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Nr. 55 Ministerrat, Wien, 29. Mai 1848 - Retrodigitalisat (PDF)

  • RS.; RdA. Pipitz; VS. Pillersdorf; anw. Sommaruga, Krauß, Baumgartner, Lebzeltern (nur bei V–VIII); außerdem anw. Cordon (in Vertretung Latours); abw. Latour, Doblhoff; BdE. Pillersdorf (30. 5.), Franz Karl (4. 6.).

MRZ. 964 – KZ. –

Protokoll der Sitzung des Ministerrates am 29. Mai 1848 um 1/2 10 Uhr vormittags unter dem Vorsitze des interimistischen Ministerpräsidenten Freiherrn v. Pillersdorf.

I. Publizierung des ministeriellen Programms

Der Minister des Inneren eröffnete die Sitzung mit der Vorlesung des Entwurfes eines bereits in dem letzten Ministerrate besprochenen Programmes über den Gang, den das Ministerium bisher in seinen Amtshandlungen befolgt hat und noch bis zum Schlusse seiner dermaligen interimistischen Gestion zu verfolgen beabsichtigt1.

Baron Pillersdorf stellte hierauf an den Ministerrat die Fragen:

a) Soll das Ministerium dermal ein Programm veröffentlichen?

b) Wird (im bejahenden Falle) die hier vorgeschlagene Textierung angenommen?

Der Ministerrat erkannte einstimmig, a) daß es zweckmäßig sei, sich dem Publikum gegenüber hinsichtlich des Ganges der Regierung auszusprechen, um dadurch den ewig sich wiederholenden Gerüchten und Vorwürfen über beabsichtigte oder vollbrachte Reaktionen, über Mangel an einer leitenden Idee, über Schwanken und Untätigkeit – Vorwürfe, welche von Bösgesinnten ausgestreut und von der Menge gläubig wiederholt werden – auf eine entschiedene Weise auszusprechen. Es würde dadurch auch einer in Journalen und Flugschriften bereits sehr oft vorgebrachten Aufforderung zur Veröffentlichung eines ministeriellen Programmes entsprochen werden. Indessen dürfte man sich nicht erwarten, daß eine solche Mitteilung einen wesentlichen Einfluß auf die politische Stellung des Ministeriums üben werde, da man die extreme Partei damit doch nicht zufriedenstellen und nicht jeden Vorwand zu ungerechten Beschuldigungen beseitigen könne.

Was b) die im Entwurfe des Freiherrn v. Pillersdorf ausgesprochenen Grundsätze und die ganze Fassung desselben betrifft, so erkannten alle übrigen Minister, daß derselbe die leitenden Prinzipien, welche dem Ministerium bisher vorgeschwebt haben und denen es fortan getreu bleiben wird, auf die würdigste und angemessenste Weise ausspricht und in keiner Beziehung etwas zu wünschen übrig läßt, obgleich es dabei nicht an mancherlei Schwierigkeiten fehlte. Zu den letzteren gehört auch der Ausspruch der Ansichten des Ministeriums über die Konzessionen vom 15. Mai2. Ganz übergangen || S. 342 PDF || kann dieser Punkt, auf den die öffentliche Meinung in der Residenz einen so großen Wert legt, unmöglich bleiben; andererseits kann das Ministerium diese Konzessionen, welche seinen Rücktritt veranlaßt haben, nicht als zu seinem Plan gehörig adoptieren. Es erübrigte daher nichts, als diese Konzessionen, unter deren Bestande die Gestion des Ministeriums interimistisch wieder übernommen worden ist, als eine Tatsache anzuerkennen. Der Punkt b) des Entwurfes lautet: „Die Minister erklären, keinem der späteren Zugeständnisse (nach dem 25. April) die volle Anerkennung zu versagen.“

Es wurde demnach einstimmig beschlossen, dieses Programm in die Wiener Zeitung vom 30. Mai unter der Aufschrift: „An die Bewohner Wiens“ einrücken und außerdem noch durch zu verteilende Flugblätter verbreiten zu lassen3.

II. Kanonen für die Nationalgarde

Der GM. Baron Cordon übergab dem Ministerrate eine schriftliche Äußerung des Kriegsministers über das Ansinnen der Nationalgarde um Erfolgung von sechs Batterien4.

Diese Äußerung, welche dem gegenwärtigen Protokolle zuliegt, geht dahin, daß Graf Latour vom militärischen Standpunkte aus nicht dafür stimmen könne, daß eine so bedeutende Anzahl von Kanonen auf die Wälle zur Disposition der Nationalgarde gebracht werde. Denn mit diesen 36 Geschützen wäre es möglich, drei Kasernen zu beschießen und die Straßen, auf welchen sich die Truppen beim Ein- und Ausmarsch zu bewegen haben, zu bestreichen. Dies könnte nun, wenn bei einem Aufruhr die Partei des Umsturzes jene Geschütze der Nationalgarde zu entreißen vermöchte, die nachteiligsten Folgen nach sich ziehen. Der Ministerrat glaubte jedoch bei Würdigung der Frage über die Ausfolgung von Geschützen an die Nationalgarde und Bürgerschaft nicht bloß den militärischen Standpunkt, sondern die gegenwärtige politische Lage der Regierung überhaupt in Berücksichtigung ziehen zu sollen.

Die Ausfolgung der Geschütze ist ein laut und allgemein ausgesprochener Wunsch der Nationalgarde und der Legion. Die absolute Verweigerung dieses Ansinnens würde unter den dermaligen Umständen als ein Mißtrauen der Regierung gedeutet und ihr überdies die Absicht der zwangsweisen Durchführung reaktionärer Maßregeln unterlegt werden. Die unmittelbare Folge wären eine große Aufregung, wiederholte Demonstrationen und Gewaltschritte, wobei man in die Alternative des Blutvergießens oder Nachgebens versetzt würde.

Andererseits sind die Wiener Bürger bereits im Besitze von sechs Kanonen, von welchen bisher nie Mißbrauch gemacht worden ist. Eine der so bedeutend vermehrten Zahl der Bürgerwehr entsprechende Vermehrung dieser Geschütze erscheint auch an und für sich betrachtet nicht unbillig und der eintretende Fall des Bedarfes der Artillerie gegen die Masse von 15.000 Arbeitern zur Verteidigung des Eigentumes keineswegs unmöglich.

|| S. 343 PDF || In Erwägung aller dieser Umstände glaubte der tg. Ministerrat, es auf sich nehmen zu sollen, der Wiener Nationalgarde vorläufig wenigstens den dritten Teil der von ihnen geforderten 36 Geschütze aus dem reichlich dotierten Ärarialdepot schon jetzt erfolgen zu lassen und sich zur Ausfolgung der noch gewünschten übrigen 24 Stück die Ah. Genehmigung au. zu erbitten, zu welchem Ende dem gegenwärtigen Protokoll der Entwurf der entsprechenden Ah. Resolution ehrerbietigst am Schlusse beigefügt wird.

Mit den 12 Geschützen, deren Auswahl der kompetenten Militärbehörde im Einvernehmen mit dem neuerlich zum Nationalgarde-Oberkommandanten gewünschten Obristen Pannasch5 überlassen bliebe, wäre auch zugleich eine angemessene Menge von Munition zu erfolgen6.

III. Reduzierung der Wiener Garnison

Mit Beziehung auf das dem Kriegsminister mitgeteilte Ansinnen des Wiener Sicherheitsausschusses wegen Entfernung der für den Dienst nicht mehr notwendigen Truppen7 eröffnete GM. Baron Cordon im Namen des Grafen Latour, daß dieses, wenn es vom Ministerrate beschlossen wird, am leichtesten durch Rückverlegung von acht Kompanien Wasa-Infanterie nach Kaiserebersdorf, des 7. Jägerbataillons nach Mauer und des 3. Bataillons von Hess-Infanterie nach St. Pölten zu erreichen wäre8.

Der Ministerrat beschloß, sofort an den Grafen Latour eine Aufforderung zu diesem Ende zu richten und dem Sicherheitsausschuß hievon gleichzeitig mit dem Bedeuten in Kenntnis zu setzen, daß man gegenwärtig der unverzüglichen Beseitigung der noch bestehenden Barrikaden entgegensehe9.

IV. Bekanntgabe zu II. und III. an die Nationalgarde

Eine vor dem Ministerrate erschienene Deputation der Wiener Nationalgarde und Legion wurde von den Beschlüssen zu II. und III. sofort mündlich in Kenntnis gesetzt. Hiermit wurde die Vormittagssitzung geschlossen.

Fortsetzung nachmittags um 2 Uhr. Gegenwärtige: die am Eingang erwähnten, dann noch Staatsrat Baron Lebzeltern.

V. Ordensverleihung an Franz Graf Gyulai

Der Minister des Inneren übergab dem in Auftrag des Kriegsministers erschienenen GM. Baron Cordon einen Bericht des küstenländischen Gouverneurs Grafen Salm10, worin auf Ag. Verleihung eines Ordensgroßkreuzes an FML. Graf Gyulai

VI. Verwahrung gegen Verhaftungen hochstehender Personen
VII. Abschiebung nicht nach Wien zuständiger Arbeiter
VIII. Anstellung Peter Harums