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Nr. 351 Ministerrat, Wien, 11. Mai 1863 – Protokoll I - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet; VS. Erzherzog Rainer; BdE. und anw. (Erzherzog Rainer 13. 5.), Mecséry, Nádasdy, Degenfeld, Schmerling, Lasser, Plener, Wickenburg, Lichtenfels, Forgách, Burger, Hein; außerdem anw. Rosner; abw. Rechberg, Esterházy; BdR. Erzherzog Rainer 26. 5.

MRZ. 1155 – KZ. 1667 –

Protokoll I des zu Wien am 11. Mai 1863 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. k. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzoges Rainer.

I. Der Entwurf der neuen Strafprozeßordnung

Der Präsident des Staatsrates referierte über den vom Minister Dr. Hein zur Beratung im Reichsrate vorbereiteten Entwurf einer Strafprozeßordnunga, 1.

Über die Bemerkung des Finanzministers und des ungarischen Hofkanzlers, daß ihnen dieser Entwurf nicht zugekommen sei, äußerte Minister Dr. Hein , daß hieran das Justizministerium keine Schuld trage, da dasselbe an alle Konferenzmitglieder Exemplare des Entwurfes abgesendet habe2.

Die Grundfrage, ob das Institut der Geschworenengerichte in die neue Strafprozeßordnung aufzunehmen sei, ist von Sr. Majestät dem Kaiser bereits affirmativ entschieden3, bildet keinen Gegenstand einer Diskussion mehr, und es kann sich daher – wie Baron Lichtenfels bemerkt – jetzt nur um die Ausmittlung der Grenze handeln, bei welcher die Kompetenz der Geschworenengerichte anfängt. Diese Grenze ist § 284 in Verbindung mit § 11 dahin gezogen, daß die Schwurgerichte die Fälle von Hochverrat, ferner alle anderen Verbrechen, worauf im Gesetz die Todesstrafe oder eine mehr als fünfjährige Kerkerstrafe verhängt ist, zu verhandeln und zu entscheiden haben. Wird diese Bestimmung vom Reichsrate angenommen, so hat man wohl alles erreicht, was unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu erreichen möglich ist, da auf diese Weise die Preß- und politischen Prozesse größtenteils den || S. 15 PDF || gewöhnlichen Gerichten zufallen würden. Voraussichtlich wird eine solche Einschränkung der Kompetenz der Schwurgerichte nicht ohne hartnäckige parlamentarische Kämpfe gelingen, zumal es allerdings leichter ist, die gänzliche Ausschließung der Geschworenen vom Strafverfahren als deren Beschränkung auf gewisse Kategorien von Straffällen zu verteidigen. Der ministeriale Entwurf und das bezügliche Einführungspatent ist vom Staatsrate in sechs Sitzungen unter Beiziehung der Minister Baron Mecséry, Ritter v. Schmerling, Ritter v. Lasser und Dr. Hein in Beratung gezogen worden, und man hat sich dabei über die meisten prinzipiellen Differenzpunkte geeinigt4. Der Präsident des Staatsrates besprach hierauf in Kürze diese bereits beigelegten Differenzen zwischen dem Staatsrate und dem Justizminister und erwähnte schließlich eine noch bestehenden Differenz über eine Detailfrage, nämlich die Frist, binnen welcher ein verkündigtes Todesurteil zu vollstrecken ist. Die Stimmenmehrheit bei der staatsrätlichen Beratung vereinigte sich nämlich mit dem Antrage des Staatsministers, daß die Vollstreckung am nächsten Morgen nach der Verkündung platzgreifen solle, während Minister Dr. Hein und ein Staatsrat am § 397 des Entwurfs festhielten, wonach die Vollstreckung am Morgen des zweiten Tages stattzufinden hat5.

Der Ministerrat fand gegen diesen Majoritätsbeschluß nichts zu erinnern.

Die noch unausgetragenen prinzipiellen Differenzen sind folgende:

1. Die Frage, in welchem Stadium des Strafprozesses der Staatsanwalt ermächtigt ist, von der weiteren Verfolgung einseitig abzustehen? Nach den Bestimmungen der §§ 30; 45,3; 83; 103; 107; 215; 247,2 und 342 des Entwurfes kann der Staatsanwalt in allen Stadien während der Voruntersuchung und nach derselben, selbst während der Hauptverhandlung, solang sich der Gerichtshof zur Schöpfung des Urteils nicht zurückgezogen hat, ohne Zustimmung des Gerichtes von der Klage abstehen. Der Staatsrat geht dagegen von der Ansicht aus, der Staatsanwalt könne, sobald er den Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung gestellt hat und der Richter dieselbe beschlossen hat, nicht mehr die Einstellung der Untersuchung gegen die Ansicht des Richters fordern. Noch im höheren Grade als durch die Einleitung der Voruntersuchung sei durch die Erhebung der Klage und durch die Anordnung der Hauptverhandlung das Strafverfahren dem Belieben des Staatsanwaltes entrückt und eine öffentliche Angelegenheit im strengsten Sinne geworden, die von Amts wegen auszutragen ist. Dabei bleibt aber dem Staatsanwalt unbenommen, während der Hauptverhandlung die Anklage dadurch fallenzulassen, daß er auf Einstellung oder Freisprechung anträgt, worüber das Gericht, ohne freilich an diese Anträge gebunden zu sein, zu erkennen hat. Als Korrektiv der rücksichtslosen, und darum etwa bedenklichen Anwendung des Strafrechts in besonderen Fällen aber könne von der Krone das Recht der Abolition geübt werden. Freiherr v. Lichtenfels fügte bei, das System, wonach die Staatsanwaltschaft vor der Urteilsschöpfung verfolgen und loslassen kann, wen sie will, so daß das Gericht zu ihrer bloßen Vollstreckerin gemacht wird, scheine wegen des möglichen Mißbrauchs im Regierungs- sowohl als im Privatinteresse || S. 16 PDF || aus politischen Rücksichten nicht zu billigen. Es scheine notwendig, daß von dem Augenblicke, wo jemand von dem Gerichte als verdächtigt erklärt worden ist, der Staatsanwalt nicht mehr willkürlich vom weiteren Verfahren abstehen könne, sondern über seinen Antrag erst vom Gerichte entschieden werden müßte. Dieses letztere System sei auch in alle deutschen Strafprozeßordnungen – bis auf jene von Kurhessen – übergegangen, so wie es nicht minder der österreichischen Strafprozeßordnung vom Jahre 1850 entspricht6. Minister Dr. Hein entgegnete, er müsse dem Staatsanwalte wenigstens das Recht vindizieren, vor und während der Voruntersuchung bis zur Versetzung in den Anklagestand von der Anklage einseitig abzustehen. Das Prinzip des Anklageprozesses sei nicht entsprechend zu handhaben, wenn der Staatsanwalt in jenem Stadium nicht Herr der Sache bleibt. Gibt die Regierung dieses Recht auf, so wird sie bald Ursache haben, es lebhaft zu bedauern – namentlich bei Preß- und politischen Prozessen. Das Korrektiv der Abolition durch Se. Majestät ist zu delikat und mit zu großem Aufsehen verbunden, um anders als in den seltensten Fällen angewendet zu werden, während politische und polizeiliche Rücksichten die Einstellung des Gerichtsverfahrens oft und manchmal augenblicklich rätlich machen. Endlich verdiene noch der Umstand Berücksichtigung, daß das Abgeordnetenhaus streng an dem Prinzipe des Anklageprozesses und seinen Konsequenzen festhält, zu welchen auch das freie Abstehungsrecht des Staatsanwaltes gehört. Ist aber einmal die Versetzung in den Anklagestand beschlossen, dann ist allerdings bereits ein so dringender Verdacht vorhanden, daß der Staatsanwalt nicht wohl mehr einseitig der Untersuchung ein Ende soll machen können. Der Staatsratspräsident erwiderte, die Majorität des Abgeordnetenhauses werde allem Anschein nach weit mehr geneigt sein, die fragliche Befugnis des Staatsanwalts einzuschränken als zu erweitern. Der Staatsminister glaubt die Frage nicht sowohl vom prinzipiellen Standpunkt des Anklageprozesses, sondern von dem der Opportunität betrachten zu sollen, und insofern zeigt sich das fragliche Recht des Staatsanwaltes sehr zweckmäßig, um der Exekutive bei den einzuleitenden gerichtlichen Schritten die nötige Freiheit im Interesse des Staates zu wahren. Es wäre von Übel, wenn in jedem solchen Fall Ah. Ortes eine besondere Ausnahme erwirkt werden müßte. Diese Latitüde werde dann um so nötiger sein, wenn einmal die Unabhängigkeit des Richterstandes ausgesprochen werden sollte. Auch Minister Ritter v. Lasser verspricht sich Vorteile von der Zuerkennung des fraglichen Rechts an die Staatswälte. Der Polizeiminister stimmt ebenfalls aus Zweckmäßigkeitsrücksichten mit dem Staatsminister und besorgt keinen Mißbrauch von der Befungnis des Staatsanwaltes, der jedenfalls eine Vertrauensperson sein müsse, da ihm die Regierung das noch größere Recht einräumt, einen Strafprozeß zu eröffnen. Das Korrektiv für die voreilige Aufgebung einer Klage liegt in der dem Oberstaatsanwalt vorbehaltenen Befugnis, die Klage binnen 30 Tagen wiederaufzunehmen. Der Finanzminister teilte den Antrag des Ministers Dr. Hein, obgleich er nicht glaubt, daß dieser Antrag viele Chancen im Abgeordnetenhause hat, worauf der Leiter des Justizministeriums entgegnete, die Tendenz des Abgeordnetenhauses || S. 17 PDF || gehe nicht dahin, die Regierungsaktion im Strafprozeß zu schwächen, sondern man wolle vielmehr das akkusatorische Prinzip bis zu den äußersten Konsequenzen verfolgen.

Die Stimmenmehrheit vereinigte sich sohin mit dem Antrage des Ministers Dr. Heinb .

Der Finanzminister äußerte – mit Bezug auf den Eingang des vom Staatsratspräsidenten erstatteten Referats –, er finde es bedenklich, daß Hochverratsprozesse und die übrigen Verbrechen, worauf vom Gesetz die Todesstrafe oder eine mehr als fünfjährige Kerkerstrafe gesetzt ist, von den Geschworenengerichten behandelt und beurteilt werden sollen. Minister Dr. Hein erwiderte, diese Bedenken dürften schwinden, wenn man die Sache näher ins Auge faßt; denn in Fällen von Aufruhr pflegt (mit Beseitigung der Schwurgerichte) das standrechtliche Verfahren eingeführt zu werden, und bei Hochverratsfällen, wo eine fünfjährige Kerkerstrafe in Aussicht steht, wird wohl kein Schwurgerichtc so leicht sich über den Tatbestand hinaussetzen undc auf Straflosigkeit erkennen wollen. Im Sinne des oben ad 1) gefaßten Majoritätsbeschlusses beantragte der Staatsratspräsident folgende Modifikationen der ad 268/A 1863 formulierten Änderungen, welche der Staatsrat am ministeriellen Entwurf vorgeschlagen hat: (S. 5) „Zu §§30; 45,3; 83; 107; 215; 247. Sowohl in diesen als in allen übrigen Bestimmungen des Entwurfes ist von dem Grundsatze auszugehen, daß es nur während der Voruntersuchung von dem Staatsanwalte abhänge, ob er von derselben zurücktreten wolle, daß derselbe aber nach erfolgter Versetzung in den Anklagestand ohne Ah. Ermächtigung von der weiteren Verfolgung nicht abstehen kann, sondern über seine Anträge vom Gericht entschieden werden müßte.“ (S. 14) „Zu § 104. Im ersten Absatze ist auszudrücken, daß im Falle der Staatsanwalt von der Voruntersuchung zurücktritt, der Angeschuldigte lediglich von dieser Erklärung des Staatsanwaltes zu verständigen sei, wenn aber die Voruntersuchung durch Beschluß des Gerichtes eingestellt wird, demselben auf sein Verlangen das Amtszeugnis auszufertigen ist, daß kein Grund zur weiteren gerichtlichen Verfolgung gegen ihn vorhanden sei.“ Nach dem Ausschlage der beim Staatsrat gepflogenen Vorberatungen (Protokollsauszug S. 148–151) war nämlich dem Absatz 1 des Entwurfs § 104 der § 113 der Strafprozeßordnung vom Jahre 1850 substituiert worden, der aber dem heute beschlossenen einseitigen Abstehungsrechte des Staatsanwalts gegenüber nicht mehr passend erscheint. Gegen die obige neue Textierung wurde im wesentlichen keine Erinnerung erhoben, doch drückte Minister Dr. Hein den Wunsch aus, es wolle durch einen Zusatz zu § 104 demjenigen, dessen Voruntersuchung nur über Rücktritt des Staatsanwaltes eingestellt wird, die Möglichkeit gewahrt werden, sich die völlige Ehrenrettung durch das Begehren der Fortsetzung des gerichtlichen Verfahrens zu erwirken. 2. Gegenüberstellung der Verwandten und Verschwägerten eines Angeschuldigten. Nach § 194 des Entwurfes können die im § 146 a des Entwurfes aufgeführten Personen, wenn sie sich als Zeugen haben abhören lassen, die Gegenüberstellung mit dem || S. 18 PDF || Angeschuldigten nicht ablehen. Nach der Meinung des Staatsrates (Protokollauszug S. 168–171) würde es mehr der Humanität entsprechen, hier die Bestimmung der Strafprozeßordnungen von 1850 und 18537 aufzunehmen, „daß diese Personen, wenn sie sich auch als Zeugen haben abhören lassen, die Gegenüberstellung mit dem Angeschuldigten ablehnen können, außer wenn sie dieser selbst zu seiner Verteidigung verlangt“.

Bei der Vorberatung hatten sich die vier Minister gegen die Aufnahme dieser Bestimmung erklärt; im heutigen Ministerrate erklärte jedoch Minister Dr. Hein, seinen Einspruch fallenzulassen, und die Konferenz fand dagegen ebenfalls nichts zu erinnern.

3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für einen Privatkläger, der bei der Hauptverhandlung zu erscheinen verhindert war. Die Majorität hatte sich bei den Vorberatungen (Protokollauszug S. 158–160) gegen die Zulassung einer solchen Wiedereinsetzung, und somit für die Streichung des § 356 deswegen erklärt, weil fast in allen deutschen Gesetzgebungen mit dem Nichterscheinen des Klägers (ohne vorher die Vertagung erwirkt zu haben) die Fiktion verbunden wird, daß er seinen Rücktritt von der Verfolgung tatsächlich erkläre, dann weil durch die Zulassung von solchen Wiedereinsetzungen (wozu es niemals an Vorwänden fehlt) die Gerichte mit allzu vielen Restitutionsgesuchen, namentlich in Ehrenbeleidigungsfällen, behelligt und die Beendigung der Hauptverhandlung zu sehr verzögert werden würde.

Nachdem die Stimmenmehrheit im Ministerrate sich gleichfalls für die Weglassung dieses Paragraphen ausgesprochen hatte, erklärte Minister Dr. Hein , seinerseits auf dessen Beibehaltung keinen besonderen Wert zu legen.

4. Vorbehalt des Staatsanwaltes bei Trennung des Strafverfahrens für verschiedene strafbare Handlungen einer Person, über die weitere Verfolgung der verschiedenen anderen Anschuldigungspunkte. Nach Entwurf § 53 ist ein solcher Vorbehalt ausdrücklich zu machen, widrigens anzunehmen wäre, daß der Staatsanwalt auf die Verfolgung verzichtet habe. Der Staatsrat war der Meinung, daß es eines solchen ausdrücklichen Vorbehaltes von Seite des Staatsanwalts rücksichtlich der übrigen Punkte nicht bedürfe, weil dieselben durch die Entscheidung des Gerichts über die getrennte Verhandlung eines Punktes ohnehin gar nicht berührt werden. Minister Dr. Hein wendete dagegen ein, daß der Staatsanwalt den erwähnten Vorbehalt, wo er nötig ist, ohne alle Schwierigkeit machen kann, und daß es für den Angeschuldigten wichtig sei, zu wissen, welche Klagepunkte bei der neuen Phase des Prozesses gegen ihn aufrechterhalten werden.

Der Staatsratspräsident und die übrigen Stimmführer des Ministerrats fanden gegen die Belassung der beanstandeten Absätze nichts weiter zu erinnern.

Zwischen dem Staatsratspräsidenten und dem Minister Dr. Hein wurded bezüglich derd bezüglich der zum §§ 331 und 332 (S. 29) vom Staatsrate beantragter Änderung des Entwurfes dahine vereinbart, „daßf der Rechtszug gegen die Endurteile der Geschworenengerichte || S. 19 PDF || geht unmittelbar an den Obersten Gerichts- und Kassationshofg zu gehen habef, welcher auch zugleich über den Ausspruch der Strafe zu erkennen berufen ist. Sollten sich dem Kassationshofe aus Anlaß der von einem Verurteilten ergriffenen Beschwerden Bedenken gegen die Richtigkeit der Tatsachen ergeben, auf deren Annahme das verurteilende Erkenntnis beruht, so hat der Kassationshof hierüber nach den Bestimmungen des § 353 vorzugehen“.

„Dem Staatsanwalte kommt gegen freisprechende Urteile der Schwurgerichte eine Beschwerde nur aus Nichtigkeitsgründen zu.“

Im übrigen gab der Entwurf der Strafprozeßordnung zu einer Erinnerung keinen Anlaß8.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Schönbrunn, 24. Mai 1863. Empfangen 26. Mai 1863. Erzherzog Rainer.