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Nr. 101 Ministerkonferenz, Wien, 27. Jänner 1860 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet; VS. Kaiser, BdE. und anw. Erzherzog Wilhelm, Erzherzog Rainer, (Rechberg 28. 1.), Thun 29. 1., Bruck 30. 1., Nádasdy 30. 1., Gołuchowski 31. 1., Schmerling 31. 1.; abw. Thierry. Teildruck (II): REDLICH, Staats- und Reichsproblem 1/2 , 187 ff.

MRZ. – KZ. 374 –

Protokoll der Ministerkonferenz am 27. Jänner 1860 unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

I. Offizieller Artikel über die Deputation der Evangelischen in Ungarn

Der Kultusminister besprach die in einigen Wiener Blättern erscheinenden unrichtigen Angaben, als ob die Deputation der Evangelischen Ungarns von den Ministern, ja selbst Allerhöchstenortes empfangen werde1. Diese Gerüchte würden einen lauten Widerhall in Ungarn finden, auf die Opposition ermutigend, auf die folgsamen Evangelischen aber sehr niederschlagend wirken. Um nun diesen üblen Eindruck baldigst zu verwischen, hält es Graf Thun für nötig, ohne Verzug einen berichtigenden Artikel in die Wiener Zeitung einrücken zu lassen, und er liest den Entwurf desselben vor.

Der Ministerpräsident rektifizierte vor allem die in diesem Entwurf erscheinende Angabe, die Deputation habe keine Audienz bei Sr. Majestät angesucht, dahin, daß wenigstens die Anfrage gestellt worden sei, ob sie hoffen könne, eine Audienz zu erhalten. Dieser Passus wäre daher zu ändern. Ferner erklärte sich Graf Rechberg gegen den letzten Absatz des Entwurfs, worin vom Festhalten am Ah. Patente de dato 1. September 1859 etc. die Rede ist. Dieser Teil des Artikels sei nicht nur nicht notwendig, um das Publikum aufzuklären, sondern er würde selbst im Fall einer Umstimmung der sechs Deputierten eventuell ihrem gedeihlichen Wirken im Lande von vornherein entgegenwirken. Überhaupt wäre es am besten, mit der Veröffentlichung des ganzen Artikels noch bis zum 29. d. M. zu warten, um durch denselben nicht in die schwebenden Verhandlungen zur Verständigung störend einzugreifen.

Se. Majestät der Kaiser geruhten zu befehlen, daß mit der Veröffentlichung des nach den Anträgen des Ministerpräsidenten zu redigierenden Artikels noch einen Tag zurückgehalten werde2.

II. Verstärkung des Reichsrates

Der Ministerpräsident referierte, daß in Ausführung des Absatzes V im ministeriellen Programme die Frage wegen einer Ergänzung des Statuts für den Reichsrat von den Ministern des Kultus, der Justiz und der Finanzen in eine reifliche Komiteeberatung gezogen worden sei, deren Ergebnis der beiliegende Patentsentwurf wara . Dieser Entwurf, || S. 398 PDF || den Graf Rechberg dem ganzen Inhalte nach in der Konferenz vorlas, sei bereits am 23., 24. und 26. d. M. der Konferenzberatung unterzogen worden, aber es habe sich dabei gezeigt, daß unter den Mitgliedern der Ministerkonferenz eine wesentliche Meinungs­verschiedenheit obwaltet, vor deren Schlichtung durch einen Ah. Ausspruch die Beratungen über den Gesetzentwurf nicht mit Nutzen fortgesetzt werden können. Diese Meinungsverschiedenheit bestehe im wesentlichen darin, daß nach der Meinung der Minister des Kultus und des Inneren Se. Majestät der Kaiser Allerhöchstsich die durch keinen Vorschlag beschränkte Wahl der außerordentlichen Reichsräte (§ 1, Art. 4) aus den Landtagen sämtlicher Kronländer, und zwar ohne Fixierung der Zahl, welche auf jedes Kronland entfällt, vorzubehalten geruhen dürften, während alle übrigen, somit die mehreren Stimmen in der Ministerkonferenz, des Erachtens waren, daß Se. Majestät geruhen dürften, diese Kategorie von Reichsräten in dem [in] Artikel 4 des § 1 ausgedrückten Zahlenverhältnisse für jedes einzelne Kronland über die von den bezüglichen Landesvertretungen zu erstattenden Vorschläge auszuwählen.

Der Kultusminister motivierte seine Meinung durch die bereits bei der Vorberatung am 26. Januar 1860 geltend gemachten Gründe. Der verstärkte Reichsrat solle kein Repräsentativkörper im konstitutionellen Sinne, sondern einfach der oberste Rat der Krone sein und bleiben. Se. Majestät dürften Allerhöchstsich keine bdes Ah. Vertrauens sich nicht erfreuendeb Räte durch die Landtage aufdringen lassen, was den Charakter des Reichsratsinstituts verändern und die Parteien aus den Landtagen dahin verpflanzen und unabwendbar zum Konstitutionalismus drängen würde, mit dem doch 1851 gebrochen wurde. Nicht der Wahlmodus für die Reichsräte, sondern die Achtung, welche die von Sr. Majestät gewählten Personen nach ihren Antezedentien erworben haben, werde dem Reichsrat Ansehen verleihen und ihn zur Stütze des Thrones machen. Bei einer erleuchteten und freien Ah. Wahl der Räte kann man diesem Beratungskörper unbedenklich den vom Grafen Thun [in] § 4 beantragten erweiterten Wirkungskreis einräumen. Se. Majestät würden auf diesem Wege unparteiische Meinungsäußerungen aus allen Kronländern vernehmen. Man müsse jetzt den konstitutionellen Wünschen, welche auf der Idee der Volkssouveränität basiert sind, keine Konzessionen machen. Der Minister des Inneren , im wesentlichen diese Meinung teilend, verwahrte sich auch mit Bezug auf seine im Protokolle vom 26. Jänner 1860 niedergelegten Bedenken gegen das nach dem Antrag der Majorität festzusetzende Zahlenverhältnis der aus jedem Kronlande zu berufenden Reichsräte. Es beruhe auf keiner gerechten und haltbaren Basis und lasse den Hintergedanken erraten, daß man die Reichsräte aus gewissen Kronländern überstimmen und Majoritäten erkünsteln wolle. Die Vorschläge der Landesvertretungen würden gewiß Sr. Majestät manche Verlegenheiten bereiten.

Der Ministerpräsident entgegnete, daß die beiden Vorstimmen das ständische mit dem konstitutionellen Systeme zu verwechseln scheinen. Von dem letzteren sei hier gar nicht die Rede; allein, nachdem das Prinzip der ständischen Vertretung in den einzelnen Kronländern anerkannt und dessen Durchführung zugesichert ist, müsse auch in dem Zentralorgane eine ähnliche Vertretung, jedoch nicht exklusiv, sondern nur neben den ganz aus der freien Wahl des Landesfürsten hervorgegangenen Reichsräten zugelassen werden. || S. 399 PDF || Der Justizminister bemerkte, die Wahl der Reichsräte aus den Kronländern könne vom Souverän wohl nur über einen Vorschlag von irgend einer Seite erfolgen. Geht der Vorschlag von den Ministern aus, so wird das öffentliche Vertrauen auf die völlige Unabhängigkeit ihrer Meinungsäußerung schwerlich erzielt werden, und der Reichsrat hat dann kein moralisches Gewicht in den Augen der Bevölkerung. Darum gebe man den Landesvertretungen Gelegenheit, die Männer ihres Vertrauens namhaft zu machen. Sollten auf diesem Weg auch manche ungefügige Elemente in den Reichsrat kommen, so sei dies an und für sich kein Unglück; er werde doch nützliche Dienst leisten können und seiner wichtigen Bestimmung als Bindungsmittel dem Separatismus gegenüber besser entsprechen, als wenn er bloß durch Ah. Wahl cohne Ständevorschlagc gebildet wird. Endlich wäre ja der Souverän an die Majoritätsansichtend im Reichsrate auf keinen Fall gebunden, was auch die Bedenklichkeit über das Zahlenverhältnis der Ländervertretung behebt. Der Finanzminister sieht nicht ab, wie man das Prinzip der Wahlen von unten im Reichsrate gänzlich ausschließen könnte, während es in den Bezirksgemeinden und Landesvertretungen Geltung haben wird. Ein nach dem Antrage der mehreren Stimmen gebildeter Reichsrat werde den Übergriffen der Landtage zuerst und wirksam entgegentreten, während die ihm selbst gezogenen engeren Schranken die Rechte der Krone wahren werden.

Se. k. k. apost. Majestät geruhten Allerhöchstsich für das Prinzip zu entscheiden, daß die Reichsräte für jedes Kronland über die von den bezüglichen Landesvertretungen zu erstattenden Ternavorschläge zu wählen seien. In bezug auf die Abgrenzung des Wirkungskreises für den Reichsrat geruhten Se. Majestät der Konferenz die sorgfältigste Erwägung zur Pflicht zu machen, damit jenem Beratungskörper die volle Entfaltung einer nützlichen Tätigkeit eingeräumt werde, ohne demselben den Weg zu Übergriffen zu eröffnen. Auch die Grenze der Aufgaben des permanenten und des verstärkten Reichsrates werde scharf zu zeichnen sein. In formaler Beziehung geruhten Se. Majestät auf eine entsprechendere Reihung der Kronländer im § 1.4 hinzudeuten und schließlich die tunliche Beschleunigung der Konferenzberatungen über diesen dringenden Gegenstand zu empfehlen3.

III. Bericht über die Zustände in den venezianischen Provinzen

Se. k. k. apost. Majestät geruhten einen kürzlich eingelaufenen Bericht des Armeekommandanten Grafen Degenfeld über die Lage der Dinge in Italien, und zwar in politischer, polizeilicher und militärischer Beziehung, vorlesen zu lassen. An den Bericht über die faktischen Zustände knüpft FML. Graf Degenfeld mehrere Anträge, von denen einige bereits durch Ah. Verfügungen ihre Erledigung erhalten haben4.

Die als dringend bezeichnete Verhandlung über die Kriegsentschädigung für die venezianischen Provinzen wurde von Sr. Majestät bei dem Minister des Inneren Ah. urgiert5, || S. 400 PDF || und dem Ministerpräsidenten der Ag. Auftrag erteilt, die von FML. Graf Degenfeld angesuchten „politischen Instruktionen“ erteilen zu lassen6. Se. Majestät der Kaiser geruhten hiebei die Aufgabe der Regierungsorgane im Venezianischen dahin zu bezeichnen, jeden Aufstandsversuch daselbst womöglich zu verhindern oder energisch im Keim zu ersticken. Sollte aber eine revolutionäre Bewegung zum wirklichen Ausbruch kommen, dieselbe mit aller Energie niederzuschlagen, da es der entschiedene Wille Sr. Majestät ist, diese Provinzen zu halten. Dem Auslande gegenüber habe man sich der Provokationen zu enthalten, aber jeden Übergriff oder Territorialverletzungen energisch zurückzuweisen.

Über die Ah. gestellte Frage, ob es bei den vorhandenen politischen Konjunkturen nicht rätlich wäre, Verstärkungen nach dem Venezianischen zu senden, äußerte der Ministerpräsident , daß derlei militärische Dispositionen von unseren Feinden in gleicher Weise beantwortet werden würden, was, wie im vorigen Jahr, zu stets größeren Rüstungen führen dürfte. Es sei schwer, ein Prognostikon über die Angelegenheiten in Oberitalien zu stellen; aber soviel scheine gewiß, daß, solang Frankreich auf das Zusammentreten des Kongresses wirkt, ein Angriff von dorther nicht zu besorgen sei7.

Schließlich brachten Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Chef des Armeeoberkommandos in Antrag, daß der Verkauf der noch vorhandenen, zur Reduzierung bestimmten Bespannungen in Steiermark etc. sistiert werde, um erforderlichenfalls dieselben zur Mobilisierung verwenden zu können. Zudem sei der Kaufschilling, den man unter den gegenwärtigen Verhältnissen dafür erwarten kann, äußerst gering.

Am 28. Jänner 1860. Rechberg. Ah. E. Ich nehme den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis. Franz Joseph. Wien, den 7. Februar 1860.