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Nr. 103 Ministerkonferenz, Wien, 1. Februar 1860 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet; VS. Kaiser, BdE. und anw. Erzherzog Wilhelm, Erzherzog Rainer, (Rechberg 2. 2.), Thun 3. 2., Bruck 3. 2., Nádasdy 3. 2., Gołuchowski 3. 2., Thierry 3. 2., Schmerling 4. 2.

MRZ. – KZ. 434 –

Protokoll der Ministerkonferenz am 1. Februar 1860 unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

I. Besetzung der Stelle des Statthalters in Venetien durch Ritter v. Toggenburg; Instruktion für denselben

Se. k. k. apost. Majestät geruhten der Konferenz Ag. zu eröffnen, daß der Armeekommandant FML. Graf Degenfeld darauf angetragen habe, dem geheimen Rate Ritter v. Toggenburg die Leitung der venezianischen Statthalterei zu übertragen1. Nach dem vom k.k. Generaladjutanten Grafen Saint Quentin erstatteten Reiseberichte2 sei zwar der Geist der venezianischen Bevölkerung, selbst des Landvolkes, durch Wühlereien aller Art, auch von Staatsbeamten, merklich verschlimmert, es könne jedoch durch Energie und Tätigkeit die Ordnung und das Ansehen der Regierung, wie es in Verona bereits gelungen ist, auch anderwärts wieder hergestellt werden. Se. Majestät gedenken daher, demnächst den Ritter v. Toggenburg an Graf Bissingens Stelle zu ernennen; und er wird im engsten Einverständnisse mit Graf Degenfeld bei Lösung seiner Aufgabe vorzugehen haben3.

Der Minister des Inneren zeigte an, daß er demnächst die gemäß der Ah. Befehle verfaßte Instruktion für den neuen Statthalter au. überreichen werde4, und bemerkte, daß dermal auch mit einer neuen Abgrenzung des Wirkungskreises für die venezianische Zentralkongregation vorgegangen werden dürfte, um denselben mit dem erweiterten Wirkungskreis der Provinzialkongregationen in Einklang zu bringen. Die Mitglieder der Congregazione Centrale, die dem Vernehmen nach geneigt sein sollen, en masse zu resignieren, dürften dadurch bestimmt werden, im Amte zu verbleiben. Der Ministerpräsident äußerte, daß die Wiederkehr des Vertrauens zur kaiserlichen Regierung das wirksamste Mittel sein würde, die Mitglieder dieses Repräsentativkörpers, der übrigens im Land kein Ansehen genießt, zum Ausharren zu bestimmen.

|| S. 406 PDF || Se. Majestät geruhten Ah. zu bestimmen, daß hierüber vor allem die Anträge des Ritters v. Toggen­burg abzuwarten seien. Es werde auch die Sache desselben sein, gemäß der ihm zu erteilenden Vollmachten schlechte Beamte (darunter den Delegaten von Venedig) sogleich zu entfernen und entsprechend zu ersetzen5.

II. Ausfuhr von Waffen aus Triest

Infolge des vom FML. Grafen Degenfeld zur Sprache gebrachten Umstandes, daß Schwefel, Blei und Waffen aus Triest angeblich nach Patras, faktisch aber nach Mittelitalien ausgeführt werden, sicherte der Finanzminister zu, über diesen mit dem Waffenausfuhrverbot im Widerspruch stehenden Vorgang sogleich Erhebungen anzustellen und das Erforderliche vorzukehren6.

III. Instruktion an FML. Graf Degenfeld für die verschiedenen Eventualitäten

Se. k. k. apost. Majestät geruhten hierauf einen Bericht vorlesen zu lassen, worin der Armeekommandant Graf Degenfeld seine Ansichten über unsere politisch militärische Lage in Italien entwickelt und um Ah. Instruktionen für folgende drei Eventualitäten bittet: a) daß ein Aufstand in den venezianischen Provinzen unter Teilnahme von Freischaren der italienischen Liga ausbricht; b) daß Piemont mit oder ohne Beistand der Liga gegen Österreich einen Angriff unternimmt; und c) daß sich Österreich gegen einen vereinten Angriff Frankreichs, Piemonts und der Liga zu verteidigen habe7.

Graf Rechberg las hierauf seine als Minister des Äußern über den Bericht des Armeekom­mandanten erstattete Äußerung, worin die Möglichkeit und relative Wahrscheinlichkeit der obigen drei Eventualitäten mit Hinblick sowohl auf die diplomatischen Verhandlungen der Gegenwart als auf gewisse faktische Vorgänge Frankreichs speziell gewürdigt wird8. Was die von Österreich jenen Eventualitäten gegenüber zu treffenden Vorkehrungen betrifft, so glaubt der Minister jene sub c) dermal noch außer Betracht lassen zu sollen. Bezüglich eines allfälligen Angriffs von Piemont mit oder ohne Teilnahme der Liga, so scheine es rätlich, sich vorderhand der eigentlichen Rüstungen zu enthalten, da dieselben kein Geheimnis bleiben könnten und auf die Kabinette in einer Art wirken würden, daß wir jede Aussicht verlören, Alliierte zu gewinnen. Man müßte sich daher darauf beschränken, im Stillen Anstalten zur hartnäckigsten Verteidigung unserer Festungen zu treffen, damit im Falle des Eintretens der Eventualität b) der Feind aufgehalten und zur Erzielung einer politischen Umstimmung Zeit gewonnen werde. Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Chef des Armeeoberkommandos bemerkte, daß selbst dieser eng begrenzte Zweck sehr schwer zu erreichen sei, ohne Aufsehen zu erregen, da man nebst den Truppen für die Verteidigung der Festungen doch auch noch eine mobile Streitmacht haben müsse, um gegen die Invasionsarmee im rechten Augenblick aggressiv zu wirken. Andererseits sehen || S. 407 PDF || Se. k. k. Hoheit nicht ab, warum Österreich bei den notorischen Rüstungen unserer offenen oder versteckten Feinde sich jeder Gegenrüstung enthalten solle.

Der Ministerpräsident erklärte, daß er jedenfalls im gegenwärtigen Augenblick, wo wenigstens keine nahe Gefahr droht, wo der neue französische Minister des Äußern9 sich noch gar nicht näher ausgesprochen hat, und die ganze Situation sehr unklar ist, keine Rüstungen avornehmen würdea . Vielleicht werde man schon in wenig Tagen über die Gesinnungen Englands und Rußlands Positiveres wissen.

Se. Majestät der Kaiser geruhten hierauf zu befehlen, daß die Erteilung der vom Grafen Degenfeld angesuchten Instruktionen noch vorderhand auf sich beruhe und diese Zeit dazu benützt werde, damit bei dem Armeeoberkommando ganz im Stillen die Projekte der den verschiedenen Eventualitäten entsprechenden militärischen Dispositionen ausgearbeitet würden. Einstweilen sei der Pferdverkauf bereits sistiert worden10.

Der Finanzminister äußerte, daß die zur Sprache gekommenen politischen und militärischen Verhältnisse ihn zwingen, mit der Anlehensoperation schon bald aufzutreten. Damit jedoch dieser wichtige Schritt mit Erfolg gemacht werde, betrachte er es als unerläßlich, daß vorläufig die nachfolgenden Vorbedingungen erfüllt werden: a) die Erlassung des Gesetzes über die Besitzfähigkeit der Juden11, b) das Erscheinen des Ah. Patents über die Verstärkung des Reichsrates, und c) die gütliche Begleichung der Agitation unter den ungarischen Protestanten12.

IV. Depots von galizischem Getreide in Ungarn

Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Wilhelm richtete an den Polizeiminister die Frage, was wegen Konstatierung des Gerüchts, daß in Ungarn Depots von Getreide aus Galizien im stillen durch Private gebildet wurden, geschehen sei, worauf der gedachte Minister referierte, daß diese Angelegenheit von ihm an die k. k. Generaladjutantur geleitet worden sei, welche die Erhebungen im Wege des Herrn Erzherzogs Generalgouverneur veranlassen dürfte.

V. Betrieb der südlichen Staatsbahn und französischer Einfluß auf denselben

Der Finanzminister referierte gemäß Ah. Befehls über den Zustand der Betriebsmittel auf der südlichen Staatseisenbahn, wegen deren Ergänzung von der Gesellschaft große Anstrengungen gemacht werden. Die Hindernisse der Eröffnung des Betriebs zwischen Nabresina und Casarsa bestehen darin, daß der Viadukt bei Monfalcone, dann die Brücken bei Casarsa und Görz nicht vollendet sind. Es wird jedoch bereits mit aller Tätigkeit, zum Teil selbst bei Nacht, daran gearbeitet13.

Zugleich referierte Baron Bruck über die Erhebungen wegen des französischen Einflusses auf die Geschäftsführung bei dieser Bahn14. Es hat sich herausgestellt, daß hiebei nur || S. 408 PDF || Mißverständnisse zum Grunde liegen und an eine Protektion vom französischen Botschafter für Meißner gar nicht gedacht wurde. Die Gesamtzahl der im Dienst der Gesellschaft stehenden Franzosen ist nur 20. Hievon sind acht bei dem Bau der Eisenbrücke als Techniker in Verwendung und werden nach Beendigung dieses Objekts wieder entlassen. Die Restzahl von nur zwölf Individuen für die große Bahn ist umso weniger geeignet, Besorgnisse einzuflößen, als die Leitung des Betriebs an den wichtigsten Punkten ausnahmslos Österreichern anvertraut ist.

Am 2. Februar 1860. Rechberg. Ah. E. Ich nehme den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis. Franz Joseph. Wien, den 9. Februar 1860.