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Gemeinsamer Ministerrat, 14. 11. 1870

170 Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870

v. Kerkäpoly fugte die Bemerkung bei, daß für nächstes Jahr an Straßen¬
baukosten um einen Million mehr ins ungarische Budget eingestellt wurde, wo¬
mit Seine Majestät die Sitzung zu schließen geruhte.

                                                                                                   Beust

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen.
Ofen, 26. November 1870. Franz Joseph.

      Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. November 1870

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der Reichskanzler Graf Beust (o. D.), der kgl. ung. Ministerpräsident Graf
Andrässy (o. D.), der k. k. Ministerpräsident GrafPotocki (o. D.), der Reichskriegsminister Freiherr
v. Kuhn (21. 11.), der Reichsfinanzminister v. Lönyay (27. 11.), der k. k. Minister des Innern Graf
Taaffe (21. 11.), der kgl. ung. Minister am Ah. Hoflager GrafFestetics (o. D.).
    Protokollführer: Sektionsrat Freiherr v. Konradsheim.

   Gegenstand: I. Zusammentritt der Delegationen, n. Rußlands neueste Zirkulamote.

   KZ. 4354-RMRZ. 91
    Protokoll des zu Wien am 14. November 1870 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.1

    I. Seine Majestät der Kaiser geruhte die Besprechung mit
dem Bedeuten einzuleiten, daß es bei den im Reichsrat eingetretenen Verzöge¬
rungen nötig sei, sich darüber klar zu werden, ob der für den 21. November d. J.
bestimmte Zusammentritt der Delegationen werde eingehalten werden.2

    Ministerpräsident Graf Potocki: Die Frage der Terminein¬
haltung sei im Adreßausschusse des Abgeordnetenhauses aufgeworfen worden,
wobei sich die Führer der Verfassungspartei mit Hinweis auf die bis dahin noch
nicht beendigte Adreßdebatte gegen die Einhaltung ausgesprochen hätten. Vortra¬
gender habe hierauf den Antrag gestellt, die Delegation des Reichsrates möge

         Die Verhandlung des Ministerrates in ihren vielseitigen Zusammenhängen analysieren Diö-
         szegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 179-194; Lutz,
         Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 353-364.
         Zwar wird am 15. September die 6. Reichsratssession eröffnet, aber die Arbeit kann nicht
         beginnen, weil der böhmische Landtag keine Abgeordneten in den Reichsrat entsendet. Am 8.
         November erscheinen bei der Notwahl (d. h., man verordnete eine direkte Reichsratswahl)
         die deutschen Abgeordneten Böhmens im Reichsrat. Über den ganzen Prozess siehe k. k.
         Ministerpräsident an Beust v. 5. 10. 1870 [1368/MP.] HHStA., PA. I, Karton 564. Delegati¬
         onsakten 1870-1871; und au. Vortrag von Beust v. 10. 10. 1870 Nr. 779 wegen Einberufung
         der Delegationenpro 1870 nach Pest zur Beratung des gemeinsamen Budgetspro 1871. Ebd.
         Ah. E. 11. 10. 1870.
<pb/>Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870  171

sich am 21. November in Pest konstituieren und sofort zur Beendigung der Adreß-
debatte nach Wien zurückkehren. Dieser auch von Rechbauer3 bereits im Klub
zur Sprache gebrachte Antrag habe aber wenig Aussicht auf Annahme. Es frage
sich nun, ob Seine Majestät die Termineinhaltung anbefehle oder eine kurze Ver¬
tagung bewillige. Vortragender müsse, so ungern er es tue, sich doch für die Ver¬
tagung aussprechen, und zwar im Hinblick auf die Stimmung der Verfassungs¬
partei, welche die Vertagungsfrage gerne zu einer Kundgebung benützen möchte,
um zu zeigen, daß sie mit dem Ministerium nicht einverstanden ist. Er glaube,
daß unter der Voraussetzung, daß die Wahl in die Delegationen noch in dieser
Woche erfolgt, wofür verläßliche Anhaltspunkte vorliegen, die Vertagung bis 26.
d. M., bis wohin die Adreßdebatte beendigt sein wird, sich empfehle. Dadurch
werde der Zusammentritt der Delegationen gesichert und gleichwohl das Streben
der Partei nach einen Anlaß zu einer regierungsfeindlichen Kundgebung gegen¬
standslos. Nach einer Äußerung des Dr. Klier4 sei Vortragender übrigens auch zu
dem Glauben berechtigt, daß ohne Vertagung die Abgeordneten aus Böhmen und
Mähren gar nicht wählen werden.

   Reichskanzler Graf Beust: Letzterer Umstand falle weniger
ins Gewicht, denn wenn die Abgeordneten der übrigen Länder wählen wollen, so
vermöge die Abstimmung der Böhmen und Mähren die Wahl nicht zu annullie¬
ren. Nur die Verfassungspartei als solche könne die Delegationswahl hindern.

   Ministerpräsident Graf Potocki: In den Klubberatungen
wäre es wohl möglich, die Wahl von der Tagesordnung abzusetzen.

   Ministerpräsident Graf Andrässy: Er habe sich schon bei
einer gestrigen Besprechung dahin geäußert und sei auch jetzt noch der Meinung,
daß wenigstens der Versuch noch einmal gemacht werden solle, die cisleithani-
schen Delegierten für den 21. d. M. zum Erscheinen bei der Delegationseröff¬
nung behufs Entgegennahme der Vorlagen zu vermögen, wonach es ihnen unver-
wehrt bleibe, ihre parlamentarischen Geschäfte im Reichsrat zu beendigen. Sollte
es nicht gelingen, so bleibe dann wohl nichts übrig als die Vertagung, denn es
gehe ganz und gar nicht an, die Delegation am 21. November als konstituiert zu
betrachten, wenn auch die ungarische Delegation vorläufig nur allein tage. Einen
solchen Zustand, wo sich die beiden Delegationen gleichsam als verschiedene
Faktoren gegenübergestellt werden, solle man gar nicht aufkommen lassen.

   Andererseits fürchte er aber, daß die cisleithanische Vertretung vielleicht selbst
am 26. d. M. zur Delegationsbeschickung noch nicht bereit sein werde, denn
wenn es ihr wirklich darum zu tun sei, dem Ministerium Verlegenheiten zu berei¬
ten, so könne sie dann leicht einen neuen Vorwand zu der Delegationsverzöge¬
rung finden. Es wären also zwei Dinge zu tun. Man müsse die Wahl am 18. d. M.
sichern und anderseits verhindern, daß seitens der Abgeordneten weitere ver-

3 Karl Rechbauer (1815-1889), föhrende Persönlichkeit der deutschliberalen Verfassungspar¬
        tei, Landtags- und Reichsratsabgeordneter, Mitglied der Delegation.

4 Franz Klier (1819-1884), deutschböhmischer liberaler Politiker, Reichsratsabgeordneter.
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schleppende Einstreuungen herbeigezerrt werden. Nur unter dieser Bedingung
könne er zur Erleichterung der Stellung der diesseitigen Regierung die Hand bie¬

ten.
   Ministerpräsident Graf Potocki: Er hoffe nach einem noch¬

maligen Versuche des Präsidenten Hopfen5 bis morgen zu erfahren, ob der Dele¬
gationszusammentritt am 21. d. M. möglich sei; übrigens sei er mit GrafAndräs-
sy vollkommen darin einverstanden, daß die Wahl der Delegierten am 18. das
Korollar der Vertagung zu bilden habe.

   Reichskanzler Graf Beust: Die Vertagung werde jedenfalls ein
Probierstein für die Aufrichtigkeit der Verfassungspartei sein. Man müsse sich
aber doch auch darüber klar werden, was zu tun sei, wenn die Delegationswahl
am 18. nicht vorgenommen wird.

    Ministerpräsident Graf Potocki: Er habe die striktesten
Versicherungen, daß es geschehen werde.

    Minister Graf Taaffe: Die Vertagungsfrage sei im cisleithani-
schen Ministerrate per longum et latum besprochen worden, die heutige Bitte des
Ministerpräsidenten und deren Motivierung sei das Ergebnis dieser Besprechung,
und er habe den Ausführungen des Grafen Potocki nichts weiter beizufügen.

    Ministerpräsident Graf Andrässy: Es wäre den Abgeord¬
neten zu vergegenwärtigen, daß die Berufung der Delegationen für den 21. No¬
vember von Seiner Majestät ausging, und daß es ihre konstitutionelle Pflicht sei,
daselbst zu erscheinen, denn Parteimanöver, welche gegen die Regierung unter
Umständen angewendet werden können, seien vis-ä-vis der Krone nicht zulässig.
Man solle sie ferner auf die Kürze der Zeit bis zum Jahresschluß, auf die infolge¬
dessen von ungarischen Abgeordneten schon mißliebig hervorgehobene Schwie¬
rigkeit der eingehenden Behandlung der Vorlagen und auf die Notwendigkeit
aufmerksam machen, daß die Delegationsergebnisse gesetzlich bis zum Jahres¬
 schluß schon in den beiden Landesbudgets ersichtlich gemacht werden müssen,
wenn die betreffenden Finanzminister am 1. Jänner Geldabfuhren für gemeinsa¬
me Angelegenheiten leisten sollen.

    Reichs finanzminister v. Lönyay: Es sei nicht einmal nötig,
 daß sämtliche Delegierte des Reichsrates zur Eröffhung der Delegation erschei¬
 nen, denn im Sinne des Gesetzes genüge es zur Konstituierung, wenn 31 Dele¬
 gierte zugegen sind. Auf keinen Fall möge die Vertagungsordre an die beiden
 Ministerpräsidenten vor erfolgter Wahl erlassen werden.

    Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn: Ihm müsse
 selbstverständlich daran gelegen sein, die benötigten Gelder sobald als möglich
 votiert zu bekommen. Wenn aber sachliche Gründe dafür geltend gemacht wer¬
 den, so wolle er einer kurzen Vertagung nicht entgegen sein.

     Seine Majestät der Kaiser geruhte den Ausführungen des Gra¬
 fen Andrässy zuzustimmen und zu betonen, wie die Delegationen legal einberu-

 5 Franz Ritter v. Hopfen (1825-1901), Präsident des Abgeordnetenhauses des Reichsrates.
<pb/>Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870  173

fen wurden und die Verweigerung des Zusammentrittes kein konstitutionelles
Mittel sei. Es müsse dringend gewünscht werden, daß die Abgeordneten für das
Erscheinen in Pest am 21. d. M. um so mehr kapazitiert werden, als gegen ihre
sofortige Rückkehr nach Wien zur Beendigung der Adreßdebatte kein konstitu¬
tionelles Bedenken obwalte. Es möge also in dieser Richtung ein neuerlicher Ver¬
such gemacht werden. Führe er nicht zum Ziele, so möge immerhin die Vertagung
bis 26. d. M. eintreten, aber man müsse dann Sicherheit gegen die Wiederkehr
solcher Anstände gewinnen und werde daher Seine Majestät vor erfolgter Wahl in
die Delegation die Vertagung nicht aussprechen.

   Auf die sofort gestellte Frage Seiner Majestät des Kaisers, ob sämtliche Vorla¬
gen für die Delegationen bereit seien, gab Reichsfinanzminister v.
L 6 n y a y die Auskunft, daß die Drucklegung binnen zwei Tagen beendigt sein
werde, und nahm zugleich Anlaß, über den Vollzug der im Ministerrat vom 5.
November Ah. anbefohlenen Änderungen am Pensionsnormale für die gemeinsa¬
men Zivilbeamten zu berichten.6 Es entspann sich daraus eine kurze Diskussion
über die Schwierigkeit der gleichmäßigen legislativen Behandlung eines und des¬
selben Gesetzes in zwei gesetzgebenden Körpern, wobei man sich in der Ansicht
einigte, daß die Gesetzesannahme en bloc durchgesetzt werden müsse.

   II. Reichskanzler Graf Beust erbat sich hierauf das Wort zur
Vortragerstattung über die russische Angelegenheit und begann dieselbe mit der
Vorlesung der die Neutralisation des Schwarzen Meeres betreffenden § 13-14
des Pariser Vertrages vom 30. März 1856 in Verbindung mit der dazugehörigen
Spezialkonvention zwischen Rußland und der Türkei über Zahl und Gattung der
beiderseits im Schwarzen Meere zu haltenden Schiffe.7 Wenn auch im Wortlaute
schonend, so laufe diese Bestimmung im Wesen doch dahin hinaus, daß Rußland
im Schwarzen Meere keine Marine halten dürfe. Eine solche Beschränkung sei
nun aber, so sehr man den Siegern im Krimkriege, welche weder eine Kriegsent¬
schädigung noch eine erhebliche Territorialabtretung verlangten, das Zeugnis der
Mäßigung geben müsse, - für Rußland doch erniedrigend und für die Dauer doch

Siehe GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89.
Aktenstücke zur orientalischen Frage Bd. 2 347 § 13: Da das Schwarze Meer dem Wort¬
laute des Art. 11 gemäß neutralisiert ist, so ist die Auffechterhaltung oder Errichtung von
militärisch-maritimen Arsenalen in dessen Uferbezirk unnötig und zwecklos. Se. Majestät
der Kaiser aller Russen und Se. Kaiserliche Majestät der Sultan verpflichten sich deshalb, auf
diesen Littorale kein militärisch-maritimes Arsenal zu errichten oder zu behalten. § 14: Nach¬
dem Ihre Majestät der Kaiser aller Russen und der Sultan eine Konvention abgeschlossen
haben, um die Stärke und Zahl der leichten, zum Dienste ihrer Küsten notwendigen Schiffe
zu bestimmen, deren Unterhaltung im Schwarzen Meere sie sich Vorbehalten, so ist diese
Konvention dem gegenwärtigen Vertrage annexiert worden, und wird die nämliche Kraft und
den nämlichen Wert haben, als wenn sie in denselben vollständig aufgenommen wäre. Sie
kann ohne Zustimmung der Mächte, Unterzeichner des gegenwärtigen Vertrages, weder an¬
nuliert, noch modifiziert werden.
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unerträglich gewesen. Dies erkennend, habe man noch vor dem deutsch-franzö¬
sischen Kriege die Frage aufgeworfen, was geschehen werde, wenn Rußland im
Pontus eine Flotte bauen sollte, und wenn auch förmliche Verhandlungen über
diesen Gegenstand nicht stattgefunden hätten, so habe doch die allgemeine An¬
sicht durchgeleuchtet, daß es deshalb zum Kriege nicht kormnen müsse.

   Gleichwohl sei die neueste Zirkulamote Rußlands eine Überraschung und ein
völlig unberechtigter, im hohen Grade herausfordernder Akt; die Rechtfertigung
sei eine sehr schwache.8 Rußland macht unter andern geltend, daß in der Vereini¬
gung der Donaufürstentümer und der Berufung eines fremden Fürsten auf den
Thron bereits ein Präzedenz vorliege, welches den Vertrag invalidiere, dann daß
die Pforte, welche gegebenenfalls ihre Flotte leichter und schneller ins Schwarze
Meer schaffen könne als Rußland aus der Ostsee, gegenüber diesem Lande in
unverhältnismäßigem Vorteil sei. Diese Argumente seien aber nicht stichhaltig,
denn es seien nicht die Fürstentümer, sondern die Türkei Kompaciscent gewesen,
und es sei die weiters hervorgehobene Ungleichheit gegenüber der Türkei kein
erst jetzt entstandenes Verhältnis, sondern eben eine Folge des Pariser Vertrages,
welche Rußland unmöglich erst jetzt nach 15 Jahren in die Augen fallen konnte.

   Für uns komme bei Rußlands neuestem Vorgehen noch insbesondere der Be¬
stand des am 15. April 1856 zwischen Österreich, England und Frankreich abge¬
schlossenen Vertrages, wonach jede Verletzung der Stipulationen des Pariser
Friedens für diese Mächte einen casus belli begründe, in Betracht.9 Nach der heu¬
tigen Lage Europas werde sich mit diesem Vertrage gegenüber Rußland wohl
nicht viel ausrichten lassen, aber Österreich-Ungarn müsse zu der Frage doch
immerhin Stellung nehmen. Er habe sich daher vorläufig auf die mündliche Erwi¬
derung an Herrn v. Nowikow,10 daß Österreich-Ungarn eine solche einseitige Lö¬
sung des Vertrages, welche überdies im Orient das Signal zum Ausbruch von
Verwirrungen zu geben geeignet sei, nicht zugestehen könne, beschränkt und sich
im übrigen nach jeder Richtung hin ein Weiteres behalten.

    Es frage sich nun also, was tun?
    In Konstantinopel habe Rußland noch keine unmittelbaren Eröffnungen ma¬
chen lassen, sondern Freiherr v. Prokesch glaube, daß General Ignatiev sie dem¬
nächst überbringen werde.11 Es könne also von dieser Seite noch keine Kundge¬
bung erfolgen, dagegen liege eine solche von Seite Englands in Form derAbschrift
einer Depesche nach Petersburg vor, welche Vortragendem durch Lord Bloom-

         Zirkularnote von Rußland v. 31. 10. 1870: Die Grosse Politik Bd. 2 5-9. Der russische
         Reichskanzler Fürst Gortschakow an den Bundeskanzler Grafen von Bismarck. Dessen Bei¬
         lage ist die Zirkularnote vom 31. Oktober.
         Siehe Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 190-
          194.
         Eugen von Nowikow (1826-1903), russischer Gesandter in Wien, überreichte Beust am 12.
         November Gortschakows Zirkularnote.
         Anton GrafProkesch von Osten (1795-1876), ab 1867 österreichischer Botschafter in Kon¬
         stantinopel; Nikolaus Ignatiew (1832-1908), russischer Botschafter in Konstantinopel.
<pb/>Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870                                    175

field12 soeben übergeben wurde. Über die Frage, was die nächste Aufgabe der
k. u. k. Regierung einerseits gegenüber der russischen Zirkulamote, anderseits
gegenüber der englischen Depesche sei, entspann sich nun eine längere Diskussi¬
on, an welcher sich zumeist der Reichskanzler und der ungarische Ministerpräsi¬
dent beteiligten.

   Ministerpräsident Graf Andrässy konstatierte zunächst aus
der russischen Zirkulamote, daß die Separatkonvention der Türkei noch nicht
gekündet wurde, sondern erst die Absicht dazu den Signatarmächten des Pariser
Vertrages mitgeteilt wurde.

   Er gab ferner eine Analyse der englischen Depesche, aus welcher, obschon sie
im Stile der Manchesterschule abgefaßt sei, doch zweierlei evident hervorgehe:
erstens, daß England Rußlands Verlangen auf der ganzen Linie zurückweise,
zweitens, daß es die Zulässigkeit einseitiger Vertragslösung rund negiere und das
Hand-in-Hand-Gehen sämtlicher Vertragsmächte betone. Hierin liege aber zu¬
gleich der Anhalt zu einem Kollektivschritt der Signatarmächte, um auf Rußland
eine Pression auszuüben und ihm die Überzeugung beizubringen, daß es mit sei¬
nem Vorhaben nicht durchdringen werde. Er glaube also, daß man unserseits
Rußlands Zirkulamote im Sinne der englischen Depesche zwar gleichfalls ent¬
schieden zurückweisend beantworten, aber gleichzeitig bei den Vertragsmächten,
u. zw. zunächst bei England, einen Kollektivschritt in Anregung bringen solle.
England könne einen solchen nach der in seiner Depesche eingenommenen Hal¬
tung unmöglich refusieren. Italien, die Türkei und vielleicht selbst Frankreich
würden sich demselben anschließen, und was endlich Preußen betreffe, so könne
es bei aller Intimität seiner Beziehungen zu Rußland einen Vertragsbruch wie der
Vorliegende, in einem Augenblicke, wo es all seine Truppen engagiert habe und
angesichts des bevorstehenden Friedensschlusses dadurch unmöglich avouieren,
daß es seinen Beitritt versagt.

   Reichskanzler Graf Beust: Es unterliege keinem Zweifel, daß
die Zirkulamote des Fürsten Gortschakow zurückweisend beantwortet werden
müsse. Hätte England in seiner Depesche förmlich protestiert, so hätte sich Öster¬
reich-Ungarn diesem Proteste anschließen müssen; ein solcher liege aber nicht
vor, und so habe Österreich-Ungarn seine Erklärung selbständig abzugeben. So
sehr nun aber auch Energie hier am Platze sei, so müsse man sich doch die Kon¬
sequenzen seiner Handlungsweise vor Augen halten, vor allem müsse man sich
hüten, vorzeitig sich zu kompromittieren und dürfe nicht weitergehen als andere
Staaten. Englands Depesche werde in Petersburg nicht unerwünscht sein, denn
sie schließe bei all ihrer negativen Haltung die Möglichkeit von Verhandlungen
nicht aus.

   In der Tat liege es auch viel mehr in Österreich-Ungams eigenem Interesse, die
Sache zunächst diplomatisch in der Schwebe zu halten, als sich dem Vorwurf
auszusetzen, den Weg der Verhandlungen abgeschnitten zu haben. Ein Kollektiv-

12 Bloomfield, John Lord (1802-1879), 1861-1871 Botschafter Großbritanniens in Wien.
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schritt sei höchstens bei England, Italien und der Türkei zu erreichen. Frankreich
und Preußen könnten für jetzt nicht in Kombination gezogen werden, ersteres
nicht, weil es sich noch immer der vielleicht ungegründeten Hoffnung auf Ru߬
lands Friedensvermittlung hingebe, letzteres nicht, weil es mit Rußland im Enga¬
gement stehe und zuverlässig ausweichend antworten werde. Mit der Anregung
eines Kollektivschrittes würden wir daher sicherlich Fiasko machen und in die
Reihe der Signatarmächte von vornherein eine Lücke bringen, die Rußland allein
zum Vorteile gereichen werde. Dagegen habe er nichts einzuwenden, wenn Eng¬
land, dessen Mitteilung gleichfalls beantwortet werden müsse, unser Standpunkt
dargelegt und dasselbe vertraulich um seine Meinung über die weiters gebotenen
Schritte angegangen werde.

   Ministerpräsident Graf Andrässy betonte hierauf das mo¬
ralische Gewicht, welches ein Kollektivprotest der Mächte auch gegenüber den
Slawen haben werde. Für diese sei Rußlands Schritt gleichsam wieder das erste
Kommandowort nach langer Zeit und das Zeichen, daß die bisherigen Hindernis¬
se der russischen Aktion im Orient aufgehört haben. Würden wir dieses Signal
ruhig hingehen lassen, so würden die Slawen daraus für die Zukunft Folgen zie¬
hen.

   Übrigens glaube er nach Zeit und Opportunität der russischen Note nicht, daß
sie auf eine Besprechung mit Preußen zurückgeführt werden könne, vielmehr
halte er sie für einen spontanen und übereilten Schritt Rußlands, hervorgerufen
durch das Drängen der russischen Partei im Lande. Hätte Rußland es sich besser
überlegt, so wäre es von ihm klüger gewesen, einen Kongreß zu verlangen, wozu
ihm des Grafen Beust bekannte Depesche aus dem Jahre 1867 den Anhalt gebo¬
ten haben würde.13 Daß es dieses nicht tat, sei eben ein Fehler, welcher uns einen
Grund mehr zu der Hoffnung biete, daß auch Preußen sich einem Kollektivschritt
der Vertragsmächte nicht werde entziehen können. Rußland sei Preußens in die¬
ser Frage nicht sicher, und gerade gegenüber den Slawen sei es von Wert, wenn
durch Preußens Beitritt zu einem Kollektivproteste gegen Rußlands Vertrags¬
bruch der Nichtbestand eines Einverständnisses zwischen beiden Staaten konsta¬
tiert werde.

    Reichskanzler Graf Beust: Der russische Gesandte habe in sei¬
nem Gespräche allerdings auch die vom Grafen Andrässy bezogene Depesche
berührt, er habe ihn aber darauf hingewiesen, daß diese Depesche unter anderen
als den jetzigen Verhältnissen geschrieben wurde und auf der Voraussetzung der
damals ventilierten europäischen Konferenz beruhte; namentlich aber daran erin¬
nert, daß der damals gemachte Vorschlag einer allseitigen Revision nicht der heu¬
tigen einseitigen Aufhebung zugute kommen könne.

 13 Außenminister Beust machte in seiner Note vom 1. Januar 1867, die an alle europäischen
         Mächte gerichtet wurde, den Vorschlag, man möge die Artikel bezüglich des Schwarzen
         Meeres im Pariser Vertrag von 1856 einer Revision unterziehen. Le Baron Beust an Prince
         de Metternich ä Paris. In: Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 56-62.
<pb/>Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870  177

    Auch halte Vortragender Rußlands Note keineswegs für eine Übereilung, viel¬
mehr glaube er, daß dabei auch Preußen, welchem es nur erwünscht sein könne,
wenn Österreich durch Rußland beschäftigt werde, mit im Spiele sei. Auch eine
soeben eingelangte Depesche des Grafen Wimpffen aus Berlin deute auf beider¬
seitiges Einverständnis.14 Aufkeinen Fall könne man in einem Schritte, der gegen
Rußland gerichtet ist, auf Unterstützung Preußens rechnen.&quot; Es werde übrigens
darauf ankommen, mit der Türkei Fühlung zu nehmen, und gedenke Vortragen¬
der, auch nach Konstantinopel eine Note zu richten, wo über Rußlands Haltung
große Erregung herrsche. Die Neutralität des Schwarzen Meeres sei für einen
Donaustaat wie Österreich-Ungarn von solcher Wichtigkeit, daß wir nicht nötig
hätten, die Begrüßung der Türkei von Seite Rußlands abzuwarten.

    Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade anzudeuten, daß der
Pforte dringend abzuraten wäre, zur Entscheidung der Sache etwa einen Kongreß
zu verlangen. Dieser liege, weil man sich der antirussischen Majorität nicht ver¬
sichert halten könne, weder in unserem noch im Interesse der Türkei.

    Ministerpräsident Graf Potocki: Die heutige Frage habe
zwei Seiten: eine spekulative und eine positive. Einerseits scheine ihm Preußens
Einfluß aus Rußlands Haltung hervorzusehen, und er glaube nicht, daß es gelin¬
gen werde, Preußen zu einer mißbilligenden Erklärung zu vermögen, anderseits
halte er es für geboten, mit der Türkei und den übrigen Vertragsunterzeichnem im
Einvernehmen zu bleiben. Einstweilen könne daher die russische Note in Über¬
einstimmung mit Englands Erwiderung beantwortet werden; die weiteren Ent¬
schließungen wären aber von den Verhalten der übrigen Mächte, insbesondere
jenem der Türkei, abhängig zu machen.

   Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn bemerkte gegen
Grafen Andrässy, daß der von ihm angedeutete Kollektivschritt eine Drohung
involviere und nur dann einen praktischen Wert habe, wenn man in der Lage und
willens sei, diese Drohung auch auszuführen. Es frage sich also, ob Österreich-
Ungarn die Sache so weit treiben dürfe und ob es hiebei auf Unterstützung ande¬
rer Staaten rechnen könne. Vortragender erhoffe eine solche höchstens von Seite
der Türkei, vielleicht auch von England, dagegen würden sich Preußen und
Frankreich gewiß und Italien, welches als damaliges Sardinien in dem Krimkrieg
als Schleppträger Frankreichs nur deshalb eingetreten sei, um sich einen Platz im
europäischen Konzert zu erringen, höchstwahrscheinlich ferne halten. Wolle man

a RandbemerkungAndrässys: Hier erlaubte ich mir zu bemerken, daß die Depesche des Grafen
        Wimpffen mich nur in meiner früher ausgesprochenen gegenteiligen Ansicht bestärken kön¬
        ne, und daß Preußens faktische Unterstützung gar nicht notwendig sei - eine bloße Trennung
        Preußens von Rußland in dieser Frage sei schon ein sehr großes Resultat, welches in der na¬
        hen Zukunft die weittragendsten Folgen haben könne - und dieses sei entschieden zu errei¬
        chen.

14 Felix Graf Wimpffen (1827-1882), 13. 10. 1866- 10. 12. 1871 Gesandter Österreichs in
        Berlin.
<pb/>178 Nr. 25 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 11. 1870

es nun zu den Konsequenzen einer solchen Drohung nicht kommen lassen, so
müsse man alles vermeiden, was Österreich-Ungarn in den Schein bringen kön¬
ne, als wolle es den Krieg. Er stimme also dem Grafen Beust darin bei, daß einst¬
weilen Rußlands Theorie zurückzuweisen und die weitere Entwicklung der Frage
im Wege der diplomatischen Aktion abzuwarten wäre.b

   Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, sich gleichfalls
dahin auszusprechen, daß man streng nach dem Vertrage vergehen und sich nicht
auf ein Terrain begeben solle, aufwelches uns die übrigen Mächte möglicherwei¬
se nicht folgen.

   Reichskanzler Graf Beust bezeichnete schließlich die rumäni¬
sche Frage für uns gefährlicher als jene des Schwarzen Meeres, wenn entweder
die Fürstentümer der Pforte die Souveränität aufkündigen oder Rußland nach ei¬
nem nicht unmöglichen Rutsche unter dem Vorwände, Ordnung zu machen, in
die Fürstentümer einrücke. Es frage sich, was dann von unserer Seite zu gesche¬
hen habe.

   Ministerpräsident Graf Andrässy erörterte hierauf die Stel¬
lung des Fürsten Karl in den Donaufurstentümem. Er werde sich wahrscheinlich
unter die Protektion Preußens stellen und dieses sich bestreben, ihm nach außen
und innen eine festere Stellung zu geben. Dieses sei unseren Interessen keines¬
wegs zuwider, weil bei seinem Sturze nur die Partei Bratianos15 ans Ruder kom¬
men könne, welche die Annexion Siebenbürgens und der Bukowina auf ihre Fah¬
ne geschrieben habe. Inwieweit aber zum Schutze dieses Fürsten ein russischer
Einmarsch beabsichtigt werden sollte, könnte ein solcher von unserer Seite un¬
möglich geduldet werden und müßte demselben nötigenfalls mit Waffengewalt
entgegengetreten werden.

   Im Zusammenhänge mit dieser Bemerkung erbat sich Reichskriegs¬
minister Freiherr v. Kuhn einen definitiven Befehl über die im
Ministerrate vom 6. November in suspenso belassene Reduktion des Standes bei
der Artillerie16 und beim Fuhrwesen und geruhte Seine Majestät der
Kaiser, die weitere Beibehaltung des dermaligen Mannschafts- und Pferde¬
standes bei diesen Truppenabteilungen anzuordnen. Zugleich geruhte Seine Ma-

        Randbemerkung Kuhns: Vom strategischen Standpunkte nehme ich mir die Freiheit hervor¬
         zuheben, daß selbst für den Fall, als eine Okkupation der Donaufürstentümer von Rußland
         beabsichtigt werden sollte, Österreich sich nicht gleich diesem Einmärsche widersetzen und
         dermaßen den Krieg auf sich ziehen, sondern diese für uns sehr vorteilhafte Ausdehnung der
         russischen Streitkräfte strategisch benützen solle, um sodann, wenn der Krieg unausweich¬
         lich geworden, die zwischen Siebenbürgen und dem Schwarzen Meere defileeartige einge¬
         engte Operationslinie der Russen ernstlich bedrohen, und letztere von ihrem Besitz abschnei¬
         den zu können ich halte jedoch einen derartigen fehlerhaften Schritt Rußland[s] für sehr
         unwahrscheinlich.

         Siehe GMR. v. 6. 11. 1870, RMRZ. 90. Anm. 4.
16 GMR. v. 6. 11. 1870, RMRZ. 90.
<pb/>Nr. 26 Gemeinsamer Ministerrat, Ofen, 1. 12. 1870                    179

jestät die Beschleunigung der Einbringung des Pferdekonskriptionsgesetzes so¬
wie des Ausbaues der ungarisch-galizischen Verbindungsbahn, die jetzt wieder
dringender werde, in Erinnerung zu bringen.

   Ministerpräsident Graf Andrässy erbat sich in letzterer Be¬
ziehung die Erlassung eines Ah. Handschreibens an den Minister Gorove17 mit
dem Aufträge, die Sache sofort vor den ungarischen Reichstag zu bringen.

    Schließlich betonte noch Reichskriegsminister Freiherr v.
Kuhn die baldige Zustandebringung des Gesetzes über den Landsturm, um
demselben im Falle des Aufgebotes eine völkerrechtlich anerkannte Stellung zu
geben, worauf Seine Majestät die Sitzung zu schließen geruhte.

                                                                                                  Beust

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen.
Ofen, 30. November 1870. Franz Joseph.

       Nr. 26 Gemeinsamer Ministerrat, Ofen, 1. Dezember 1870

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der Reichskanzler Graf Beust (o. D.), der kgl. ung. Ministerpräsident Graf
Andrässy (o. D.), der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (o. D.), der Reichsfinanzminister v.
Lönyay (12. 12.), der k. k. Finanzminister Freiherr v. Holzgethan (15. 12.), der kgl. ung. Finanzmi¬
nister v. Kerkäpoly (o. D.).
    Protokollführer: Sektionsrat v. Teschenberg.
    Gegenstand: Begehren des Reichsfinanzministers, an das Ministerium für die im Reichsrate
vertretenen Königreiche und Länder das Ersuchen zu stellen, die bis zum Schlüsse des Jahres 1870
vorkommenden Zahlungsanweisungen für Rechnung des gemeinsamen Staatshaushaltes zu hono¬
rieren und bis zur Erlangung der gesetzlichen Bedeckung als vorschußweise Zahlungen zu behan¬
deln.

   KZ. 4711 -RMRZ. 92
   Protokoll des zu Ofen am 1. Dezember 1870 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

   Nachdem Seine Majestät der Kaiser die Sitzung zu eröfthen
geruht, erbittet sich Reichsfinanzminister v. Lönyay das
Wort, um den Standpunkt des Reichsfinanzministeriums in einem ausführlichen
Expose zu begründen. Dem Reichsfinanzministerium sei von Seite des k. k. Fi¬
nanzministeriums für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder
durch eine Note vom 16. Oktober 1. J. der ziffermäßige Nachweis zugekommen,

17 Die Sache des Ausbaues der ungarisch-galizischen Verbindungsbahn siehe: HHStA., Kab.
        Kanzlei KZ. 4518 v. 24. 11. 1870; KZ. 4738 v. 10. 12. 1870; KZ. 47 v. 4. 1. 1871.
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