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Nr. 110 Ministerrat, Wien, 21. August 1861 — Protokoll I - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet; VS. Erzherzog Rainer; BdE. und anw. (Erzherzog Rainer 22. 8.), Rechberg, Mecséry, Lasser, Wickenburg, Lichtenfels, Forgách, Esterházy, FML. Schmerling, Mitis; abw. Schmerling, Plener, Pratobevera; BdR. Erzherzog Rainer 1. 10.

MRZ. 904 – KZ. 3071 –

Protokoll I des zu Wien am 21. August 1861 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. k. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Rainer

I. Gesetzentwurf über die Zuständigkeit zur Entscheidung in Disziplinarangelegenheiten der Richter

Der Staatsratspräsident las den vom Leiter des Justizministeriums Sr. Majestät unterbreiteten Gesetzentwurfa für die im engeren Reichsrate vertretenen Kronländer, wodurch die Bestimmungen über die Zuständigkeit zur Entscheidung in Disziplinarangelegenheiten gegen Richter1 teilweise abgeändert werden2. Hierauf referierte Freiherr v. Lichtenfels über die Gründe, welche den Referenten und die Majorität des Staatsrates, den Präsidenten mit eingeschlossen — zeuge des anverwahrten Auszugesb — bestimmt haben, au. zu beantragen, 1. der vorgelegte Gesetzentwurf habe vorderhand auf sich zu beruhen und 2. der Justizminister habe die Frage über die Zuständigkeit zur Entscheidung in Disziplinarangelegenheiten der Richter im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen || S. 314 PDF || über die Ausübung der Disziplinargewalt, welche nach Feststellung der künftigen Gerichtsverfassung notwendig werden sollten, zu behandeln und den betreffenden Gesetzentwurf seinerzeit Allerhöchstenorts vorzulegen.

Sektionschef Ritter v. Mitis 3 entwickelte umständlich die Gründe, welche den Minister Baron Pratobevera bestimmt haben, die Vorlage des gegenwärtigen Gesetzentwurfs an den Reichsrat au. zu beantragen. Er zeigte, daß die Absicht des Ministers dabei hauptsächlich darauf gerichtet ist, der ministeriellen Willkür in Ausübung der Disziplinargewalt über den Richterstand möglichst enge Grenzen zu setzen, zugleich aber die Handhabung dieser Disziplinargewalt zu erleichtern. Denn es ist stets eine mißliche Sache, wenn die Regierung einen Richter, der in einem politischen oder Preßprozesse seine Pflicht nicht erfüllt hat, im administrativen Weg strafen soll. Und wegen der diesfalls obwaltenden Schwierigkeiten und Bedenken ist wohl schon manche Pflichtverletzung ungestraft geblieben. Man kann es daher nur als einen Vorteil für die Regierung und die Sache der Ordnung ansehen, wenn diesfalls die diesfällige Entscheidung an den Obersten Gerichtshof übertragen wird. Dadurch, daß das Ministerium selbst ein solches Gesetz einbringt, wird dem vorgebeugt, daß der Reichsrat damit die Initiative ergreife, wobei ohne Zweifel ein den Regierungsinteressen weit minder günstiger Entwurf zum Vorschein kommen würde. Baron Pratobevera gedächte diesen Entwurf mit Ah. Genehmigung schon jetzt, und zwar im Zusammenhange mit dem Preßgesetze und den Strafgesetznovellen, zur Vorlage zu bringen4. Wollte man hiezu erst die Vollendung der Gerichtsorganisation etc. abwarten, so dürfte dessen Erlassung in allzu weite Ferne gerückt werden. Soviel über die Opportunität im allgemeinen. Daß das Gesetz auf die Disziplinargewalt über die richterlichen Beamten der gemischten Bezirksämter, dann auf die im Richteramt verwendeten Staatsanwaltschaftsbeamten keine Anwendung erhalten soll, ist eine allerdings bedauerliche, aber notwendige Folge der Doppelstellung dieser Beamten. Dies kann aber wohl kein Grund sein, den übrigen Richtern den möglichen Schutz gegen Willkür vorzuenthalten. Hiezu kommt noch, daß der in Rede stehende Schutz für die Beamten der gemischten Bezirksämter leichter entbehrlich erscheint, nachdem bei diesen Ämtern keine Preß- und politischen Prozesse zur Verhandlung kommen. Der beantragte neue Geschäftsgang sei kaum mit einem größeren Zeitaufwand verbunden, da der Oberste Gerichtshof schon jetzt über Dienstentlassungen gehört werden muß. Die provisorische Suspension und Gehaltssperre werden nach wie vor durch die Präsidenten verfügt werden können.

Der Minister Ritter v. Lasser teilt vollkommen die Bedenken des Staatsrates gegen die Inamovibilität des Richterstandes unter den gegenwärtigen politischen und Nationalitätswirren. Man vergegenwärtige sich, wie ein inamovibler || S. 315 PDF || Richter im Venezianischen gegenwärtig einen politischen Prozeß behandeln würde! Das vorliegende Gesetz würde den ohnhin nicht großen Einfluß des Justizministers auf den Richterstand wesentlich verringern, und wie soll dann ein Minister bei einer dergestalt gehemmten Aktion auf das Personal seiner verantwortlichen Pflicht genügen? Anderseits ist klar, daß man zur Regelung der Immunität des Richterstandes erst nach Festsetzung der Gerichtsorganisation und der Stellung der Staatsanwaltschaften mit Erfolg schreiten kann, so wie auch die künftige Stellung des Obersten Kassationshofes und seines Präsidenten nach Handschreiben vom 20. Oktober 1860 5 dabei im Auge behalten werden muß. Die Zeit zur Einbringung dieses Entwurfs ist daher noch nicht gekommen, und durch die — wie es scheint, nicht einmal begründete — Besorgnis, der Reichsrat werde damit die Initiative ergreifen, dürfe man sich nicht drängen lassen, da das Ministerium sich mit Fug und Recht gegen eine jetzt sehr verfrühte Beratung des Immunitätsgesetzes verwahren kann6. Der Polizeiminister tritt dem Gutachten des Staatsrates vollkommen bei und sieht insbesondere auch in diesem Gesetz einen fatalen Hemmschuh für die aus Dienstesrücksichten notwendigen unfreiwilligen Versetzungen, deren Motive oft von der Art sind, daß sie für den Obersten Gerichtshof nicht entscheidend wirken. So dürften viele unfreiwillige Versetzungen ohne alles Verschulden des Beamten bloß durch die Sprachverhältnisse unvermeidlich werden. Der ungarische Hofkanzler würde es nach den von ihm gesammelten Erfahrungen lebhaft bedauern, wenn ein Gesetz dieser Art unter den gegenwärtigen Verhältnissen erlassen würde, und stimmt daher so wie die Minister Graf Rechberg, Graf Wickenburg und Graf Esterházy und FML. Ritter v. Schmerling mit dem Staatsratspräsidentenc, 7.

Die Beratung über die Angelegenheiten der mit der [Ersten] österreichischen Spar-Casse vereinigten Allgemeinen Versorgungsanstalt ist in einem besonderen Protokolle niedergelegt.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Laxenburg, 30. September 1861. Empfangen 1. Oktober 1861. Erzherzog Rainer.