MRP-1-1-01-0-18480619-P-0077.xml

|

Nr. 77 Ministerrat, Wien, 19. Juni 1848 - Retrodigitalisat (PDF)

  • RS.; P. Ransonnet; VS. Pillersdorf; anw. Sommaruga, Krauß, Latour, Baumgartner; außerdem anw. Mensdorff (nur bei V), Klezansky (nur bei V); abw. Doblhoff, Wessenberg; BdE. Pillersdorf (20. 6.).

MRZ. 1177 et 1178 – KZ. –

Protokoll der Sitzung des Ministerrates am 19. Junius 1848 unter dem Vorsitze des interimistischen Ministerpräsidenten, zugleich Ministers des Inneren Freiherrn v. Pillersdorf.

I. Ministerielle Dokumentation über die Ereignisse vom 26. 5. 1848

Der Minister der Justiz legte mit Beziehung auf den Ministerratsbeschluß vom 16. Juni l. M1. die von ihm verfaßte pragmatische und dokumentierte Darstellung der Ereignisse des 26. Mai vor, welche bei sämtlichen Ministern in Zirkulation gesetzt wird2.

II. Begutachtung des Rekrutierungsgesetzes und des Gesetzes über mündliches und öffentliches Verfahren in Kriminalfällen durch die einzelnen Minister

wurde beschlossen, die Entwürfe a) des Rekrutierungsgesetzes3 und b) des mündlichen und öffentlichen Verfahrens in Kriminalfällen4 in gedruckten Exemplaren unter die Glieder des Ministerrates zum Behufe der vorläufigen Prüfung vor der eigentlichen Beratung verteilen zu lassen5.

III. Kaiserliche Proklamation über die Erzherzog Johann erteilten Vollmachten

Der Minister des Inneren teilte ein von dem Minister Baron Doblhoff erhaltenes Schreiben6 mit, welchem die von Sr. Majestät dem Kaiser zu Innsbruck am 16. Mai 1848 erlassene Proklamation7 über die Absendung Sr. kaiserlichen Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Johann nach Wien mit ausgedehnten Vollmachten zur Führung der Regierungsgeschäfte und zur Eröffnung des Reichstages beigeschlossen war. Nachdem Baron Doblhoff dem Ministerrate im Ah. Auftrage die Ermächtigung || S. 448 PDF || eröffnet hatte, an dieser bereits von Sr. Majestät Allerhöchstselbst unterzeichneten und von den Ministern des Handels und des Äußern kontersignierten Proklamation, vor deren wirklicher Kundmachung die nötig oder zweckmäßig befundenen Modifikationen des Textes vorzunehmen, so wurde von dem Ministerrate zu einer sorgfältigen Prüfung des Textes geschritten und vorerst anerkannt, daß es angemessen wäre, des 26. Junius als des Eröffnungstags des österreichischen konstituierenden Reichstages nicht ausdrücklich zu erwähnen, indem sich schon jetzt mit Gewißheit voraussehen lasse, daß die Eröffnung an diesem Tage unmöglich vor sich gehen könne8.

Ferner wurde bemerkt, daß, nachdem erst vor zwei Tagen im Ah. Auftrage kundgemacht worden war, Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Franz Karl würden den Reichstag im Namen Ah. Sr. Majestät persönlich zu eröffnen geruhen9, die neue, höchst unerwartete Bestimmung, daß Se. kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Johann als Stellvertreter Ah. Sr. Majestät erscheinen würden, nicht wohl ohne alle Motivierung in dem diesfälligen Proklam angekündigt werden dürfte. Da nun der Ministerrat den Beweggrund der Veränderung des Ah. Beschlusses über diesen Punkt nur in dem Ah. Wunsche zu finden glaubt, den durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Franz Karl unter den gegenwärtigen Umständen nicht aus der unmittelbaren Nähe Sr. Majestät scheiden zu sehen, so vereinigte man sich schließlich zu dem Beschlusse, in die Proklamation die Worte einzuschalten: „und um Meinen geliebten Bruder in Meiner jetzigen Lage an Meiner Seite zu behalten“.

Was die Form und Benennung der fraglichen Kundmachung betrifft, so würde der Ministerrat zwar glauben, daß selbe, der hohen Wichtigkeit des Inhaltes wegen, vielleicht als Patent hinauszugeben gewesen wäre. Allein, da der Allerhöchstenorts herabgelangte Text nicht die gewöhnliche Eingangsform eines Patents „Wir von Gottes Gnaden etc.“ hat, so wird diese Verlautbarung unter dem Titel „Proklamation“ stattfinden und zwar ehebaldigst veranstaltet werden, damit das Ministerium – im Fall die Kunde von dessen Inhalt auf anderen Wegen früher ins Publikum gelangte – nicht beschuldigt werde, eine für die Völker Österreichs und für Wien insbesondere so wichtige Kunde der Öffentlichkeit vorenthalten zu haben10.

IV. Unmögliche Einhaltung des Eröffnungstermins des Reichstages

Es hat sich gegenwärtig die Gewißheit herausgestellt, daß die Eröffnung des konstituierenden Reichstages unmöglich schon am 26. d. M. vor sich gehen könne, indem bis dorthin die Abgeordneten umso weniger bereits aus allen Provinzen hier versammelt sein können, als die Wahlen an vielen Orten eben erst beginnen11, dieselben aber in der Provinz Böhmen noch nicht einmal ausgeschrieben sind12. Ein Teil des || S. 449 PDF || Publikums sieht aus diesem Grunde auch bereits einen Aufschub der Eröffnung als unvermeidlich an; indessen glaubte doch der Ministerpräsident und mit ihm der Ministerrat, daß dieser Gegenstand demnächst in einem ämtlichen Zeitungsartikel zur Sprache zu bringen und zu bemerken wäre, daß der eigentliche Tag der Eröffnung nach erfolgter Ankunft des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Johann in Wien definitiv werde bestimmt werden13.

V. Antwort an die Prager Deputation

Die von ihrer Sendung nach Prag am 18. Junius zurückgekehrten Hofkommissäre Graf Mensdorff und Hofrat Klezansky 14 erschienen vor dem Ministerrate mit der Anzeige, daß die in Wien befindliche Deputation von Prager Bürgern15 eine bestimmte Auskunft zu erhalten wünsche, ob der Prager Magistrat sich allen ihm vorgeschriebenen Bedingungen der Pazifikation unterworfen habe16, weil die Deputation im bejahenden Falle den Zweck ihrer Sendung nach Wien als behoben ansehen müsse. Die Deputierten bäten daher, daß über diesen Punkt auf telegraphischem Wege Auskünfte eingeholt würden. Diesem Ansuchen wurde sofort willfahrt17 und beschlossen, der Deputation ihrer weiters gestellten Bitte gemäß, wenn sich gleich ihre Sendung behebt, doch einen artikulierten Bescheid zu geben, damit sie durch dessen Vorweisung auf der Heimreise die Gemüter der Landbevölkerung über die vollbrachte Pazifizierung beruhigen können18.

VI. Freilassung der lombardischen Geiseln

Nachdem der Minister des Äußern, Baron Wessenberg, in einem an den Ministerpräsidenten gerichteten Schreiben19 das Ansinnen des Grafen Casati in Mailand wegen Freigebung der aus der Lombardie mitgenommenen Geiseln20 von seinem || S. 450 PDF || Standpunkte aus unterstützt hat, so beschloß der Ministerrat, diese völlige Freigebung ohne Verzug einzuleiten, um mit dieser Versöhnungsmaßregel eine Initiative zu ergreifen, welche für den Fortgang der Pazifikationsverhandlungen nur nützlich sein kann21.

VII. Verleihung des Großkreuzes des Leopoldordens an Ludwig Freiherr v. Welden

Der Minister des Krieges bringt mit Beziehung auf seinen gleichzeitig überreichten au. Vortrag vom 18. d. M.22 in Antrag, daß dem FML. Baron Weiden, welchem bereits aus Anlaß seiner früheren Waffentaten im italienischen Feldzuge das Kommandeurkreuz des Leopoldordens mit Ah. Entschließung vom 22. Mai 1848 23, verliehen worden ist, nunmehr aus Anlaß der wichtigen und folgenreichen Eroberung von Treviso24 das Großkreuz desselben Ordens Ag. verliehen werde, auf welche Auszeichnung derselbe gewiß nicht minder Anspruch habe als die Armeekorpskommandanten und Feldmarschalleutnants D’Aspre und Graf Wratislaw25.

VIII. Standesvermehrung beim Generalquartiermeisterstab

Graf Latour überreicht ferner seinen au. Vortrag vom 17. Junius26 wegen Ag. Genehmigung der unter den dermaligen Verhältnissen unumgänglich notwendigen Vermehrung des Standes bei dem Generalquartiermeisterstabe. Der Stand des Generalstabes sei für die dermaligen kriegerischen Verhältnisse offenbar viel zu gering, so daß Graf Radetzky gezwungen wird, die Aushilfe durch Offiziers von der Linie zu suchen, was mit mancherlei Unzukömmlichkeiten verbunden ist. Es wäre demnach der effektive Korpsstand um sechs Stabs- und 24 Oberoffiziers, dann um 24 stabil zugeteilte Subalternoffiziers (die bei ihrem Truppenkorps als Surnuméraire erscheinen) zu vermehren. Somit wären im ganzen 110 Offiziers für die im Feld so wichtigen Dienste des Quartiermeisterstabes verwendbar. Diese Zahl sei übrigens noch ein Minimum in Vergleich mit dem Stand vom Jahre 1805 per 140 und vom Jahr 1809 per 208 Offiziers.

Graf Latour bittet demnach um Ag. Genehmigung dieser Standesvermehrung, und in Erwägung der Dringlichkeit zugleich um die Ah. Ermächtigung, die zur Erreichung dieser Standeserhöhung auf die Kriegsdauer erforderlichen Stabsoffiziersbeförderungen sogleich vornehmen zu dürfen27.

Sämtliche Minister vereinigten sich mit den Anträgen des Kriegsministers zu VII und VIII.

IX. Aufstellung eines Korps unter Georg Graf Thurn-VaIleSassina in Südtirol

Schließlich brachte der Kriegsminister zur Kenntnis, daß Graf Radetzky in Südtirol ein Korps von ungefähr 15.000 Mann unter dem FML. Grafen Thurn zusammengezogen habe, um gegen die sardinischen Truppen zu operieren und vor allem die direkte Verbindung von Tirol mit Verona herzustellen28.

Für den Fall Ew. Majestät die au. Anträge des tg. Ministerrates zu VII und VIII Ag. zu genehmigen geruhen, werden die nebenfolgenden Entwürfe ehrerbietigst der Ah. Sanktion unterzogen.

Erzherzog Johann. Wien, 26. Juni 1848.