichische Minister¬
präsident Freiherr v. Bienerth (21. 12.), der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Freiherr v. Buriän,
der kgl. ung. Ackerbauminister v. Daränyi,&quot; der k. u. k. Erste Sektionschef im k. u. k. Ministerium
des k. u. k. Hauses und des Äußern Freiherr v. Call, der Leiter des k. k. Handelsministeriums Sek¬
tionschef Dr. Mataja,b der Leiter des k. k. Ackerbauministeriums Sektionschef Pop, der Leiter des
k. k. Finanzministeriums Sektionschef Freiherr v. Jorkasch-Koch,c der Staatssekretär im kgl. ung.
Handelsministerium v. Szterenyi, der Staatssekretär im kgl. ung. Finanzministerium Popovics, der
Sektionschef im k. k. Handelsministerium Ritter v. Roessler, der Sektionschef im k. u. k. Ministe-

        Anmerkung Daränyis mit dem Bemerken, daß zur Staffelierung des an Rumänien zu gewäh¬
        renden Rinderkontingentes die Zustimmung nicht gegeben werde.
        Anmerkung 10. 2. 09 der Leitung des Ressorts enthoben worden.
        Anmerkung dl (?) wie oben.

        Über die Annexion Bosnien-Herzegowinas fand kein gemeinsamer Ministerrat mehr statt.
        Mit seinen Schreiben v. 29. 9. 1908 an die Signatarmächte der Berliner Kongreßakte, den
        Deutschen Kaiser Wilhelm II. - Österreich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1, Nr. 92 den
        König von England Edward VII. - ebd., Nr. 93 den Staatspräsidenten derfranzösischen
        Republik Fallieres - ebd., Nr. 95 den König von Italien Viktor Emmanuel III. - ebd., Nr. 96
        - und den russischen Zaren Nikolaus II. - ebd., Nr. 97 - teilte Franz Joseph die bevorstehen¬
        de Annexion Bosnien-Herzegowinas mit, HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXLX
        a-e, Annexion Bosniens und der Herzegowina 1908-1909, 1. Teil, Karton 485, fol. 300r-
        329r. Mit Schreiben Aehrenthals an Pallavicini v. 30. 9. 1908 wurde diesem die der türki¬
        schen Regierung zu überreichende Verbalnote mitgeteilt, die Pallavicini am 7. 10. 1908 über¬
        gab, HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXIX a-e, Annexion Bosniens und der
        Herzegowina 1908-1909, 1. Teil, Karton 485, fol. 271r-276r, publiziert in Österreich-
        Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1, Nr. 99. Der Vortag Aehrenthals v. 4. 10. 1908 wegen der An¬
        nexion, wurde mit Ah. E. v. 5. 10. 1908 resolviert, HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse
        XXXIX, Annexion Bosniens und der Herzegowina 1908-1909,1. Teil, Karton 485, fol. 61t-
        68v. Mit den Ah. Handschreiben v. 5. 10. 1908 an Aehrenthal, Buriän, Bienert und Wekerle
        wurde die Annexion Bosnien-Herzegowinas bekannt gegeben, publiziert in Bernatzik, Öster¬
        reichische Verfassungsgesetze, Nr. 200 b.
<pb/>