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Nr. 9 Ministerkonferenz, Wien, 4. Juni 1859 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet; VS. Rechberg; BdE. und anw. (Rechberg 6./9. 6.), Bach, Thun, Toggenburg, Bruck, Kempen 8. 6., Nádasdy, Eynatten.

MRZ. – KZ. 2097 –

Protokoll [der Ministerkonferenz] vom 4. Junius 1859 unter dem Vorsitze des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern Grafen v. Rechberg-Rothenlöwen.

I. Anwendung der Gesetze über die Zivilgerichtsbarkeit auf die Lippowaner in der Bukowina

Der Kultusminister referierte über eine zwischen ihm und dem Justizminister bestehende Meinungsverschiedenheit in bezug auf die Behandlung der Lippowaner (eigentlich Philippovaner) oder Staroverzen (Altgläubigen) in der Bukowina1.

Der Kultusminister berichtete vorerst über den Ursprung und die Eigentümlichkeiten dieser Glaubensgenossen, welche seit ungefähr 70 Jahren in der Bukowina ansässig sind, aber sich bis jetzt in wesentlichen Punkten noch nicht den Landesgesetzen konformiert haben. Die Beschwerden des Petersburger Kabinetts über die Sektiererei, welche von der Bukowina aus unter den Lippowanern in Rußland genährt wurde, habe den Anlaß gegeben, die Verhältnisse der Lippowaner in jenem Kronlande genauer zu prüfen, und so habe man sich schließlich unter den beteiligten Ministerien über die Maßregeln geeinigt, welche zu treffen wären, um einerseits die russische Regierung in bezug auf ihre Beschwerden klaglos zu stellen, und andererseits in den Lippowanergemeinden bezüglich der Handhabung der Polizei und der Gerichtsbarkeit jene Ordnung einzuführen, welche den bestehenden Gesetzen möglichst entspricht, ohne dabei gegen die religiösen Gewohnheiten dieser Leute in einer Weise zu verstoßen, daß ihrerseits ein ernster, ja fast unbesiegbarer Widerstand gegen die Neuerungen zu besorgen wäre. Es scheint nämlich selbst aus politischen Rücksichten nicht angezeigt, diese Glaubensgenossen mit Maßregeln äußerster Strenge zu einer Ordnung zu zwingen, die ihren Religionsbegriffen widerstrebt, und, bei der sittlich guten und bürgerlich ruhigen Haltung, welche diese Kolonie von etwa 2–3000 Menschen seit 70 Jahren beobachtet, liegt auch noch keine Notwendigkeit vor, von Staats wegen tiefeingreifende Änderungen des Status quo zu treffen. Nur über den Punkt konnte unter den Zentralbehörden keine Einigung erzielt werden, ob bei den Lippowanern nebst den allgemeinen Gesetzen und Vorschriften über die Strafgerichtsbarkeit und die Zivilgerichtsbarkeit in Streitsachen auch noch jene über alle Personenrechte und über das sogenannte adelige Richteramt anzuwenden seien, wie der Justizminister beantragt hat.

Zur Begründung dieses Antrages las der Minister Graf Nádasdy den bezüglichen Teil der Justizministerialnote vom 17. November v. J., wobei sich teils auf die Allgemeinheit || S. 34 PDF || der bezüglichen Gesetze, teils auf die Notwendigkeit berufen wird, die Verhältnisse der Ehegatten, die Vormundschaften, Kuratele und das Erbrecht selbst im Interesse der Bevölkerung nicht länger ungeregelt zu lassen2. Der Kultusminister bemerkte hierüber, der Antrag des Justizministers sei allerdings mit strenger Konsequenz auf gesetzliche Prinzipien gebaut; aber er abstrahiere von der Durchführbarkeit dieser Prinzipien bei einer Religionsgenossenschaft, welche, durch eine unrichtige Interpretation der Heiligen Schrift irregeleitet, den Widerstand gegen alle „Neuerungen“ (wozu auch die Führung von Geburts-, Trauungs- und Sterberegistern von ihnen gerechnet wird) als heiligste Gewissenspflicht betrachtet, eine Pflicht, der sie, selbst durch die härtesten Maßregeln der russischen Regierung bedrängt, nicht untreu geworden ist. In moralischer Beziehung sei aus der Fortdauer des Status quo bei diesen harmlosen Leuten (unter welchen namentlich uneheliche Geburten seltener als bei den andern griechischnichtunierten vorkommen) nichts zu besorgen, und die Einfachheit der dortigen patriarchalischen Verhältnisse bedürfe wohl noch nicht des gerichtlichen Apparats des adeligen Richteramts. Dem Abgange der Pfarrmatrikeln habe man durch jährliche Konskription der Bevölkerung in einer der bestehenden Ordnung möglichst annähernden Weise abzuhelfen gesucht, und sowohl das Ministerium des Inneren als die Oberste Polizeibehörde hätten sich den Anträgen des Kultusministers in allen Punkten angeschlossen. Der Minister las hierauf den Entwurf der Ah. Entschließung, welche er sich in dieser Angelegenheit von Sr. Majestät dem Kaiser au. zu erbitten beabsichtigt, und worin die Punkte, deren Normierung unumgänglich erscheint, festgesetzt würden.

Die Majorität der Ministerkonferenz stimmte diesen Anträgen vollkommen bei, wobei der vorsitzenden Minister des Äußern bemerkte, daß es durchaus nicht angezeigt wäre, die von der russischen Regierung erhobenen und dermal zu behebenden Reklamationen gewissermaßen zum Ausgangspunkt einer Religionsverfolgung gegen harmlose eigene Untertanen zu machen3. Der Minister des Inneren bedauerte, daß die Verhandlung über die Lippowaner überhaupt einen solchen Umfang erreicht habe, und er würde es selbst als sehr wünschenswert betrachtet haben, daß dieselbe durch allseitige Zustimmung zum Abschluß gebracht werde, ohne erst eine Ah. Entscheidung darüber zu provozieren. Der Justizminister erklärte jedoch, daß er nicht ermächtigt sei, von den allgemeinen Justizgesetzen Ausnahmen zu statuieren, und daß er von seinem Standpunkte aus darauf bestehen müsse, daß die Verpflichtung der Lippowaner zur Beobachtung der Gesetze über die Zivilgerichtsbarkeit allgemein ausgesprochen werde, somit in dem vorgelesenen Resolutions­entwurfe am Schluß die Worte „in Streitsachen“ wegzulassen wären. Der Handelsminister vereinigte sich mit der besonderen Meinung des Justizministers4.

II. Übernahme der Seeverkehrslinie des Lloyd durch Lever

Der Minister des Äußern eröffnete, es seien ihm von einem sichern Lever aus London Anträge zugekommen, wonach derselbe während der Kriegsdauer den bisher vom österreichischen Lloyd vermittelten Verkehr durch englische Schiffe gegen dem fortzusetzen gedenkt, daß ihm hiezu der Schutz der österreichischen Regierung gewährt und die Benützung der sämtlichen maritimen Etablissements des Lloyd eingeräumt werde.

Die Konferenz erkannte einstimmig, daß ein solches Unternehmen des Schutzes und der kräftigsten Förderung von Seite der k. k. Regierung im hohen Grade würdig sei5.

III. Ausdehnung der Strafsanktion für hochverräterische Staatsbeamte auf mehrere Kronländer

Der Justizminister referierte über die vom FML. Grafen Wallmoden angeregte Frage, ob die Strafandrohungen für hochverräterische Staatsbeamte, welche für die Lombardei erlassen wurden, nicht auch im Venezianischen, im Küstenlande und im kroatischen Littorale zu publizieren wären6.

Über die Bemerkung des Ministers des Inneren , daß ihm bis jetzt noch keine Notwendigkeit vorhanden scheine, diese Strafandrohungen, welche jedenfalls für den ganzen Beamtenstand einer Provinz im hohen Grad kränkend sind, dermal außerhalb der Lombardei auszusprechen, vereinigte sich die Konferenz zu dem Beschluß, daß diese Maßregel noch nicht opportun sei.

IV. Behandlung der Sträflinge im Küstenlande bei einer feindlichen Invasion

Der Minister des Inneren referierte, der Oberlandesgerichtspräsident in Triest habe an ihn unter andern auch die Anfrage gerichtet, was er im Falle einer feindlichen Okkupation des Küstenlandes mit den in den verschiedenen Detentionsorten seines Sprengels befindlichen Gefangenen beginnen, und ob er dieselben in die rückwärts gelegenen Kronländer transferieren solle. Der Minister deutete darauf hin, daß es sich hier um den sichern Transport und die weitere Verwahrung einer sehr großen Zahl von zum Teil gefährlichen Individuen handle, nachdem in Capodistria allein 1000 Sträflinge untergebracht sind. Die Straforte in den nördlichen Kronländern seien bereits mit den dahin versetzten Sträflingen aus Lombardo-Venetien überfüllt.

Der Chef der Obersten Polizeibehörde machte darauf aufmerksam, daß die dortige Gendarmerie nicht stark genug wäre, um eine solche Arrestantenzahl bei einem schnellen Rückzug sicher zu geleiten.

Schließlich vereinigte man sich zum Beschlusse, daß die Sträflinge im Küstenlande unter Aufsicht zurückzulassen und an die Lokalautoritäten zu übergeben wären, wie dies in mehreren Fällen feindlicher Okkupation schon geschehen sei, wobei dem Landeschef zu überlassen wäre, für die sichere Zurückverlegung einzelner, besonders gefährlicher Individuen bedacht zu sein7.

Am. 6./9. Junius 1859. Rechberg. Ah. E. Ich nehme den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis. Franz Joseph. Verona, 16. Juni 1859.