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Nr. 78 Ministerrat, Wien, 5. Juni 1861 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Marherr; VS. Erzherzog Rainer; BdE. und anw. (Erzherzog Rainer 5. 6.), Rechberg, Mecséry, Schmerling, Degenfeld, Lasser, Szécsen, Plener, Wickenburg, Pratobevera 10. 6., Lichtenfels; abw. Vay; BdR. Erzherzog Rainer 14. 6.

MRZ. 861 – KZ. 1843 –

Protokoll des zu Wien am 5. Juni 1861 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. k. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Rainer.

I. Erklärung des Ministeriums über die Kompetenz des Reichsrates in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung

Auf der heutigen Tagesordnung im Abgeordnetenhause stehen drei Anträge: 1. des Abgeordneten Giskra wegen Ergänzung bzw. Abänderungen der §§ 9, 12 und 13 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung; 2. des Abgeordneten Szábel wegen Einsetzung eines Verfassungsausschusses im Hause; 3. des Abgeordneten Brosche wegen Verantwortlichkeit der Minister vor der Reichsvertretung1. Werden dieselben als Verhandlungsgegenstände vom Hause angenommen, so muß vor allem klargestellt werden, ob der Reichsrat in seiner dermaligen Zusammensetzung zur Verhandlung dieser drei Anträge, welche unzweifelhaft Verfassungsfragen betreffen, kompetent sei. Über Verfassungsfragen als Gegenstände der Gesetzgebung für alle Königreiche und Länder ist nach § 10 des Grundgesetzes nur der gesamte Reichsrat kompetent.

Der gegenwärtig versammelte Reichsrat, bemerkte der Staatsminister , kann als gesamter Reichsrat nicht angesehen werden, weil, obwohl er mit der Intention, daß er der gesamte sei, einberufen worden, doch die Aufforderung zur Beschickung an Siebenbürgen in legaler Form — aus welchen Gründen weiß der Staatsminister nicht — gar nicht erfolgt2 und die legale Form der Aufforderung Ungerns, die, wenngleich von Sr. Majestät Ah. anbefohlen, doch nur nebenbei in der Eröffnungsrede des Judex Curiae geschah, mindestens zweifelhaft ist. Der Reichsrat selbst glaubt nicht, daß er sich als den gesamten Reichsrat betrachten könne. Ist er’s also nicht, so ist er auch zur Verhandlung der oben angeführten drei Anträge nicht kompetent, und die Regierung muß ihm dies erklären, um damit die Verhandlung über Gegenstände abzuschneiden, die, der Kompetenz des gesamten Reichsrates vorbehalten, von diesem, wenn er dereinst versammelt sein wird oder als solcher legal anerkannt werden kann, jedenfalls wiederaufgenommen werden müßten. Für die bevorstehenden dringenden finanziellen || S. 104 PDF || Vorlagen ist es zwar für die Regierung unliebsam, dieselben nicht gleich zur verfassungsmäßigen Behandlung bringen zu können, wenn sie jene Erklärung abgibt. Allein nachdem jedermann die Unverschieblichkeit gewisser Finanzvorschläge einsieht, so wird man es gerechtfertigt finden, wenn die Regierung von dem Vorbehalte des § 13 des Grundgesetzes unter Beirat des eben versammelten engeren Reichsrates Gebrauch macht und seinerzeit dem gesamten Reichsrate die Gründe und Erfolge ihrer Verfügungen darlegt. Der Minister des Äußern , mit dem Antrage des Staatsministers einverstanden, setzte nur bei, daß in der dem Hause zu gebenden Erklärung die Absicht der Regierung hervorgehoben werden möge, durch die geeigneten Maßregeln, ohne diese übrigens näher zu bezeichnen, dem gegenwärtigen Zustande in möglichst kurzer Zeit ein Ende zu machen . Minister Graf Szécsen , ebenfalls mit dem Staatsminister einverstanden, hielt es auch für angemessen, in die Erklärung aufzunehmen, daß die Regierung die Absicht gehabt habe, den gesamten Reichsrat zu berufen und sich mit der Berufung der gegenwärtigen Versammlung beeilt habe, um zu beweisen, daß es ihr mit der Verfassung wirklich ernst sei und daß sie zur Konstituierung des gesamten Reichsrates nur darum nicht weiter vorgehen konnte, weil awichtige vorbedingendea Fragen bisher noch nicht gelöst sind. Auch die Hindeutung auf die Maßregeln zur Lösung der letztern schiene ihm zweckmäßig zu sein, doch möge sie nicht etwa wie eine Drohung hingestellt werden, weil Drohungen den Zweck nicht erreichen. Übrigens bemerkte er bezüglich der Zögerung des Präsidenten der siebenbürgischen Hofkanzlei in Berufung des Landtags zu dessen Rechtfertigung, daß die Einberufung nicht etwa wegen der Unionsfrage, sondern darum verschoben wurde, weil sie wesentlich durch den Gang des ungrischen Landtags bedingt ist und im gegenwärtigen Augenblicke eine bedenkliche Parteienspaltung im Lande bewirken würde. Der Polizei- und der Kriegsminister erklärten sich ebenfalls für den Antrag des Staatsministers. Ersterer hielt es für notwendig, die abzugebende Erklärung genau zu formulieren, und letzterer legte einen Wert darauf, der gegenwärtig versammelten Reichsvertretung, in deren Schoße selbst schon die Kompetenzfrage aufgetaucht ist, genau den Weg vorzuzeichnen, den sie zu gehen habe.

Minister Ritter v. Lasser hielt es nicht für nötig, schon heute mit der Erklärung des Staatsministers im Hause aufzutreten. Die Regierung hat bisher vermieden, die Kompetenzfrage zu berühren, sie möge also auch jetzt noch damit zurückhalten, indem binnen kurzer Zeit das Verhältnis zu Ungern und Siebenbürgen klarer sein wird. Die heutige Tagesordnung im Abgeordnetenhause bietet noch keinen dringenden Grund zur Erklärung über die Kompetenz des Reichsrates. Denn es wird über die drei Anträge vorerst nur, bund zwar ohne alle Debatteb, die Vorfrage gestellt werden, ob sie vom Hause in Verhandlung genommen werden sollen oder nicht. Entscheidet man sich dafür, cwodurch übrigens die Kompetenzfrage selbst gar nicht präjudiziert wird, wie die bisherigen Vorgänge im Hause beweisen, so ist naturgemäß, daß das Präsidium dahin wirkec wodurch übrigens die Kompetenzfrage selbst gar nicht präjudiziert wird, wie die bisherigen || S. 105 PDF || Vorgänge im Hause beweisen, so ist naturgemäß, daß das Präsidium dahin wirke, daß Szábels Antrag praeferenter in Verhandlung komme und dann erst die beiden andern, alsdann wird es sich erst um Bildung ddes Ausschusses für den formellen Szábelschen Antrag handeln, von dem der Antrag, ob die Bildung eines Verfassungsausschusses zweckmäßig und nach Lage der Kompetenzverhältnisse des Hauses an der Zeit seid, zu begutachten sein wird, so daß es zur eigentlichen Verhandlung eüber die meritalen Anträgee in der Versammlung erst nach längerer Zeit kommen wird, bis wohin vielleicht in den ungrischen und siebenbürgischen Angelegenheiten eine bestimmteref Wendung eingetreten sein dürfte gund das Ministerium in der Lage wäre, sogleich umfassendere Aufklärungen zu geben, wie es die Kompetenz des gesamten Reichsrates zu erzielen gedenke. Solange dieses nicht erklärt werden könne, sage man niemandem etwas Neues damit, daß jetzt der Reichsrat noch nicht für allgemeine Angelegenheiten kompetent erscheineg . Vorderhand scheine es genügend, wenn der Staatsminister einfach erklärte, es werde durch den Beschluß des Hauses, die drei Anträge in Verhandlung zu nehmen, eine Anerkennung der Kompetenz desselben über sie nicht gefolgert. Noch weniger war der Finanzminister mit der Abgabe jener Erklärung itzt einverstanden. Gegenwärtig, wo man an der Schwelle einer Wendung der Ereignisse in Ungern und sofort auch in Siebenbürgen steht, wäre ein Abgehen von der bisherigen Zurückhaltung der Regierung, sich über dieses Verhältnis auszusprechen, um so weniger zu raten, als eine Erklärung dieser Art nur für eine Ausflucht der Regierung ausgegeben würde, um der weiteren Entwicklung der Verfassung und dem Gesetze über die Verantwortlichkeit der Minister zu entgehen. Selbst eine Erklärung in der vom Minister v. Lasser beantragten Art wäre nicht zu geben, denn sie würde wie ein Funke in einer Pulvertonne wirken. Er stimmte daher gegen jede Äußerung des Ministeriums über die Kompetenz des Reichsrates. hGegen die vom Herrn Staatsminister angetragene Erklärung könnte man mit Recht den Vorwurf erheben, daß das Ministerium dieselbe vielmehr schon vor vier oder fünf Wochen weit zeitgemäßer hätte geben können und sollen und daß kein Grund vorliege, [daß man] den Reichsrat, welchen man bisher selbst über seine Kompetenz urteilen ließ und in welchem man die betreffende Interpellation hinsichtlich Ungerns Vertretung in demselben bisher mit Grund unbeantwortet ließ, auf einmal, und zwar in grellster Inkonsequenz gegen den bisherigen Vorgang der Regierung, fürsorgend in die rechte Bahn zu weisen versucht und bemüht ist. Der Eindruck der nach dem Antrage des Herrn Staatsministers abzugebenden Erklärung wird in und außer dem Reichsrate, namentlich in finanziellen Kreisen, ein sehr ungünstiger sein, daher ich dringend davon abrate. Eine derlei wichtige Erklärung von der größten staatsrechtlichen Tragweite und Wirkung soll nicht nebenher und beiläufig, sondern der Sache würdig und unabhängig und ohne Beziehung zu einem gerade auf der Tagesordnung stehenden Geschäftsgegenstande gegeben werden. Am allerwenigsten ist heute die erforderliche Zeit zur entsprechenden Formulierung dieses wichtigen Staatsaktes vorhanden, dessen Prononcierung mir sehr unpolitisch scheint, bevor man in betreff Ungerns einen bestimmten Plan gefaßt hat.h Gegen die vom Herrn Staatsminister angetragene Erklärung könnte man mit Recht den Vorwurf erheben, daß das Ministerium dieselbe vielmehr schon vor vier oder fünf Wochen weit zeitgemäßer hätte geben können und sollen und daß kein Grund vorliege, [daß man] den Reichsrat, welchen man bisher selbst über seine Kompetenz urteilen ließ und in welchem man die betreffende Interpellation hinsichtlich Ungerns Vertretung in demselben bisher mit Grund unbeantwortet ließ3, auf einmal, und zwar in grellster Inkonsequenz gegen den bisherigen Vorgang der Regierung, fürsorgend in die rechte Bahn zu weisen versucht und bemüht ist. Der Eindruck der nach dem Antrage des Herrn Staatsministers abzugebenden Erklärung wird in und außer dem Reichsrate, namentlich in finanziellen Kreisen, ein sehr ungünstiger sein, daher ich dringend davon abrate. Eine derlei wichtige Erklärung || S. 106 PDF || von der größten staatsrechtlichen Tragweite und Wirkung soll nicht nebenher und beiläufig, sondern der Sache würdig und unabhängig und ohne Beziehung zu einem gerade auf der Tagesordnung stehenden Geschäftsgegenstande gegeben werden. Am allerwenigsten ist heute die erforderliche Zeit zur entsprechenden Formulierung dieses wichtigen Staatsaktes vorhanden, dessen Prononcierung mir sehr unpolitisch scheint, bevor man in betreff Ungerns einen bestimmten Plan gefaßt hat. Der Handelsminister war zwar nicht gegen den Antrag des Staatsministers, wünschte aber, daß der Versuch gemacht werde, die Anträge zu vertagen, um Zeit zu gewinnen, und äußerte weiters das Bedenken gegen den Zusatz über die Absicht der Regierung, dem gegenwärtigen Zustande des Reichsrates bald ein Ende zu machen, indem man dann die Regierung fragen wird, was sie bisher getan, und sie darauf eine genügende Antwort nicht geben könnte.

Minister Freiherr v. Pratobevera stimmte ganz für den Antrag des Staatsministers. Die Regierung kann der Frage über die Kompetenz des gegenwärtig versammelten Reichsrates nicht mehr ausweichen. Gerade die oben gedachten drei Anträge, welche Verfassungsänderungen bezwecken, bieten den geeignetsten Anlaß dazu, dem Reichsrate die Grenzen seiner Kompetenz in dem Momente gegenwärtig zu halten, wo er sie überschreiten will. Das Ministerium ist dazu verpflichtet. Es würde sich sonst dem Vowurfe einer unregelmäßigen Haltung aussetzen. Die Besorgnis, daß eine solche Erklärung für eine Ausflucht, um Änderungen in der Verfassung oder dem Ministerverantwortlichkeitsgesetze zu entgehen, ausgegeben werden würde, teilt Freiherr v. Pratobevera nicht, denn es ist ja selbst im Grundgesetze (§ 14) der Fall vorgesehen, daß Änderungsanträge stattfinden können, natürlich nur vor dem gesamten Reichsrate. Übrigens könnte gesagt werden, was die Regierung zur Komplettierung des Reichsrates getan hat. Bei Kroatien ist darüber kein Zweifel, bei Ungern zeigen die Landtagsverhandlungen selbst, daß man Kenntnis von der Aufforderung zum Reichsrate genommen habe. Nur bezüglich Siebenbürgens unterläge [es] einiger Schwierigkeit, obschon auch da der Beschluß der Konferenz und der Ah. Befehl hierwegen vorliegen. Der Staatsratspräsident endlich war ebenfalls mit dem Staatsminister einverstanden. Die Regierung kann nicht schweigend zusehen, wenn der Reichsrat über seine Kompetenz hinaus Beschlüsse faßt, die ungültig sind. Auf indirektem Wege, wie Ritter v. Lasser meinte, zu wirken, schiene nicht rätlich zu sein, denn man würde die Absicht durchschauen und das Haus reizen. Besser also eine offene Erklärung.

Nachdem sonach die Mehrheit des Ministerrates dem Antrage des Staatsministers beigetreten war, wurde sich über den von ihm aufgesetzten Entwurf der zu erteilenden Antwort vereinbart und bemerkte schließlich der Staatsminister mit Bezug auf die Andeutung des Finanzministers, die Regierung wolle nur Anträgen auf Verfassungsänderungen ausweichen, daß er gegenwärtig überhaupt jedem Antrage auf Änderung der vor wenigen Monaten von Sr. Majestät Ag. gegebenen Verfassung auf das entschiedenste entgegentreten würde4.

II. Beantwortung von Interpellationen in Armeeangelegenheiten

Der Kriegsminister fragte aus Anlaß der eben ausgesprochenen Inkompetenz des gegenwärtigen engeren Reichsrates über Gegenstände, welche das gesamte Reich betreffen, ob er Interpellationen desselben über Angelegenheiten der Armee nicht schlechterdings abweisen könne und solle, da die Armee als Ausfluß des Gesamtstaates nicht Gegenstand der Neugier oder Beanständung einer über sie nicht kompetenten politischen Körperschaft sein könne.

Bei Entscheidungen über Heeresangelegenheiten — bemerkte Minister Graf Szécsen — wäre der engere Reichsrat allerdings nicht kompetent. Interpellationen aber über faktische Verhältnisse etc. dürften nach seinem und nach dem Erachten des Polizeiministers und des Staatsratspräsidenten nicht zurückgewiesen werden können, sie würden — wie letzterer bemerkte — selbst den einzelnen Landtagen freistehen5.

III. Stellung des Ministeriums zu den vom Abgeordnetenhaus beantragten Änderungen der Geschäftsordnung

Über einen Antrag des Polizeiministers , sich bezüglich der vom Abgeordnetenhause in Angriff genommenen Änderung der Geschäftsordnung die Stellung des Ministeriums gegenüber der diesfälligen Verhandlung klarzumachen, glaubte der Staatsminister darauf hinweisen zu sollen, daß nach Absatz I dieses Protokolls die Kompetenz der gegenwärtigen Versammlung nicht bestehe, soweit es Änderungen eines Verfassungsgesetzes betrifft6.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Wien, den 13. Juni 1861. Empfangen 14. Juni 1861. Erzherzog Rainer.