MRP-1-1-01-0-18480701-P-0089.xml

|

Nr. 89 Ministerrat, Wien, 1. Juli 1848 - Retrodigitalisat (PDF)

  • RS.; P. Ransonnet; VS. Pillersdorf; anw. Sommaruga, Krauß, Latour, Wessenberg, Doblhoff, Baumgartner; BdE. Pillersdorf (2. 7.).

MRZ. 1345 – KZ. –

Protokoll der Sitzung des Ministerrates am 1. Julius 1848 unter dem Vorsitze des interimistischen Ministerpräsidenten, zugleich Ministers des Inneren Freiherrn v. Pillersdorf.

I. Berichte Graf Leo Thuns und Alfred Fürst Windischgrätz' über den Prager Pfingstaufstand; Frage der Aufhebung des Belagerungszustandes

Der Ministerpräsident eröffnete dem Ministerrate den Inhalt eines vom böhmischen Gubernialpräsidenten Grafen Thun eingelangten Berichts über die Veranlassungen der Prager Ereignisse vom 12. Junius und über die dermalige Lage der Dinge in Böhmen1.

Nach dieser Darstellung ist die Bewegung nicht von der ultratschechischen Partei aus nationalen Triebfedern, sondern von der radikalen Umsturzpartei zur Durchführung ihrer republikanischen Ideen ausgegangen2. Französische Emissäre haben den Aufstand vorbereitet, polnische und wienerische Agitatoren aber denselben förmlich organisiert und zum vorzeitigen Ausbruche gebracht. Die tschechischen Nationalgefühle und Klubs wurden nur als Hebel benützt. Dies erklärt auch, nach Graf Leo Thun, warum der Aufstand sich auf die Stadt Prag beschränkte und die Versuche zur Aufwieglung auf dem Lande entweder ganz erfolglos blieben oder doch leicht unterdrückt wurden. Die Umsturzpartei verfolge schon durch längere Zeit mit vieler Konsequenz den Zweck, die Regierungsgewalt in Böhmen zu lähmen. Dem St. Wenzels Klube3 sei dies während der Amtsführung des Grafen Stadion4 nur zu gut gelungen und auch dem Grafen Thun habe man einen imperativen Beirat aufdringen wollen5, dem er sich durch die Bildung des „provisorischen Regierungsrates“ (eigentlich der provisorischen Regierung)6 zu entziehen gestrebt habe – eine Maßregel, durch welche er zum Ministerium in Wien in eine schiefe Stellung gekommen sei.

|| S. 508 PDF || Zur völligen Wiederherstellung und Erhaltung der Ruhe habe Graf Thun den tschechischen Nationalausschuß am 26. Juni aufgelöst7; es sei die Ablieferung aller Waffen angeordnet worden und die Nationalgarde werde erst später, neu organisiert, wieder in Wirksamkeit treten. Eine militärische Untersuchungsbehörde unter dem Vorsitze des FML. Grafen Khevenhüller sei bemüht, die Fäden der zum Grunde liegenden Konspiration zu verfolgen und die Haupträdelsführer auszumitteln, von denen mehrere durch Steckbriefe seinerzeit werden verfolgt werden8.

Übrigens erklärte sich Graf Thun über die ihm vom Minister des Inneren aufgeworfene Frage, ob die Aufhebung des Belagerungsstandes bereits tunlich sei9, dahin, daß, nachdem die Besorgnis einer Wiederaufnahme des gescheiterten aufrührerischen Unternehmens noch immer vorhanden sei, der Belagerungszustand erst dann in Prag wieder aufgehoben werden dürfte, wenn die vorhandenen gärenden Elemente beseitigt, die Überzeugung von der völligen Entwaffnung der Einwohnerschaft gewonnen und das zum Aufbau der Barrikaden zerstörte Pflaster wieder gänzlich hergestellt ist.

Fürst Windischgrätz erklärte in seiner über denselben Fragepunkt an den Kriegsminister erstatteten Äußerung, daß die Fortdauer des Belagerungszustandes wegen der unleugbar noch vorhandenen politischen Umtriebe der einstimmige Wunsch aller Gutgesinnten in Prag und auf dem flachen Lande sei. Die Aufhebung dieses Zustandes, der allein die öffentliche Sicherheit verbürge, würde aufs neue Prag und ganz Böhmen in Anarchie stürzen, und er könne daher nicht nur nicht der Verantwortlichkeit des Antrags auf eine solche Maßregel sich unterziehen, sondern er halte sich selbst verpflichtet, im Falle ein Befehl hiezu vom Ministerium aus an ihn gerichtet würde, den Gegenstand Ah. Sr. Majestät direkt vorzutragen, um einen Ah. Beschluß zu erwirken. Über den Zeitpunkt, wann die Aufhebung eintreten könne, vermöge Fürst Windischgrätz noch nichts zu bestimmen10.

Der provisorische Ministerpräsident äußerte, er könne weder in dem Berichte des Grafen Thun noch in jenem des Fürsten Windischgrätz hinlängliche Gründe finden, welche die weitere Fortdauer des exzeptionellen Belagerungszustandes rechtfertigen. Beide Berichterstatter stimmen darin überein, daß Ruhe und Ordnung in Prag wiedergekehrt sei, und wenn auch von ihnen die Besorgnis vor neuen subversiven Bewegungen ausgesprochen wird, so können diese Besorgnisse, wie es scheint, doch nicht durch bestimmte Tatsachen motiviert werden. Andererseits unterhält selbst der Belagerungszustand indirekt die Gärung und hemmt den Verkehr, so daß, wie auch Zeitungsberichte bestätigen, der Erwerb in Prag auf eine sehr bedenkliche Weise stockt. Minister Baron Pillersdorf gedächte daher in einem, an den Gubernialpräsidenten zu richtenden || S. 509 PDF || Erlasse (dessen Entwurf er vorliest) die Aufhebung des Belagerungszustandes in Prag und des Standrechtes auf dem Lande aufzutragen, wie auch ihn aufmerksam zu machen, daß Hausdurchsuchungen und andere außerordentliche Polizeimaßregeln nunmehr zu vermeiden wären und den ordentlichen Gerichten ihr Wirkungskreis abermals einzuräumen sei.

Der Kriegsminister , welcher der Meinung des Fürsten Windischgrätz über die Aufrechthaltung des Belagerungszustandes beitritt, beruft sich zum Beweis, daß in Prag noch keine völlige Ruhe herrscht, auf eine soeben eingelangte telegraphische Depesche, wonach in der letzten Nacht Schüsse von unbekannter Hand auf mehrere Schildwachen gefallen sind11. Die Minister der Justiz und der Finanzen vereinigten sich mit dem Antrage des Ministerpräsidenten und wiesen dabei insbesondere auf die Notwendigkeit hin, während der nahe bevorstehenden Deputiertenwahlen zum konstituierenden Reichtsage den Belagerungszustand in Prag aufhören zu lassen. Der Minister des Handels , gleichfalls dieser Ansicht beitretend, glaubte, daß der Belagerungszustand umso unbedenklicher aufgehoben werden könnte, als dem kommandierenden General dessenungeachtet nicht benommen würde, die ihm geeignet scheinenden militärischen Bereitschaften und sonstigen Sicherheitsmaßregeln fortdauern zu lassen. Da indessen doch möglich ist, daß spezielle Umstände, welche in den vorliegenden Berichten nicht erwähnt sind, die längere Fortdauer des Belagerungszustandes unerläßlich machen, eine Rückfrage über diesen Punkt aber ungeachtet des damit verbundenen Zeitverlustes vielleicht noch keinen völlig befriedigenden Aufschluß verschaffen würde, so glaubte Baron Doblhoff das Auskunftsmittel vorschlagen zu sollen, daß ein Kommissär zur näheren Erhebung der hier zum Grunde liegenden faktischen Verhältnisse nach Prag gesendet werde, über dessen Bericht sofort auf telegraphischen Wege die Frage wegen der Aufhebung des Belagerungszustandes vom Ministerium mit voller Beruhigung definitiv entschieden werden könnte. Der Minister der öffentlichen Arbeiten glaubte sich für diesen letzten Vorschlag umso mehr erklären zu sollen, als ihn die Sprache, welche Fürst Windischgrätz in seinem oben mitgeteilten Berichte führt, besorgen läßt, daß er sich dem Auftrage des Ministeriums wegen Aufhebung des Belagerungszustandes in dem gegenwärtigen Augenblicke gar nicht fügen würde. Durch Absendung eines Kommissärs von Seite des Ministeriums würde sich diese allerdings schwierige und verantwortliche Angelegenheit am besten schlichten lassen.

Mit der Absendung eines Kommissärs nach Prag erklärten sich im Verlaufe der Beratung auch die Minister der Justiz, der Finanzen, des Krieges und des Äußern einverstanden, und es wurde nur der definitive Beschluß über die abzusendende Person und über die ihr zu erteilende Instruktion für die Ministerratssitzung am 2. Julius vorbehalten12. Der Minister des Inneren wird jedoch den von ihm verlesenen Entwurf des Erlasses an Graf Thun – mit einziger Übergehung des Punkts wegen des Belagerungszustandes – ohne weiteren Verzug ablaufen lassen13.

II. Preußische Stellungnahme zur Bestellung Erzherzog Johanns zum Reichsverweser

Der Minister des Äußern Baron Wessenberg teilt die ihm zugekommenen Ansichten der preußischen Regierung über die Bestellung und Macht des deutschen Bundesoberhauptes mit14. Preußen erhebt nunmehr keine Erinnerung gegen die Wahl Sr. kaiserlichen Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Johann oder überhaupt eines kaiserlich österreichischen Prinzen15; allein es verlangt 1., daß bei dieser Wahl – welche als Präjudikat für künftige Fälle zu gelten haben wird – das Recht der deutschen Regierungen auf Teilnahme an der Wahl verwahrt werde, und 2., daß man den Wirkungskreis des Bundesoberhauptes durch Zuerkennung des Rechts, Parlamentsbeschlüsse zu sistieren, erweitere.

Der Minister des Äußern, welcher diese Ansichten der königlich preußischen Regierung sowohl vom Standpunkte des Rechts als von dem der Politik völlig begründet anerkennen muß, glaubt daher, Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Johann dürften ehrerbietigst gebeten werden, die auf Höchstdenselben fallende Wahl zum Bundesoberhaupte nur dann anzunehmen, wenn die deutschen Regierungen den ganzen Vorgang und die Wahl des Frankfurter Parlaments genehmigen und wenn der Wirkungskreis des Oberhauptes in angemessener Weise festgesetzt sein wird.

Sämtliche Minister erklärten sich mit dem Antrage des Freiherrn v. Wessenberg einverstanden16.

Ah. E. Ich habe den Inhalt des gegenwärtigen Protokolles zur Wissenschaft genommen. Erzherzog Johann. Wien, den 3. Juli 1848.